Schweitzer Fachinformationen
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»Tante Ilse!«,
murmelte sie vor sich hin, sprach es wiederholt in diesen herbstlichen Donnerstagvormittag, an dem der Wind die Blätter von den Bäumen fegte und als feurigen Farbenteppich auf den Boden legte. Nikola Wehrle hatte keinen Blick dafür. Sie konnte nicht glauben, was sie gehört hatte. Seufzend ließ die 45-Jährige ihr Handy in die Hosentasche gleiten, drehte sich weg vom Theaterstück des Hin- und Herwiegens der Baumkronen, das vor den Scheiben ihres Wintergartens aufgeführt wurde. Sie plumpste in ihren Sessel. Zitterte. Kein Wunder, bei der Nachricht, die ihr soeben überbracht worden war.
»Überraschend gestorben«, hatte Anke Zähringer am Telefon gesagt. Nik konnte es nicht glauben. Wollte es nicht glauben. Als Optimistin zweifelte sie unangenehme Nachrichten erst einmal an. Falls sich die Nachrichtenüberbringerin getäuscht hatte, regte sie sich unnötig auf. Falls sie sich verhört haben sollte, ebenso. Zu ihrem Bedauern war beides nicht der Fall. Ilse Behring war in der Nacht einem ischämischen Apoplex erlegen. Ins Hochdeutsche übersetzt: Sie hatte einen letalen Schlaganfall erlitten. Auf Schwäbisch gesagt: Das Schlägle hatte ihrer Tante den letzten Schnaufer entrissen.
Während sie ihre 166 Zentimeter aufrichtete, schob Nik das Hoodiekleid, das ihr über den Po gerutscht war, nach unten und zupfte es über den Leggins zurecht. Als sähe jemand, dass sie ein paar Kilo zu viel auf den Hüften hatte. Als ginge es irgendeine Seele etwas an, was sie in ihrem Reihenhäuschen trug! Es geschah aus einer Gewohnheit heraus. Ihre beste Freundin Birte behauptete, das ständige Zupfen an der Kleidung habe seine Wurzeln in Niks Kindheit. Geschwisterlos hatte Nik diese mit sieben Barbies verbracht. Genau genommen waren es siebeneinhalb, denn Ken durfte durchaus mitgezählt werden - zumindest zur Hälfte, denn eine winzige Taille konnte sogar er vorweisen. Die kleine Nikola stellte sich immer wieder vor ihren Spiegel und versuchte, sich die Speckröllchen in ihrer Mitte wegzudenken. Birte sagte, so ein Trauma sei tief in einem verankert. Nikola hatte längst aufgegeben, sich ein Leben mit einer Wespentaille vorzustellen. Die Einzige, die sie hätte fragen können, wie sich das anfühlte, weil mit 77 Jahren noch immer gertenschlank, konnte sie nicht mehr fragen. War Tante Ilse wirklich tot?
Nikola, von ihren Freunden Nik, von Birte Nikky, von Neidern und ähnlich düsteren Gestalten die Wehrle genannt, tupfte ihre Wangen trocken. Tante Ilse war ihre Lieblingstante. Gewesen. In fünfeinhalb Wochen wäre sie 78 Jahre alt geworden. Der 12. November war ein Sonntag. Nik hatte sich fest vorgenommen, sie in der Senioren-WG zu besuchen, in der Ilse seit wenigen Jahren lebte. Sie hätten einen gemeinsamen Ausflug machen können! Warum hatte sie ihren Besuch immer wieder verschoben? Nik hätte ihr noch so viel sagen wollen. Sie hätte der Tante Löcher in den Bauch fragen müssen. Über die 1960er- und 70er-Jahre, über Politik, über Männer. Über das Altern. Über . ach, Mensch.
Seufzend verließ sie den kleinen Wintergarten, durchquerte das Wohnzimmer, stapfte in die Küche und ließ einen dreifachen Espresso aus der Maschine. Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf dem Küchentisch ab, während sie versonnen ihren Kaffee schlürfte. Wann hatte sie die Tante das letzte Mal gesehen? Es musste im September des vergangenen Jahres gewesen sein. Nik erinnerte sich an einen herrlichen Spätsommertag. Sie hatte Ilse mit einer Einladung zum Frühstück überraschen wollen, also war sie um 7 Uhr in Schönweil losgefahren. Kurz nach acht hatte sie ihre Tante in Bad Dürrheim abgeholt. Sie hatten auf der Terrasse eines hübschen Cafés im Kurviertel ein Frühstück eingenommen, aus dem ein Brunch geworden war. Ilse war ausgelassen gewesen, sie hatten gegessen, gequatscht, gelacht. Ilse hatte vorgeschlagen, den Nachmittag auf der Insel Mainau zu verbringen. Nik sah die Autofahrt nach Meersburg noch immer vor sich, sie hatte sogar die Musik im Ohr, die im Radio gespielt wurde - Don't stop me now von Queen. Sie grölten mit, führten sich wie Teenager auf, bis sie mit dem Schiff auf die Mainau übersetzten und bald vor gigantischen Blumenfeldern standen, in denen sich Blüte an Blüte reihte. Staunend betrachteten sie die 11.000 Dahlien, die Herbst für Herbst die Blumeninsel übersäen. Dieser Duft! Nik konnte nicht genug davon bekommen. Ilse machte einen Schritt zurück, nahm Abstand von den Blüten, bestaunte deren Farben aus der Ferne und stieß Laute des Entzückens aus. Es war aber auch unglaublich schön! Manche Rabatten waren in Rosétönen gehalten, andere trugen Orange in allen Schattierungen, dritte erstrahlten in sonnigem Gelb. Bald debattierten sie den Unterschied zwischen Dahlien und Chrysanthemen, überlegten, zu welcher Gattung die gefüllten Pomponblüten gehörten, riefen sich die Namen zu, die sie auf den Schildern lasen: Nebelrose! Ordensstern! Bienchen. Der Nachmittag blieb unvergesslich. Warum hatte Nik den Besuch nicht wiederholt? Trauer überflutete sie und Tränen schossen in ihre Augen. Es war so vieles dazwischengekommen. Kurz nach dem Treffen war ihre Tochter nach Dresden gezogen, Nik hatte einen Sprinter gemietet und Monique geholfen, ihre erste kleine Wohnung einzurichten. Weihnachten hatte sie bei ihrer Mutter verbracht, Nik dachte nicht gerne daran, es hatte Streit gegeben. Im Frühjahr hatte sie sich eine Schleimbeutelentzündung zugezogen, unter der sie bis heute litt. Überdies war es Sommer geworden. Nun war Herbst. Nik hatte sich darauf gefreut, mit Ilse Geburtstag zu feiern. Wie oft in ihrem Leben war es auch diesmal: Scheißtiming.
Anke Zähringer
berief eine Versammlung ein. Um 9 Uhr im Treff, schrieb sie an die Bewohner der Senioren-WG. Die Gruppe hieß Little Smile, wie die WG. Fast alle hatten einen Zugang. Wer seine Nachrichten nicht regelmäßig abrief oder kein Smartphone hatte, erfuhr, was es zu erfahren galt, im Gemeinschaftsraum, den sie Treff nannten. Er lag am Ende des Flures und bestand aus einer hochwertigen Küchenzeile und einem geräumigen Wohn-Essbereich. Dieser war von der Küche durch eine Schiebetür aus massivem Holz getrennt, die meistens - so wie jetzt - offen stand.
Kurz vor 9 Uhr baute sich Frau Zähringer vor dem Esstisch auf. Sie war eine imposante Erscheinung, eine stolze Frau Anfang 50, die niemand übersehen und schon gar nicht überhören konnte.
Anke eröffnete das Gespräch mit ihrer tiefen, kräftigen Stimme. »Ilse«, sagte sie.
»Was ist mit Ilse?«, fragte Herbert Würfel. Der 82-Jährige drehte sich von der Küchenzeile weg, während ein Kaffee aus der Maschine tropfte. Obwohl er leicht gebückt dastand, war er größer als die übrigen Bewohner. Er reckte der Vermieterin seine spitze Nase entgegen, als wollte er sie damit stechen.
»Herbert, setz dich bitte zu den anderen.«
Herbert blieb stehen. Natürlich blieb er stehen. Herbert Würfel ließ sich nicht herumkommandieren. Schon gar nicht von einer Frau, die er bezahlte!
»Wo ist Ilse?«, fragte Lotte Laible und schaute sich suchend um. Zu ihrer Rechten schlürfte ihr Mann Egon seinen Milchkaffee, zu ihrer Linken klopfte Mitbewohnerin Helga Schuh ein Frühstücksei auf. Alle waren im Treff, nur Ilse Behring fehlte.
Anke sah Lotte lange an. Dann schickte sie ihre Blicke auf Wanderschaft. Sie musterte Helga, danach fixierte sie Egon, so freundlich sie es vermochte, was nicht sehr freundlich war. »Es tut mir leid, euch das mitteilen zu müssen«, fuhr sie fort. »Ilse ist heute Nacht von uns gegangen.«
Lotte riss die Augen auf, während Egon seinen Spazierstock auf den Boden hämmerte. Wollte er die Nachricht ans Untergeschoss weiterleiten? Dort hielt sich keiner auf. Auch in Zimmer Nummer drei sollte künftig niemand mehr sein?
»Was soll das heißen, von uns gegangen?« Herbert sah Anke ungläubig an. Um seine Mundwinkel zuckte es merklich.
»Es bedeutet genau das, was du darunter verstehst, Herbert. Ilse ist bedauerlicherweise gestorben.«
Helga Schuh sprang hoch. Sie ging auf Anke zu, ihr Zeigefinger wirbelte durch die Luft, ihr Leichtgewicht schien über dem Boden zu schweben wie eine Drohnenfliege. »Das kann nicht sein, sie war gestern noch quicklebendig!«
»So was kommt in eurem Alter schon mal vor, Helga, das weißt du so gut wie ich.« Beschwichtigend legte Anke einen Arm auf die Schulter der aufgebrachten Frau mit dem wachen Blick.
Helga brauchte eine Weile, bevor sie nickte und leise fragte: »Wann ist es passiert?«
»Gegen 2 Uhr wurde sie abtransportiert.«
Egon Laible mischte sich ein. Mit 86 Jahren war er der Älteste der WG. Ächzend erhob er sich und stützte sich auf seinen Spazierstock. »Woran ist sie gestorben?«, wollte er wissen.
»An einem Schlaganfall.«
»Ein Hirninfarkt?« Egon hob die Augenbrauen so weit an, dass sich seine Querfalten in tiefe Gruben verwandelten. Seine hohe Stimme überschlug sich fast. Hegte er etwa Zweifel an den Worten der Vermieterin?
»Egon«, entgegnete Anke sanft. »Niemand von uns ist davor gefeit. Statistisch gesehen ist ein Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache in unserem Land. Sogar Jüngere sind davon betroffen.«
Während der Ältere den Kopf schüttelte, kniff Herbert Würfel, der noch immer am Küchentresen lehnte, die Augen zusammen, bis winzige Schlitze übrig blieben. Er sagte keinen Ton. Auch Helga Schuh verstummte. Sie senkte ihren Blick. Dass sie still weinte, wen wunderte es.
Die Vermieterin fächelte sich mit der Hand Luft zu, bevor sie weitersprach: »Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Aber der Arzt...
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