Stromschwankungen im Licht der Aufklärung
IN DIESEM AUGENBLICK schaut meine Mutter das helle Licht der Aufklärung. Neben ihr mein aus Prag angereister, groß gewachsener Onkel Vladimir, von allen kurz Vláda genannt. Er beobachtet sie, seine Kamera um den Hals, ein wenig skeptisch. Auf diese Weise könnte man das Bild beschreiben. Aber wahrscheinlich war die Situation viel weniger bedeutungsschwer. Vielleicht war die Haltung der Personen nur eine zufällige Pose, eingefangen durch einen Schnappschuss im Frühling des Jahres 1966. Er zeigt die beiden am Tor zur Sendeanlage Lichtenberg, wie der Aufschrift auf dem massiven Betonblock rechts im Bild zu entnehmen ist. Dieser dient der Befestigung der dicken Stahlseile des Sendemasts. Sie geben dem 135 Meter hohen Sender nahe Linz den notwendigen Halt, wenn die Stürme über das Mühlviertel fegen.
1966 versorgte der Österreichische Rundfunk seit nunmehr ein paar Jahren weite Teile des Landes mit seinen Programmen. Aufgrund der Positionierung des Senders Lichtenberg strahlte dieser auch weit bis in die böhmische Tiefebene hinein, bis ins Land meines Onkels Vláda aus Prag. Genau genommen war er kein Onkel, sondern ein Cousin meiner Mutter, aber damals nannte man alle irgendwie zur Familie gehörigen Menschen - auch wenn sie nicht einmal verwandt waren - Tanten und Onkel.
Da die Vergangenheit selbst nicht mehr zu beobachten ist, brauchen wir Bilder von ihr. Sie sind unsere Krücken auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Es war eine verheißungsvolle Zeit, nicht nur für die beiden Abgebildeten. Das Programm, das von diesem Sender ausgestrahlt wurde, brachte mehr Aufklärung denn je. Zwei Jahre lag das erste Volksbegehren, das es in Österreich je gegeben hat, zurück. 1964 legten die Menschen in Österreich mit dem Rundfunkvolksbegehren den Grundstein für ein freies, modernes und in der Demokratie unverzichtbares Medium. Die beiden staatstragenden Parteien, ÖVP und SPÖ, konnten sich des Rundfunks nicht mehr als Sprachrohr bedienen. Als Ergebnis des Volksbegehrens waren Posten von nun an nicht mehr doppelt besetzt, mit Protagonisten der einen und der anderen Partei. Dadurch hatten sich die beiden Lager bis dahin in Schach halten können. Und von nun an waren Journalistinnen und Journalisten frei in ihrer Fragestellung, ohne mit den Parteisekretariaten vorab klären zu müssen, worauf sich der Befragte einstellen muss. Diese Errungenschaften waren meinem Onkel aus dem totalitär und diktatorisch regierten Land völlig unbekannt. Aber das allein war es nicht, was in diesen ausgehenden 1960er-Jahren in Österreich den Zuwachs an Freiheit und Stabilisierung der Demokratie ausmachte. Es war vielmehr eine Strömung in der öffentlichen Alltagskultur, die in dieser Hinsicht das Ende der Nachkriegszeit markierte. Es war eine Tiefenströmung, die im Begriff war, das Bleierne der tradierten Normen und Verhaltensweisen wegzuschwemmen. Im nächsten Jahrzehnt entstanden daraus dann die dazugehörigen Gesetze, die entsprechende Musik und Mode.
Auch mein Onkel Vláda hegte Hoffnung auf ähnliche Veränderungen - wenngleich in seinem Blick auf diesem Foto Skepsis mitschwingt. Er lebte, wie viele andere Verwandte meiner Mutter, hinter dem buchstäblich eisernen Vorhang, in der Tschechoslowakei. Es war eine Systemgrenze, die nur durch Mauern und Stacheldraht aufrechtzuerhalten war. Aber sie war im Laufe der Jahre durchlässiger geworden. Anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der nicht einmal Briefverkehr zwischen Geschwistern über die Grenze hinweg möglich war, konnten jetzt immer häufiger Familienbesuche wie dieser absolviert werden.
Bei diesen Besuchen versicherte man sich gegenseitig, es werde alles immer ein Stück besser, Freiheit und Fortschritt würden sich durchsetzen. Hier, in Österreich, symbolisierte der Sender am Lichtenberg nicht nur technische Entwicklung, sondern stand auch für eine qualifizierte Öffentlichkeit und damit mehr Entscheidungsfreiheit. Ich finde, es war ein bemerkenswertes Ausflugsziel im Zuge des Familienbesuchs von jenseits des Eisernen Vorhangs.
Die Bilder von Familienbesuchen in die andere Richtung geben in meinem Archiv Zeugnis davon, was man jenseits der Grenze damals als Sehenswürdigkeit einstufte. In Prag war es der leere Betonsockel, auf dem mehrere Jahre das weltweit größte Stalin-Denkmal gestanden war. Das Denkmal wurde 1962, ohne dass die Öffentlichkeit davon informiert worden war, von der tschechoslowakischen Armee gesprengt. Der Zuwachs an Freiheit sollte heimlich kommen.
Vier Jahre danach, 1966, führte die Entstalinisierung noch weiter Richtung Freiheit. Sie führte zum Prager Frühling. Ein freier Rundfunksender, wie er in Lichtenberg bei Linz besichtigt wurde, war für meinen Onkel plötzlich denkmöglich geworden. Dann könnte man auch in Prag durch die Medien von allfälligen politischen Umwälzungen erfahren. Und nicht nur dadurch, dass man den Betonsockel auf dem Hügel nördlich der Prager Altstadt plötzlich ohne die riesige Stalin-Statue vorfindet.
Die soziale Tiefenströmung dieser Zeit mündete für meine Mutter in den folgenden Jahren in eine für viele Menschen, vor allem für Frauen, noch nie dagewesene Emanzipation - ein wichtiges Stück Freiheit. Freiheit gehört ganz offenbar zu jenen wenigen Gütern, die mehr werden, je mehr Menschen davon nehmen. Aber wenn man sie hat, muss man den Umgang mit ihr täglich üben - so wie das Spielen eines Instruments. Allerdings sind wir es mehr denn je gewohnt, dass neue Technologien die Arbeit oder das mühsame Einüben von Fertigkeiten für uns übernehmen. Sie machen es uns aber vielfach nur vermeintlich leicht, wenn sie uns das Training abnehmen. Setzt man mit der Übung der Freiheit zu lange aus, verschwindet sie.
EINIGE JAHRE nach diesem mit einem Amateurfotoapparat eingefangenen Augenblick kam es bekanntlich jenseits der Grenze zu einem jähen Ende solcher Hoffnungen. Sowjetische Panzer mähten das Pflänzchen der Freiheit nieder, das seine größte Gestalt am Höhepunkt des Prager Frühlings im Jahr 1968 angenommen hatte. Mein Onkel konnte seine Karriere als Jurist nicht in der Art weiterführen, wie er es wollte. Als Antikommunist und frommer Katholik musste er seine Weltanschauung im Verborgenen leben. Das Regime nannte diese Phase neuerlicher und gewalttätiger Unterdrückung "normalizace", zu Deutsch "Normalisierung" - was aus unserer Sicht von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs natürlich ein Euphemismus war.
Fernsehsender wurden dennoch auch im Land der Unfreiheit immer wichtiger. Man konnte mit ihnen nicht nur aufklärerisch wirken, sondern auch systemstabilisierend. Während der "Normalisierung" versuchten die Machthaber gar nicht mehr die große Utopie zu zeichnen, in der der Kommunismus seine strahlende Zukunft haben würde. Sie vermittelten durch einfache Unterhaltung, dass der nun erreichte Zustand ganz "normal" sei.
Diese Erfahrungen prägten vielfach familiäre Gespräche bei späteren Begegnungen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs. Ich habe in jungen Jahren als ein sich langsam politisch orientierender Mensch daran teilgenommen. Ohne viel Vorkenntnis der Geschichte - Kriegsende und Festigung der sowjetischen Einflusssphäre in Europa lagen gefühlt in entfernter grauer Vorzeit - war es für mich leicht zu entscheiden, auf welcher Seite ich leben möchte.
Ich staunte darüber, dass man den Menschen jenseits des Zaunes glaubhaft vermitteln konnte, dieser solle nur das Eindringen faschistischer Elemente verhindern. Wir kennen solche Argumente auch aus den Rechtfertigungen des russischen Überfalls auf die Ukraine im Jahr 2022. Es war mir rätselhaft, wie man ganz offensichtlich eingesperrten Menschen erzählen konnte, dass der Stacheldraht zu ihrem Schutz sei und nur den Grenzübertritt anderer verhindern sollte - obwohl wir doch von unseren Verwandten immer so freudig empfangen wurden. Ich begann darüber nachzudenken, was man erwachsenen Menschen einreden kann und will. Und ich stellte fest, dass viele Menschen hinter dem Eisernen Vorhang nur vermeintlich bei dieser Täuschung mitspielten. Mein Onkel nicht, er galt immerhin als der Einzige in der Familie, auf den die Bezeichnung Intellektueller zutraf.
Mit dem deutlichen Gegenbild jenseits des Eisernen Vorhangs vor Augen war Demokratie unzweifelhaft die bessere Organisationsform einer Gesellschaft. Das war nicht schwer zu vermitteln und nicht schwer zu erkennen. Das Attribut "Volks-" vor die Demokratie zu setzen, also aus der Demokratie westlichen Zuschnitts und Idee eine "Volksdemokratie" zu machen, täuschte die wenigsten. Denn viele Menschen, deren Familien, wie die meine, aufgrund der quer durch Europa gezogenen Grenze getrennt waren, hatten sehr persönliche Erfahrungen auf beiden Seiten gemacht - und mit beiden Systemen. Wer Sympathien für die sogenannte...