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Evidenzgeleitete (auf Fakten beruhende) Therapiemodelle der Anorexia nervosa basieren im Wesentlichen auf drei Säulen: 1) Verbesserung der Sekundärprävention, das heißt nach Krankheitsausbruch die möglichst rasche Überwindung der Compliance- und Motivationsprobleme, die dieser Krankheit störungsimmanent zugehören, 2) Normalisierung von Gewicht und Essverhalten bzw. Überwindung der Gewichtsphobie und der Körperwahrnehmungsstörung, und 3) Stärkung der emotionalen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbstsicherheits- und Autonomiestabilisierung.
Das vorliegende Buch der Autorin Corina Lendfers, zusammen mit Beiträgen von Anna Weg und Michael Berndonner, widmet sich den größten Herausforderungen auf dem Wegzur Genesung: denMotivationsproblemen sowie der Gewichts- und Essensnormalisierung. Im Einklang mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es davon aus, dass zur Bewältigung dieser Herausforderungen der Einbezug der Eltern in die Veränderungsprozesse einen zentralen Stellenwert einnimmt.
Wenn sich bei einem jungen Menschen eine Anorexie entwickelt, äußert sich dies in der Familie oft schleichend durch ein verändertes Essverhalten, Rückzug aus der Peer-Gruppe, eine beunruhigende Wesensveränderung (verschlossenes, bockiges Verhalten bei einem vorher angepassten, offenen und verlässlichen jungen Menschen) sowie durch einen erkennbaren Gewichtsverlust. Mit fortschreitendem Verlauf etabliert sich bei dem Kind oder der jugendlichen Person eine nicht nachvollziehbare fixe Idee, sich selbst nur noch durch Hungern und ständiger Gewichtsabnahme kontrollieren zu können, obwohl der Körper bereits untergewichtig ist - im schlimmsten Fall nahe dem Hungertod. Jeder Versuch der Eltern, ihr krankes Kind mit Liebe, Verständnis, Zuwendung oder vernünftigen Argumenten zum Essen zu bringen, mündet in Kämpfe, Ohnmacht, Verzweiflung und tiefer Verunsicherung, so wie es der französische Neuropsychiater Dr. Charles Lasègue bereits 1873 beschrieben hat: "Man fleht, man bittet um die Gunst, um den allerhöchsten Liebesbeweis, dass die Kranke sich doch noch einmal dazu durchringe, ihre Mahlzeit, die sie als beendet betrachtet, noch um einen einzigen Bissen zu erweitern ... Indes: je stärker das Engagement auf der einen Seite, umso deutlicher der Widerstand auf der andern (L'excès d'insistance appelle un excès de résistance)."
Obwohl die Wissenschaft noch weit davon entfernt ist, die Ursachen dieser seltsamen Phänomene im Einzelnen restlos zu erklären und darauf aufbauend eine ursächliche Therapie anzubieten, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durch klinische (Outcome-)Forschung - dabei betrachtet man rückblickend, wie sich bestimmte Maßnahmen auf das Ergebnis (Outcome) ausgewirkt haben - ein pragmatisches Vorgehen etabliert, das berechtigte Hoffnung aufkommen lässt.
Während hundert Jahren oder mehr existierte in der Fachwelt die ungeprüfte Annahme, dass es besser sei, die erkrankten Kinder aus der Familie herauszunehmen und in die Klinik aufzunehmen. Aber die Folgen dieser Praxis waren verheerend und gingen oft mit chronischen Verläufen und hohen Todeszahlen einher (für die man "Probleme in der Familie" verantwortlich machte). Erst die neuere faktenbasierte Anorexie-Forschung hat den wahren Stellenwert der Eltern richtiggestellt: Je früher nach Krankheitsausbruch eine Wiederherstellung des gesunden Gewichts erreicht wird, und je eher die Eltern in diesen Prozess der "Auffütterung" einbezogen werden, desto besser die Chancen einer Genesung beim Kind.Unsere klinischen Erfahrungen mit Anorexie-Therapien über fast vier Jahrzehnte haben uns gelehrt, dass die erkrankten Kinder und Jugendlichen den elterlichen Ausschluss aus der Behandlung und die damit einhergehenden impliziten Schuldzuweisungen als Loyalitätskonflikt mit erheblichem Stresspotenzial erleben. Zwar lehnen sie nicht selten selbst den Einbezug vorerst ab, aber nicht aus Autonomiegründen, wie das oft missverstanden wird, sondern weil sie ihre Eltern vor weiteren Belastungen schützen wollen. Finden sie hingegen das Vertrauen, dass die Eltern im Zuge der Therapie darin unterstützt werden, ihr Leid und die Störung besser zu verstehen, so wünschen sie deren Einbezug oft sehnlichst (Vertrauensvorschuss durch natürlich gewachsene familiäre Bindungen). Es setzt allerdings die Fähigkeit der Helfer voraus, die Familie bei dem fragilen Spagat - zwischen dem Respektieren der Autonomie des kranken Familienmitgliedes einerseits und dem feinfühligen Durchsetzen der Notwendigkeit, zu essen und an Gewicht zuzunehmen anderseits - kompetent zu begleiten.
Im vorliegenden Buch hat sich Corina Lendfers zum Ziel gesetzt, Familien auf diesem Weg zu begleiten. Es wendet sich an betroffene Eltern, die noch keinen geeigneten Therapieplatz gefunden haben, jedoch bereits handeln möchten und eine Anleitung benötigen, was sie tun können und worauf zu achten ist, um das Leid bei ihrem erkrankten Familienmitglied nicht zu verschlimmern. Das Buch dient außerdem als Anleitung für die Familienintegrierte Therapie FiT. Dabei handelt es sich um ein klassisches Mentoring-Programm, das aufgrund eines Mangels an professionellen Angeboten "ohne die professionelle Begleitung durch ausgebildete Therapeut:innen innerhalb der Familie" stattfindet (S. 12). FiT ist "eine gewachsene Adaption des Family Based Treatments FBT an die Realität der Behandlungssituation in den deutschsprachigen Ländern" (ebenda). Unerfahrene Eltern mit einem erkrankten Kind, die auf einen geeigneten Therapieplatz warten, erhalten dabei Unterstützung durch erfahrene Eltern.
Zwar stammt die Autorin Corina Lendfers beruflich - wie sie selbst betont - nicht aus dem klinischen Fachbereich. Umso eindrücklicher ist es aus unserer Sicht als erfahrene Klinikerin und Kliniker, dass es ihr zweifellos gelingt, betroffene Eltern einfühlsam an die Hand zu nehmen und sie zu ermutigen, sich mit dem Wissen und der Unterstützung durch bereits erfahrene Eltern den Fallstricken, Nöten, Unsicherheiten, Ängsten, Dramen und Konflikten zu stellen. Diese Herausforderungen kommen unweigerlich ins Spiel, wenn Eltern den Kampf gegen die Krankheit ihres Kindes aufnehmen.
Deutlich spiegeln sich in den Darlegungen auch die eigenen Erfahrungen von Corina Lendfers als Mutter einer ehemals an Anorexie erkrankten und heute gesunden Tochter wider.
Das Buch benennt die zahlreichen praktischen Probleme, die im Verlauf jeder Anorexie-Therapie auftreten können. Diese mögen einzeln betrachtet komplex erscheinen, gleichen sich jedoch erstaunlicherweise wie Perlen auf einer Kette. Dazu gehören Herausforderungen wie der Umgang mit Essensverweigerung, Aggression, Angst, Schuldgefühlen, Überforderung und Erschöpfung. Das Buch behandelt Fragen zu Sportaktivitäten, zu schulischen Belangen sowie zu psychopathologischen Themen wie Depression, Zwangssymptome oder Suizidalität. Auch die Rolle der Geschwister und der "stets gutmeinenden" Verwandtschaft wird beleuchtet. Praktische Hinweise zur Ernährung, wie der Umgang mit triggernden Lebensmitteln, fettigen Speisen (neudeutsch: Fearfood) oder Ernährungsplänen, werden ebenso behandelt. Der Umgang mit konkreten "Problemobjekten" wie Spiegeln oder der Waage wird besprochen. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine Sammlung von Themen, Komplikationen und Fallen, die Eltern und ihre an Anorexie erkranktes Familienmitglied auf dem Weg zu einer gesunden Ernährung und Normalgewicht begegnen können.
Verantwortungsvoll betont Corina Lendfers aber auch, dass das Selbsthilfeprogramm unter dem Aspekt fehlender Fachhilfe zweite Wahl ist und unbedingt hausärztlich begleitet werden muss. Denn auch wenn die somatischen Probleme bei der Anorexie ausschließlich Folge des Hungerns beziehungsweise des Untergewichts sind, so dürfen sie keinesfalls unterschätzt werden. Denn pathologisches Untergewicht ist nicht einfach die "leichtere Version einer Person", sondern setzt Biomechanismen der Gegenregulierung in Gang mit komplexen medizinischen Folgen bis zum Organversagen. Unseres Erachtens ist deshalb die medizinische Begleitung des Selbsthilfeprogramms tatsächlich unverzichtbar.
Der Grundton des Buches ist optimistisch und ermutigend. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahrzehnten durch das pragmatische Vorgehen die Prognose bei der akuten Anorexia nervosa deutlich verbessert. Bei allem Optimismus darf aber nicht vergessen werden, dass es 1) sehr schwere Formen dieser Krankheit gibt, die eine stationäre Behandlung notwendig machen, 2) dass der Genesungsprozess nur in leichteren Formen gradlinig verläuft, während er öfters von Stagnation und Rückfällen geprägt ist (was die Durchstehfähigkeit der Helfer besonders herausfordert), und 3) dass es leider auch unvorhersehbare Verläufe gibt, die - trotz allseitig hohem Engagement - höchstens zu einer Verbesserung aber nicht zur vollständigen Genesung führen.
Schließlich hebt das Buch das bereits angetönte Problem hervor, das laut der Autorin den Anlass dazu gab, es überhaupt zu...
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