Schweitzer Fachinformationen
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August 2012
»Ist das Bild neu?«
Leni fuhr zusammen und ließ die Blechdose mit dem Ostfriesentee fallen. Von der offenen Küche aus konnte sie ihre Tochter sehen. Kirstin hatte ihren Sofaplatz verlassen und stand nun direkt vor dem Gemälde, das Leni erst vor wenigen Tagen aufgehängt hatte. Sie hatte es beim Entrümpeln auf dem Dachboden entdeckt und probeweise gegen das Aquarell mit den Sonnenblumen ausgetauscht, das sonst an der Stelle gehangen hatte. Und dann hatte Kirstin plötzlich vor der Tür gestanden, unangemeldet, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Sie habe beruflich in der Gegend zu tun und wolle nur kurz vorbeischauen.
Mit zittrigen Händen hob sie die Dose auf, füllte den Teekessel mit Wasser und stellte den Herd an. »Ach, die >Frau auf rosa Diwan<«, sagte sie beiläufig. »Ein Maler hat es mir mal geschenkt. Ist lange her.«
»Warum kenne ich es nicht?« Kirstin trat einen Schritt zurück, um das Bild besser begutachten zu können.
Eine junge Frau lag auf einem rosafarbenen Sofa. Ihre Körperhaltung war entspannt, ein Bein angewinkelt. Sie trug ein hellblaues, leicht durchscheinendes Unterkleid mit schmalen Trägern und Spitzenbesatz, das ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Die Frau war barfuß. Die langen, braunen Haare fielen ihr seidig glänzend über die Schultern.
»Das hängt schon ewig da«, behauptete Leni. »Vermutlich ist es dir einfach nicht aufgefallen.«
»Das kann nicht sein. So ein Bild? In dieser Umgebung? Das hätte ich nicht übersehen!«
Leni wand sich. »Ich irre mich auch manchmal.«
»Mir gefällt es übrigens. Die Frau wirkt stark und zugleich geheimnisvoll. Sie zeigt sich, gibt aber nicht alles von sich preis. Das ist genau die subtile Erotik, die ich mag. Eine Frau, die weiß, was sie will.« Sie verlor sich für einen Moment in dem Frauenbildnis. »Sie ist klug und stolz. Dabei ist sie noch so jung. Die Frau brennt für etwas.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich glaube, sie ist verliebt. Sie will es aber auf keinen Fall zeigen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich kenne diesen Ausdruck. Sie himmelt den Maler an, ist total verknallt in ihn. Wer ist er?«
»Den Namen habe ich vergessen. Spielt auch keine Rolle. Ich glaube nicht, dass er bekannt ist.«
»R. B. oder R. P.? B. B.?« Kirstin ging näher an das Bild heran und kniff die Augen zusammen.
In der Küche pfiff der Teekessel. Leni Tamminga floh erleichtert aus der Situation. Sie gab fünf gehäufte Löffel Tee in eine vorgewärmte Kanne und übergoss die Blätter mit kochendem Wasser, bis sie gerade so bedeckt waren. Dann stellte sie die Eieruhr auf fünf Minuten.
»Übrigens schön, dass du da bist«, rief sie, so munter wie möglich. »Möchtest du einen Schuss Rum in den Tee? Dann hole ich welchen aus dem Keller. Ich habe keinen mehr in der Speisekammer.«
»Nein, danke, keinen Alkohol. Ich freue mich auf die Teestunde mit dir. Hatte schon lange keinen echten Ostfriesentee mehr.« Kirstin saß inzwischen wieder auf dem Sofa und blätterte in einem Werbeprospekt.
»Kommt gleich«, rief Leni. Sie lief aufgeregt hin und her und öffnete diverse Schranktüren und Schubladen. »Habe ich dir schon gesagt, wie gut du aussiehst?« Leni hoffte inständig, das Thema Bild hätte sich damit erledigt.
Kirstin bemerkte einen leisen Anflug von Müdigkeit. Sie kam gerade von einem Kundentermin und trug noch immer ihren dunkelgrauen Hosenanzug mit cremeweißer Seidenbluse, dazu hochhackige Pumps. Ihre dunklen Haare hatte sie hochgesteckt. Sie war lange nicht mehr in ihrem Elternhaus, einem ehemaligen Fischerhaus am Hafen, gewesen und brauchte daher eine Weile, um anzukommen. Es würde ihr nie mehr gelingen, sich dort so wohlzufühlen wie in ihrer Kindheit. Damals hatte sie in diesem Haus überaus glückliche Jahre verbracht. Ihr Leben war einfach, geordnet und übersichtlich gewesen. In manchen Momenten wünschte sie sich, etwas von dem Gefühl von einst zurückzubekommen.
Kirstin Tamminga führte in Osnabrück ein völlig anderes Leben als ihre Mutter, die niemals aus Ostfriesland herausgekommen war. Sie besaß eine schicke Wohnung in einem ruhigen, stadtnahen Viertel, die sie bis vor Kurzem mit ihrem Freund geteilt hatte. Nun war sie allein. Der Trennung war ein monatelanges Auf und Ab vorausgegangen.
Kein Magnus mehr, der seine Socken, Schuhe und Sportzeitungen herumliegen ließ und seine leeren Bierflaschen nicht wegräumte. Aber auch kein Magnus mehr, der sie wärmte, wenn sie am Abend mit kalten Füßen zu ihm ins Bett stieg.
Kirstin seufzte. Sie wollte das Gefühl nicht wieder hochkommen lassen, dass sie ihn vermisste. Sogar schmerzlich vermisste. Die Vorstellung machte ihr Angst, allein in ihre große, leere Wohnung zurückkehren zu müssen. Trotzdem würde sie es hier nicht länger als zwei Tage aushalten. Sie verstand nicht, wie ihre Mutter sich in dieser Enge wohlfühlen konnte. Leicht genervt sah sie sich um.
Das winzige Wohnzimmer mit den wuchtigen Eichenmöbeln war völlig überhitzt. Es roch nach abgestandenen Küchendünsten. Sie tippte auf Grünkohl mit Pinkel, eins von Lenis Leibgerichten. Kirstin kippte das kleine Fenster hinter sich. Sofort begann der Fensterladen zu klappern. Ein kalter Luftzug wehte herein. In Ostfriesland war es selten windstill.
Auf den morschen Holzdielen lagen, teilweise überlappend, mehrere in dunklen Rottönen gemusterte Teppiche. Wenn die Sonne nicht vom Himmel brannte, war stets eine Lampe eingeschaltet.
Wahrscheinlich um der Dunkelheit etwas Buntes entgegenzusetzen, hatte ihre Mutter eine Vorliebe für Kunstblumen entwickelt, die sie jeden Tag hingebungsvoll abstaubte. Überall standen und hingen sie herum - Alpenveilchen, Rosen, Nelken, Azaleen und Orchideen in Vasen, Töpfen und Blumenampeln. Kirstin fand sie grauenhaft und widerstand dem Impuls, sie einzusammeln und in einen Müllsack zu befördern. Überdies hatte ihre Mutter seit dem Tod von Kirstins Vater eine Sammelleidenschaft für Puppen entwickelt. Sie saßen auf dem Sofa und Sessel und machten sogar vor dem Kachelofen nicht halt. Jeder Quadratmeter des ohnehin beengten Wohnzimmers war ausgefüllt. Auf dem Tisch, der Kommode und der Truhe lagen selbstgehäkelte weiße Deckchen. Kirstin zog die Stirn kraus und seufzte tief.
»Schön, dass du dir mal wieder Zeit genommen hast, deine alte Mutter zu besuchen«, rief Leni fröhlich, schloss das Fenster und setzte sich neben Kirstin auf das durchgesessene dunkelrote Sofa. »Nur schade, dass du nicht früher Bescheid gesagt hast. Dann hätte ich mich besser auf deinen Besuch vorbereiten können.«
»Dann hättest du das Bild abhängen können?«, fragte Kirstin schmunzelnd.
Als Leni nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort: »Es hat sich kurzfristig ergeben, Mama. Ein Zufall. Sonst hätte ich dich vorgewarnt, ganz sicher.« Kirstin dachte daran, wie sie vor einigen Tagen einen Anruf erhalten hatte, dass eine Villa in Ostfriesland zum Verkauf stand, ganz in Lenis Nähe. Der Kunde hatte aus London angerufen und ihr erzählt, er habe lange mit sich gerungen und sich endlich entschlossen, sein Anwesen in Weener zu verkaufen. Seine Stimme hatte sympathisch geklungen, mit einem leichten englischen Akzent. Der Anruf war gerade zur rechten Zeit gekommen und war ein Lichtblick in ihrem oft frustrierenden Alltag als Maklerin. In den letzten Monaten hatte es viele Anfragen, aber nur wenige Angebote gegeben, von Abschlüssen ganz zu schweigen. Villen waren auf dem Immobilienmarkt begehrt, aber äußerst selten im Angebot. In Osnabrück betreute sie Kunden, die im nahe gelegenen Ostfriesland einen repräsentativen Zweitwohnsitz suchten, den sie in ein Luxusferiendomizil verwandeln konnten.
»Ich bin hauptsächlich beruflich hier. Eine Villa steht zum Verkauf.«
»Ach? Wo denn?«
»In der Norderstraße. Fußläufig, ich hätte den BMW gar nicht gebraucht.«
Leni Tamminga runzelte die Stirn. »Da soll eine Villa verkauft werden? Davon weiß ich ja gar nichts!«
»Ich habe vorhin erst das Schild aufgestellt. Ja, sogar eine hochherrschaftliche. Zwanzig Zimmer auf fünf Etagen, Kiesauffahrt, Freitreppe, Erker und Rundbögen, ein traumhaft schöner Garten mit weißem Pavillon. Einfach großartig, Mama! Du musst es kennen. Das Haus kennt doch jeder in Weener!«
Die Eieruhr klingelte. Leni erhob sich abrupt. Sie schien auf dem Weg in die Küche leichte Gleichgewichtsprobleme zu haben.
»Kann ich dir helfen?«, rief ihr Kirstin hinterher.
Leni winkte ab. »Das hast du doch früher auch nie getan.«
Stimmt, dachte Kirstin resigniert, aber ihre Mutter hatte auch nie darum gebeten, im Gegenteil, sie hatte nicht gewollt, dass man ihr im Wege stand. Die Küche war ihr Reich; am liebsten werkelte sie allein darin herum. Kirstins Eltern hatten lange auf ihr erstes und einziges Kind warten müssen, und sie hatten ihr alles bieten wollen, was sie selbst in ihrer Jugend entbehrt hatten. Vielleicht hatten sie sie deshalb so verwöhnt. Kirstin war es als Kind gar nicht bewusst gewesen; sie hatte es erst gemerkt, als sie ihr erstes eigenes Zuhause bezog und nicht wusste, wie sie die Waschmaschine bedienen oder ein Spiegelei braten sollte.
Dadurch, dass die Küche in die kleine Wohnstube überging - früher waren die Räume durch eine Schiebetür getrennt gewesen -, konnte sie ihre Mutter werkeln sehen. Kirstin betrachtete sie mit einem Anflug von Wehmut - ihre kleine, stets emsige, mittlerweile ziemlich in die Jahre gekommene Mutter. In der geblümten Küchenschürze, dem kurzärmligen gelben Polyesterpullover, den...
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