Schweitzer Fachinformationen
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Ich war acht Jahre und einen Tag alt an jenem Januarmorgen 1968, als Großvater Anselm starb. Draußen schneite es. »Du musst dich nicht fürchten«, sagte Großmutter zu mir, nahm Großvaters Joppe und legte sie um mich. Ich fror trotzdem. Frierend stand ich neben dem Bett und sah zu, wie sich Großmutter über das reglose Antlitz beugte, um die Augen des Toten zu schließen. Ich hielt den Atem an. Großvater Anselm lag ruhig da.
»Hoch sollst du leben, Schnaps sollst du geben«, hatten wir zwei noch gestern gesungen. Das heißt, zuerst hatte nur Großvater das Lied mit dem Schnaps gesungen. Dann, nach dem »Dreimal Hoch«, war auch ich eingefallen. Wir hatten gesungen. So laut und rebellisch, dass Großmutter ihr Gesicht verzog und sich die Ohren zuhielt. Großvaters Bass war durch den Gesangsverein gut geschult gewesen.
»Wann werden sie kommen, Ohme?«
Großmutter, die ich meist liebevoll »Ohme« nannte, blickte nicht auf. Noch immer stand sie über den Toten gebeugt. Vor einer Stunde hatte sie telefoniert. Ich war zusammengezuckt, als sie von Großvater als einem Toten sprach. Mit ruhiger Stimme hatte sie Straße und Name genannt. »Der Leichenwagen zur Goethestraße, bei Krüger.« Es war keine Bitte, es war eine Meldung gewesen, die unvermeidlich schien.
»Es schneit«, antwortete Ohme unbestimmt. Ich presste die Stirn an die Fensterscheibe. Alles war weiß. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Auf der verschneiten Straße würde der Leichenwagen nur mühsam vorwärtskommen. Für alle Küstenregionen hatte der Radiosprecher schon gestern vor einer Katastrophe gewarnt. Jetzt hatte sie uns erreicht, über Nacht. Von hier bis zur Ostsee war es ein gutes Stück.
Die Kühle der Fensterscheibe legte sich auf meine Stirn. Seit heute Morgen schneite es also. Mantel und Hut des Notarztes, ein Mann mit wulstigen Tränensäcken und schwerem Atem, waren voll Schnee gewesen. Umständlich hatte er sich vor unserer Haustür abgeklopft. Ein Flockengestöber. Beim Gehen hatte er mir in flüchtigem Ton noch alles Gute gewünscht. Alles Gute? Sagte man das so, wenn jemand gestorben war? Oder hatte er mir nur im Nachhinein zum Geburtstag gratulieren wollen?
Mit einem Seufzer richtete sich Ohme auf. Die Lider des Toten waren endlich geschlossen. Großvater. Seine klugen, fröhlichen Augen, ihr schalkhaftes Blitzen, wenn er mit dröhnendem Bass einen Witz hervorgebracht oder eine jener erstaunlichen Begebenheiten zum Besten gegeben hatte, von der kein Mensch gewusst hatte, ob sie der Wahrheit entsprach oder nicht. Dass er so mir nichts, dir nichts gestorben war . Ich fühlte mich müde und schrecklich enttäuscht. Großvater Anselm hatte mich einfach im Stich gelassen.
Hinter meinem Rücken rumorte es. Ich drehte mich um. Großmutters Trauer war einer fieberhaften Geschäftigkeit gewichen. Geräuschvoll räumte sie ihre zahlreichen Pflanzenstöcke beiseite, um das Fenster zu öffnen. Ich war überrascht. In den Wintermonaten achteten meine Großeltern darauf, Fenster und Türen geschlossen zu halten. Meist stopfte Ohme noch Decken und Filzstreifen zwischen die Doppelfenster. Großvaters Tod schien alles durcheinandergebracht zu haben. Ohme knöpfte sich ihre Jacke zu. Die Kälte des Januarmorgens strömte durchs Fenster. Ich wickelte mich fester in Großvaters Joppe und schluckte an meinen Tränen.
»Wir brauchen noch passende Sachen für ihn«, erklärte Großmutter, während sie eine Tür des großen, dreiseitigen Kleiderschanks öffnete. Unentschlossen schob sie die Bügel, auf denen die Anzüge hingen, hin und her. Großvater Anselms Anzüge: ein teurer schwarzer mit glänzendem Futter, ein blauer mit doppelreihigen Messingknöpfen, ein heller Zweiteiler aus Popeline. Ohme wählte den schwarzen Anzug, zog ein Hemd aus dem Sonntagsstapel und suchte die Ärmelhalter heraus. Als sie den neuen Seidenschlips auf das Sonntagshemd legte, zupfte ich an ihrem Rock.
»Ohme, ich glaube .«
Fragend sah sie mich an. Ich hielt ihr die Joppe hin.
»Die hätte er lieber genommen. Und seine Hosenträger.«
»Du Ugelick!« Großmutter schloss die Schranktür und wandte sich um. »Glaub mir. Krawatte und Anzug sind durchaus angemessen.«
Ich senkte den Kopf. Du Ugelick, hatte Ohme gesagt. Das sagte sie stets, wenn sie aufgeregt oder verärgert war. Ugelick, was so viel wie Unglück bedeutete.
»Erzgebirgisch«, hatte mir Großvater Anselm einmal erklärt und augenzwinkernd hinzugefügt: »Das ist eine ganz besondere Sprache. Mordsmäßig schwer.«
Meine Unwissenheit, was die Kleiderwahl eines Verstorbenen anging, schien Großmutter zu missfallen. Sie rieb sich in einem fort ihre Handgelenke und schwieg. Gekränkt zog ich mich in Großvaters Joppe zurück. In der Seitentasche steckten noch seine Brille und ein zusammengefaltetes Taschentuch. Das Taschentuch roch nach Tabak und Teer. Ich nahm es und begann, die Brille zu putzen. Blank geputzt legte ich sie auf das Hemd.
»Hol mir ein Handtuch«, bat Ohme.
Ich rannte ins Bad. Außer Atem kam ich zurück. »Ich hab das gute genommen!«
Ich hielt ihr ein hellgrünes Frotteetuch hin, eins, das mit blauen Rosen und roten Drachen bedruckt war; ein chinesisches. Ich hoffte, sie würde meine Wahl loben, und sah sie erwartungsvoll an. Doch Ohme bemerkte mich nicht. Ihre Schultern zuckten, während sie sich an eine der hölzernen Bettkugeln des Ehebetts klammerte. Es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah. »Gevatter Tod hat ihn mitgenommen«, flüsterte sie.
Gevatter Tod. Bisweilen hatte ich Ohme und Ohpa von ihm erzählen hören. Das taten sie stets mit respektvollem Ernst. Gleichzeitig konnte man in ihren Worten eine gewisse bange Vertrautheit spüren. Ganz so, als wäre von einem fernen Verwandten die Rede. Einem, der launisch und listig war, dem man nicht trauen konnte. »Ein geriss'ner Gesell, der Gevatter. Man weiß nie genau, was er vorhat«, hatte Großvater Anselm gesagt und sich lang und vernehmlich geschnäuzt.
»Habt ihr ihn schon mal gesehen?«
Nur Ohme hatte genickt. Sie hatte mir von ihrer Schulkameradin erzählt, die zehnjährig an einer Krankheit, die Halsbräune hieß, gestorben war. »Die Halsbräune hat dem Gevatterchen viele Kinder beschert. Und später, da haben der Krieg und die Spanische Seuche ihm noch viel mehr eingebracht. Nein, keinesfalls nur die Kinder. Auch Frauen und Männer. So viele Menschen, alte und junge. Mir kam es vor wie ein Abzählreim. Der Tod hat seine Opfer abgezählt: Der ja, der nein. Und dann . im Handumdrehen der nächste Krieg .«
Ich schluckte. Gevatter Tod. Er hatte seinen Knochenfinger ausgestreckt. Der ja. Und Großvater Anselm mitgenommen.
Ich selbst war dem Gevatter noch nie begegnet. Nur dann und wann, wenn ich mit Ohme und Großvater auf den Friedhof in Ohmes Heimatort gefahren war, schien mir seine Gegenwart nahe.
Ich erinnerte mich. Es hatte geknirscht, wenn wir zu dritt über die Kieswege gelaufen waren. Großmutters kurzer, energischer Schritt, Großvaters schwerer. Meist rauchte er eine Zigarre dabei. Ich rauchte ebenfalls. Meine Zigarre bestand aus einem Tannenzapfen. Das war Großvaters Einfall gewesen. Tannenzapfen gab es hier im Gebirge zuhauf. Großmutter fand das nicht schicklich. Beides. Dass Großvater rauchte und ich solch einen Unfug machte. Der heimische Friedhof schien Ohme in eine andere zu verwandeln. Leichtfüßig, wie ein junges Mädchen, eilte Ohme von Grab zu Grab; ein lang ersehnter Familienbesuch. Ich eilte ihr hinterher. »Tante Cäcilie«, sagte Ohme, während sie einen hohen, hellen Marmorstein beklopfte, dessen Inschrift nur mit zusammengekniffenen Augen und großer Mühe zu lesen war. »Sie hat sich den Hals gebrochen.« Am nächsten Grab verharrte Ohme nur kurz. »Mein Bruder Max!« Mehr sagte sie nicht. Rasch eilte sie weiter. »Wilhelm, sein Sohn.« Großmutter tastete nach ihrem Scheitel. »Er ist gefallen .«
»Gefallen? Hat er sich auch seinen Hals gebrochen?«
»Abgestürzt, mit seinem Flugzeug abgestürzt.«
»Warum?«
»Wilhelm war Flieger. Im Krieg. Stalingrad.« Jedes Wort war wie ein langer Satz.
»Ach, Kind«, sagte Großmutter und zog mich zum letzten Grab. »Deine Urgroßeltern.« Sie faltete ihre Hände.
Großvater Anselm, der Ohmes Treiben bis dahin mit einem hörbaren Knurren verfolgt hatte, stand stumm daneben. Er betete nie. »Schluss, Punkt und gut«, sagte er und beendete den Familienbesuch, indem er seine Zigarre vor Wilhelms verwitterter, moosbedeckter Grabtafel austrat.
»Anselm!« Ungewohnt heftig harkte Ohme die vielen kleinen Kienzapfen zusammen, die auf der schweren, schwarz glänzenden Marmorplatte ihrer Eltern lagen.
Ich nahm einen tiefen Zigarrenzug. Verschwörerisch zwinkerte Großvater Anselm mir zu. Ohme stammte aus einer gottesfürchtigen Familie. Großvater nicht. »Ich bin ein Heide. Einer, der links denkt und links schreibt.« Großvater wedelte mit seinem rechten Mantelärmel. Der Mantelärmel war leer. Großvaters rechte Hand fehlte.
»Ohme?« Noch immer hielt ich das Handtuch in meiner Hand. Großmutter wischte sich übers Gesicht. »Er würde nicht wollen, dass wir .«
Sie nahm es mir ab. Vergeblich versuchte sie, Großvaters Kinn hochzubinden. »Störrisch wie immer«, grollte sie. Ich dachte an Großvaters Schluss, Punkt und gut. Schluss und Punkt leuchteten mir ein. Doch das gut? Ich fröstelte. Alles Gute. Heute hatte das auch der Arzt gesagt....
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