Schweitzer Fachinformationen
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Damals gab es die heute üblichen Last-Minute-Flüge noch nicht, aber ich hatte Glück und konnte den Flug nach Frankfurt acht Uhr vierzig buchen, von dort startete um kurz nach elf Uhr die Linienmaschine der Spantax nach Los Rodeos, Tenerife.
Die Verzweiflung überfiel mich das erste Mal, als ich aus fast zehntausend Meter Höhe nach unten auf das Band der Rhône starrte und mich fragte, was ich hier eigentlich wollte. Wie eine Spielzeuglandschaft, fern und unwirklich das Land unter mir. Fremd die Menschen um mich. Lautlose Tränen, Zittern und die Frage: Was habe ich nur getan? Wütende Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Daheimsein, nach Geliebtwerden und das Empfinden der Tatsache: Ich bin allein. Wollte ich nicht immer allein sein? Wunsch, hier ist deine Erfüllung!
Die Stewardess knallte mir ein Essenstablett auf mein Tischchen. Nein, danke. Ich will nichts essen. Bitte, bringen sie mir einen Freixenet. Sekt am Mittag. Ihr Gesicht zeigt hochmütige Missbilligung.
Die würde meinem Weiberhelden gefallen: rassig, nicht so hausbacken wie seine hellhäutige Rotblonde mit tränenverquollenen Augen. Na also! Mein Tief war überwunden, und ich bestellte mir bei der lasziven Schwarzen noch ein Prickel-Wässerchen. >Schau mich nicht so an, blöde Kuh, dein Untergestell ist zu feist und deine Beine zu knubbelig, außerdem bist du nichts anderes als eine Kellnerin, so! Mir geht's immer besser.<
Ich schaute wieder hinunter. Wir waren bereits an der Küste. Ist es noch das Mittelmeer oder schon der Atlantik? Bei diesen blöden Linienflügen sagt einem ja keiner was.
Aber die blondierte Dame hinter mir klärt ihren Partner - und mich - auf: >Ei guckamol Egon, da is scho Faro unne uns.<
>Hessen<, taxierte ich in Gedanken und fühlte mich ihnen zwischen all den Spaniern recht nahe. Ach, Atlantik, seufzte ich leise und schaute fasziniert auf die endlose blaue Weite hinunter.
Jetzt war meine Trostlosigkeit wie weggewischt, auch mein sentimentales Heimweh war weg. Das Meer nahm mich gefangen, und mein Alkoholpegel lieferte Romantik pur. Weißer Wolkenteppich wie Watte über azurblauem Grund und über dem Flugzeug hellblaue Unendlichkeit. Und mittendrin, zehn Kilometer über der Erde, mein eigenes, verschwindend kleines Ich, das ich nicht mehr so wichtig nehmen durfte. Genieße, Auge, dass du schauen darfst, tanke Seele, tanke die Schönheiten unserer Welt, mach dich frei von Kleinlichkeit, von Engstirnigkeit, vom Profanen.
Es war nachmittags drei Uhr, Ortszeit. Wir landeten ohne Probleme. Ohne Behinderung durch Nebel der Teide-Wolke, ohne Verzögerung. Es war so, als würde ein Omnibus planmäßig angekommen sein. Ich war anscheinend der einzige Passagier, der nur Handgepäck mit sich führte, und dann stand ich vor dem Flughafengebäude.
Einen Augenblick schloss ich die Augen und atmete tief den Dieselmief der Omnibusse und Taxis ein, von dem mir daheim speiübel wurde. Ich bin ein Nasenmensch. Gerüche bedeuten für mich instinktives Einordnen in positiv und negativ, in Mögen und Nichtmögen. Macht es das nahe Meer oder das Zusammenwirken mit den Gerüchen der Vegetation? Ich kann's nicht erklären. Dieselgeruch gibt mir noch heute das Gefühl: Ich bin wieder da, Tenerife, du hast mich wieder. Doch damals fiel es mir das erste Mal auf, und als ich mich lächelnd umschaute und langsam nach vorne zu den Taxis ging, fühlte ich mit Wohlbehagen die sommerliche Wärme nach dem nasskalten Grau in Deutschland.
Es sah alles anders aus als im Januar. Tropischer. Braungebrannt die Erde der Hänge ringsum. Die Zinnen des Anaga-Gebirges standen wie ein Scherenschnitt vor tiefblauem Himmel, darunter gleißendes Licht, das das Meer ahnen ließ. Für einen Augenblick fühlte ich wieder, wie mich Panik befallen wollte, ich rief mich zur Räson, ließ es nicht zu. Mir konnte nichts geschehen. Ich hatte nach Bezahlung meines Fluges noch genug Bargeld, mein Sparbuch und meine Euroschecks. Grob geschätzt konnte ich mit allem zusammen fast ein Jahr über die Runden kommen.
>Taxi! Al Hotel Tinguaro, Bajamar, por favor!<
Es dauerte nur fünfunddreißig Minuten, bis ich dort eintraf. Selbstverständlich könnte ich ein Zimmer haben. Selbstverständlich mit Meerblick. Selbstverständlich bei längerem Aufenthalt zu einem besonderen Ausnahmepreis. Dieser Sonderpreis betrug damals pro Monat keine fünfhundert Mark, und das mit Vollpension. Na also, »Frau« kann alles, was »Frau« will!
Schlechtes Gewissen, wo bist du geblieben? Reue, warum empfand ich dich nicht mehr? Ich fühlte nur eins: Frei! Frei! Frei! Es war so, als wäre etwas, das mir die Luft zum Atmen genommen hatte, endlich von mir abgefallen.
Das Seltsamste aber war, dass ich am Abend einschlief, ohne auch nur einmal an Carlos zu denken. Carlos, mein Señor Baldrian, ohne die Zwiesprache mit ihm konnte ich daheim überhaupt nicht mehr an Schlaf denken. Dafür träumte ich in dieser ersten Nacht von ihm, und am nächsten Morgen machte ich mich auf die Suche nach ihm.
Schon am Tag meiner Ankunft ging mein erster Weg zu den Meerwasserbädern, denn zwei Badeanzüge waren das erste, was ich in meinem Flucht-Gepäck verstaut hatte. Es tat gut zu schwimmen. Enttäuschend war nur, dass die träge Flut nicht einmal über den Beckenrand schwappte und das warme, nach altem Fisch riechende Meerwasser keine Erfrischung bot. Aber ich war ja nicht nur für zwei Urlaubswochen da, in denen man jede Stunde nutzen musste, sondern ich hatte alle Zeit der Welt.
Als um siebzehn Uhr die Geschäfte öffneten, ging ich in die Tienda de Renata, wo ich damals mein regenbogenfarbenes Nichts erstanden hatte. Dieses Mal waren es nur ein paar praktische Sachen, vor allem einen Bademantel musste ich haben und einen Trainingsanzug, der, ebenso wie eine blaue, dreiviertellange Baumwollhose, meine hauptsächlichsten Kleidungsstücke wurden.
Bevor ich dann am nächsten Morgen auf die Suche nach Carlos ging, erledigte ich zuerst das Finanzielle. Ich mietete mir ein Schließfach bei der kanarischen Sparkasse, löste sicherheitshalber von da an täglich und bei verschiedenen Banken meine Euroschecks ein und deponierte die Peseten in meinem Schließfach.
Beim vorletzten Scheck war es vorbei, die Konten waren gesperrt. Ich hatte es doch geahnt. Einmal Schwein, immer Schwein. Der Teufel soll dich holen, Uwe! Das war mein von Herzen kommender Wunsch am 18. Oktober meines Fluchtjahres. Wie blöde war ich eigentlich? Warum hatte ich nicht soviel Hirn gehabt und soviel Rücksichtslosigkeit, kräftig hinzulangen und mich so einzudecken, dass ich wirklich sorgenfrei war, bis alles Geschäftliche und Private geklärt sein würde. Später war ich froh darüber, dass ich es nicht übertrieben hatte und mir wenigstens nicht auch noch vorwerfen lassen musste, ich hätte mich bereichert und vielleicht damit den drohenden Konkurs veranlasst.
>Señor, por favor, ich suche Carlos. Sie kennen ihn. Kennen sie mich noch?< Ich sprach zu dem Schneidezahnlosen an der Strandbar, der mich im Januar immer so lüstern begutachtet hatte.
Zuerst brabbelte er Unverständliches. Dann siegte offenbar sein Stolz, den er über seine Deutschkenntnisse hatte, er grinste sein Piraten-Lächeln:
>Sí, señora. Señor Carlos, schöner Mann. Viele Señora alemana immer rufen: Carlos, Carlos! Pero, Carlos haben Amiga in Deutscheland, por qué no? Sein Señora Susanna. Sommer immer zusammen in Deutscheland. Kommen hier noviembre; dann auch kommen Susanna, amiga de Carlos. Vistosa...< Ob das letzte Wort wohl dickbusig hieß? Denn er malte zu diesem >vistosa< Riesenbrüste in die Luft.
Später lernte ich, dass er >stattlich< meinte. Womit er Recht hatte, denn als ich diese Susanna dann sah, hatte sie nicht nur Riesenbrüste, sondern sie war auch sonst monumental und im Ganzen gesehen breiter als lang. Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, dass sie eine wunderschöne, zimtbraun gebrannte Haut hatte, keine Falten - wo auch, wenn alles ausgefüllt ist -, und sie hatte ein hübsches Gesicht, das von großen braunen Augen beherrscht wurde.
»Sí, gracias«, flüsterte ich damals dem Pockennarbigen zu, und er grinste mich an, schlug sich wie ein Affe an die Brust und erklärte mir mit den ordinärsten deutschen Ausdrücken, die es dafür gibt, dass er das, was Carlos hätte, auch zu bieten habe. Ich flüchtete mit Grausen.
Dass Carlos eine Freundin hatte, berührte mich eigentlich wenig. Ich hatte nicht angenommen, dass er wie ein Mönch leben würde und wenn er eine feste Freundin hatte, bei der er teilweise sogar lebte, dann ist er auf jeden Fall nicht verheiratet. Also, auf in den Kampf, Marianne!
Wie lange soll das her sein? Fast 30 Jahre? Unfassbar. Ich löse mich nur widerwillig von meinen Gedanken und der Vergangenheit. Doch dann tappe ich benommen zur Terrasse, schiebe die Tür nur soweit auf, dass ich mich durchzwängen kann und schließe sie sofort wieder hinter mir, damit reduziert sich das Fauchen des Windes durch die drei sämtlich undichten Türen meines Apartments sofort wieder.
Tief atme ich ein, die Gegenwart hat mich wieder. Der Atlantik tobt. Der Sturm reißt Schaumkronen von den Wellenbergen. Die armen Importpalmen biegen sich quer zur Promenade. Kein Mensch ist zu sehen. Die Lokale sind noch geschlossen.
Ich werde versuchen zu schwimmen, falls die Flut nicht unser ganzes Schwimmbecken mit vereinnahmt hat. Meinen Knochen geht es heute gut. Fast, aber nur fast wie eine Junge renne ich zu Fuß die Außentreppen nach unten. Es ist warm hinter...
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