1 - Motivation trifft Begabung [Seite 2]
1.1 - Inhalt [Seite 7]
1.2 - Abkürzungsverzeichnis erwähnter Testverfahren und Fragebogen [Seite 11]
1.3 - Vorwort [Seite 13]
2 - Zur Einführung [Seite 15]
3 - 1 Entwicklung von Tätigkeits- und Leistungsmotiven [Seite 17]
3.1 - 1.1 Intrinsische und extrinsische Motivation: ein ungleiches Begriffspaar [Seite 17]
3.2 - 1.2 Was ist Neugier, Wissbegier und Erkenntnisstreben? [Seite 20]
3.3 - 1.3 Exkurs: Intelligenz im Vorschulalter fördern und entwickeln [Seite 22]
3.4 - 1.4 Entwicklungslinien: Von der Neugier zum Erkenntnisstreben [Seite 28]
3.5 - 1.5 Entwicklungsfenster: Meinungen von Eltern zur Lebenssituation begabter Klein- und Vorschulkinder [Seite 38]
3.6 - 1.6 Was ist Leistungsmotivation? [Seite 39]
3.7 - 1.7 Entwicklungslinien: Von der intrinsischen zur extrinsischen Leistungsmotivation [Seite 41]
3.8 - 1.8 Frühe Leser und frühe Rechner: zwei Längsschnittstudien [Seite 44]
3.9 - 1.9 Entwicklungsfenster: Die Lebenssituation begabter Schulanfänger [Seite 49]
3.10 - 1.10 Entwicklungslinien: Vom Schulanfänger zum Viertklässler [Seite 53]
3.11 - 1.11 Entwicklungsfenster: Hochbegabte Grundschulkinder [Seite 59]
3.12 - 1.12 Fragen zum Nach-Denken [Seite 65]
3.13 - 1.13 Tipps zum Nach-Lesen [Seite 66]
4 - 2 Motivationspsychologische Grundlagen der Begabung [Seite 67]
4.1 - 2.1 Begabung, Motivation und Expertise [Seite 67]
4.2 - 2.2 Entwicklungslinien: Mögliche Probleme Begabter beim Übergang ins Gymnasium [Seite 71]
4.3 - 2.3 Entwicklungsfenster: Fallbeispiele für Underachievement [Seite 80]
4.4 - 2.4 Tätigkeitsmotivation, Flow-Erleben und Begabung [Seite 86]
4.5 - 2.5 Entwicklungsfenster: Domänenspezifisches Lernen mit Konfliktpotential [Seite 92]
4.6 - 2.6 Entwicklungslinien: Weitere Entwicklung des Leistungsmotivs im Sekundarschulalter [Seite 95]
4.7 - 2.7 Entwicklungsfenster: Leistungswettbewerbe - Leistungsmotiv schlägt Tätigkeitsmotiv? [Seite 100]
4.8 - 2.8 Entwicklungslinien: Von den Motiven zu den Interessen [Seite 103]
4.9 - 2.9 Entwicklungsfenster: Ich habe meist das Gefühl, ich kann alles schaffen. Ein Interview [Seite 105]
4.10 - 2.10 Fragen zum Nach-Denken [Seite 107]
4.11 - 2.11 Tipps zum Nach-Lesen [Seite 107]
5 - 3 Diagnostik von Tätigkeitsmotiven als Motoren der Begabungsentwicklung [Seite 109]
5.1 - 3.1 Allgemeine Möglichkeiten zur Erfassung von Tätigkeitsmotiven [Seite 109]
5.2 - 3.2 Zur Erfassung der Neugier und des Explorationsverhaltens im Säuglingsalter [Seite 111]
5.3 - 3.3 Zur Messung der Wissbegier und des Erkundungsverhaltens im Kleinkind- und Vorschulalter [Seite 111]
5.3.1 - 3.3.1 Vorbemerkungen zur Verfahrenskonstruktion [Seite 111]
5.3.2 - 3.3.2 Die Vorschul-Erzieher/innen-Checkliste - VEC [Seite 112]
5.4 - 3.4 Zur Messung der Wissbegier und des Erkundungsverhaltens im Grundschulalter [Seite 117]
5.4.1 - 3.4.1 Die Skala Schöpferische Tätigkeiten für das Primarschulalter - SST-P [Seite 117]
5.4.2 - 3.4.2 Das Handlungsverfahren Schöpferische Tätigkeiten für das Primarschulalter - HST-P [Seite 121]
5.5 - 3.5 Diagnostik des Erkenntnisstrebens und der Informationssuche im Sekundarschulalter [Seite 125]
5.5.1 - 3.5.1 Der Fragebogen Erkenntnisstreben - FES [Seite 125]
5.5.2 - 3.5.2 Das Bilderverfahren Erkenntnisstreben - BVE [Seite 133]
5.6 - 3.6 Interessendiagnostik und Hochbegabung [Seite 137]
5.7 - 3.7 Zur Diagnostik der Bezugsnorm-Orientierung [Seite 139]
5.8 - 3.8 Fragen zum Nach-Denken [Seite 141]
5.9 - 3.9 Tipps zum Nach-Lesen [Seite 141]
6 - 4 Motivationsförderung bei Kindern und Jugendlichen [Seite 143]
6.1 - 4.1 Vorbemerkungen [Seite 143]
6.2 - 4.2 Zur Förderung der Neugier und des Explorationsverhaltens in Familie und Kindergarten [Seite 143]
6.2.1 - 4.2.1 Interaktionsstudien [Seite 143]
6.2.2 - 4.2.2 Spiel [Seite 146]
6.2.3 - 4.2.3 Probleme der Frühförderung [Seite 149]
6.2.4 - 4.2.4 Fragen zum Nach-Denken [Seite 152]
6.2.5 - 4.2.5 Tipps zum Nach-Lesen [Seite 152]
6.3 - 4.3 Förderung von Wissbegier und Erkenntnisstreben bei begabten Schüler/innen in der Schule [Seite 153]
6.3.1 - 4.3.1 Vorbemerkungen [Seite 153]
6.3.2 - 4.3.2 Missverständnisse der Begabtenförderung [Seite 154]
6.3.3 - 4.3.3 Aufgabenfelder der Motivationsförderung [Seite 158]
6.3.4 - 4.3.4 Fragen zum Nach-Denken [Seite 179]
6.3.5 - 4.3.5 Tipps zum Nach-Lesen [Seite 179]
7 - 5 Das Wichtigste kurz zusammengefasst [Seite 181]
8 - Anhang [Seite 191]
9 - Literatur [Seite 203]
10 - Der Autor [Seite 215]
11 - Register [Seite 217]
2 Motivationspsychologische Grundlagen der Begabung
2.1 Begabung, Motivation und Expertise
Am Ende der Grundschulzeit (4. Klasse) ist die Intelligenzentwicklung zwar noch nicht abgeschlossen, hat sich aber (falls eine förderliche Umwelt vorhanden war) hinsichtlich der individuellen Position in der Gesamtbevölkerung weitgehend stabilisiert (Stern & Neubauer, 2013, S. 131). Die Tätigkeitsmotivation entwickelt sich in dieser Altersstufe gerade von der Wissbegier zum Erkenntnisstreben weiter. Faktorenanalysen bei unterschiedlichen Stichproben zeigen, dass man beim Erkenntnisstreben stets mit drei Faktoren zu rechnen hat (Lehwald, 1985; siehe Kapitel 3: Diagnostik): dem Interesse am selbständigen Kenntniserwerb, der intrinsisch gefärbten kognitiven Anstrengungsbereitschaft und der affektiv-emotionalen Zuwendung zu Problemen.
Die Leistungsmotivationsentwicklung hat am Ende der vierten Klasse Gütemaßstäbe für Erfolg und Misserfolg hervorgebracht: Die Kinder können ohne weiteres eine Beziehung zwischen Tüchtigkeit und Aufgabenschwierigkeit herstellen, und sie können sachgerecht attribuieren (internal, external). Damit sind gute Voraussetzungen für die erweiterte Begabungsentwicklung gegeben (vgl. Unterkapitel 1.7). Jetzt wird es Zeit, Begabungsmodelle vorzustellen und den Begabungsbegriff weiter zu spezifizieren.
Ziegler (2000, S. 97ff.) unterscheidet Komponentenmodelle, Expertiseansätze und kombinierte Modelle von Expertise- und Begabungsförderung. Bei den Komponentenmodellen wird eine günstige Ausprägung einzelner oder mehrerer stabiler Personenmerkmale als Voraussetzung von Leistung angesehen. In der Gesamtheit stellen sie das Potential eines Menschen dar. Bekannte Modelle sind die von Joseph Renzulli, Franz Mönks (Abbildung 2-1) und auch Kurt Heller (eine gute Übersicht, auch über die Forschungsgeschichte dieser Modelle, geben Heller & Mönks, 2014).
Das Triadische Interdependenzmodell setzt hohe intellektuelle Fähigkeiten, Motivation und Kreativität ins Verhältnis. Die Schnittmenge ergibt die Hochbegabung bzw. Hochleistung. Diese steht mit den Sozialisationsfeldern Familie, Freunde und Schule in Verbindung und wird dort gebrochen. Unter "Motivation" versteht Mönks, ähnlich wie Renzulli, eine Aufgabenverpflichtung, welche Anstrengungsbereitschaft und emotionale Komponenten miteinschließt. Damit entspricht sie dem, was wir als "Tätigkeitsmotivation" beschreiben.
Auch im Münchner Hochbegabungsmodell (Heller, 1992) wird explizit die Motivation genannt. Bei glücklicher Kombination der Basisintelligenz mit den Umweltfaktoren und mit Persönlichkeitsmerkmalen kann eine exzellente Leistung hervortreten. Hochbegabt ist die Person, welche über hervorragende basale (angeborene) und stabile intellektuelle Fähigkeiten verfügt. Begabung lässt sich den Komponentenmodellen zufolge allerdings nur in festgelegten Grenzen steigern. Sie wird hier eher als Potential gesehen; nicht in jedem Fall kann man sicher sein, dass eine Verknüpfung dazu führt, eine eminente Leistung hervorzubringen. Falls das nicht geschieht, geht die Suche nach stringenten Merkmalen weiter, bis eine halbwegs vernünftige Kombination gefunden ist. Fazit: Das Potential eines Menschen muss nicht in jedem Fall zu außergewöhnlichen Leistungen führen.
Hieran setzen in jüngster Zeit Expertiseansätze mit ihrer Kritik an. Sie verstehen sich als kognitionspsychologisch orientierte Alternative zu den traditionell orientierten Begabungstheorien. Im Mittelpunkt steht nicht das Potential, sondern effektive Lernprozesse. In einigen Veröffentlichungen wird der Einfluss der individuellen Lernvoraussetzungen sogar als gering eingeschätzt. Außergewöhnliche Expertenleistungen sind nicht von den angeborenen Basisfähigkeiten determiniert, wie es die Komponentenmodelle beschreiben, sondern hauptsächlich von bereichsspezifischen Fertigkeiten. Unter einem Experten verstehen die Expertiseforscher eine Person, die auf einem Gebiet (Domäne) nachweislich und über einen längeren Zeitraum herausragende Leistungen erzielt. Ein hoher Grad von Expertise ist nur mit einer umfangreichen Wissensbasis und reichhaltigen Erfahrungen zu erreichen (Gruber, 2007, S. 96). Zur Leistungsverbesserung bedarf es intensiver Lerntätigkeiten auf dem Domäneschwerpunkt (die sogenannte deliberate practice). Allerdings meinen einige Expertiseforscher, solche lernintensiven Übungen seien aversiv und wenig freudvoll. Die Lernenden betrachten sie als notwendiges Übel zur Steigerung der Performanz (Gruber & Lehmann, 2014, S. 357).
Diese Einschätzung können wir nicht nachvollziehen. Intensive Lernübungen bedürfen tätigkeitsmotivierender Unterstützung; andernfalls wäre der Weg vom Novizen zum Experten eine erbarmungslose Sache. Gerade die Freude und das mitspielende Flow-Erleben scheint uns ein wichtiger Antrieb zu sein, eine Domäne beherrschen zu wollen. Die Expertiseforschung meint ja selbst, dass jeder, der gut motiviert ist, den Expertenstatus erreichen kann. Begabung lässt sich ihrer Meinung nach durch intensives Lernen und Üben beliebig steigern.
Leider hat sich die Expertiseforschung durch Einfügen immer neuer Annahmen von der traditionellen Begabungsforschung entfernt und stellt sich heute als relativ artifiziell dar. Man kann Gruber und Mandl (1992) nur zustimmen, dass sich beide Zweige der Begabungsforschung aufeinander zubewegen müssen. Schon beim Thema "Wunderkinder" gebe es Möglichkeiten, sich zu ergänzen.
Ein Wunderkind ist eine extreme Variante eines talentierten Individuums, das sich in einem strukturierten Wissens- und Verhaltensbereich auf Erwachsenenniveau bewegt (Stamm, 2014, S. 180). Alle Versuche, diese früh spezialisierten Begabungen mit traditionellen Begabungsmodellen hinreichend zu erklären, sind gescheitert. Der Weg des Wunderkindes ist nicht vorgezeichnet, denn die Begabungen entwickeln sich nicht kontinuierlich. Viele später Hochbegabte waren in der frühen Kindheit völlig unauffällig (Csikszentmihályi, 2015). Aber auch die gegenläufige Entwicklung findet sich: Viele Wunderkinder mit erstaunlichen Anlage entwickelten sich nicht weiter und blieben in ihrer Entwicklung stehen (Winner, 2007). Sie können ihr Potential nicht mehr zur Geltung bringen.
Hier gäbe es für traditionelle Begabungsforscher und Expertiseforscher eine gute Möglichkeit der Zusammenarbeit. Wie sieht die Domänenstruktur eines Wunderkindes aus? Wie nehmen Wunderkinder in den sensiblen Phasen Wissen auf? Gibt es Besonderheiten in der Intelligenzstruktur? Wie verläuft das individuelle Training? Gibt es Besonderheiten in der Tätigkeitsmotivation? Es gäbe genug zu tun. In einige Modellvorstellungen ist dieser neue Geist schon eingezogen. Synthetisierte Vorstellungen gibt es bereits. Sie halten die Lernunterstützung beim Entwickeln von Begabungen für überaus bedeutsam.
Das Münchner Begabungs-Prozess-Modell (Ziegler & Perleth, 1997), das wir nun darstellen, enthält neben Begabungsfaktoren auch domänenspezifische Vorkenntnisse und den Nachweis eines zielgerichteten Lernprozesses (vgl. Abbildung 2-2). Es gehört zu den kombinierten Begabungs- und Expertisemodellen. Eine Person ist dann intellektuell hochbegabt, wenn sie sich durch intensives Üben schnell und effektiv deklaratives und prozedurales Wissen aneignen kann, dieses Wissen in variierenden Situationen zur Lösung individuell neuer Probleme adäquat einsetzt, rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen lernt und erkennt, auf welche neuen Situationen bzw. Problemstellungen die gewonnenen Erkenntnisse transferierbar sind und auf welche nicht (Rost, 2010, S. 235).
Aus diesem Modell (Abbildung 2-2) lassen sich einige Schlussfolgerungen für die praktische Motivationsförderung Begabter ableiten. Erstens scheint es wichtig, Lehrkräften den engen Zusammenhang deutlich zu machen, der bei Begabten zwischen Vorwissen und Motivation besteht (Ziegler, 2000). Es kommt darauf an, die Entwicklungsanreize zu bieten, die für die jeweilige Begabungsstruktur notwendig sind. Erst dann kann Differenzierung gelingen. Sehr wichtig sind für außergewöhnliche Leistungen zweitens die außerschulischen Interessen. Hier lassen sich die notwendigen Übungszeiten (deliberate practice) beim Übergang zum Expertentum spielerisch angehen. Langfristiges Ziel ist es, die außerschulischen Inhalte zu curricularen Lerninhalten werden zu lassen und in ein schulisches Enrichment überzuführen. Drittens sind stets die unterschiedlichen Entwicklungswege Begabter zu beachten. Motive können sich mit Begabungspotentialen verbünden, so dass der Begabte sein Leistungspotential voll ausschöpfen kann. Es gibt aber auch Fälle, in denen Tätigkeitsmotive depraviert werden, so dass Begabte zu Minderleistern (Underachievern) werden können. Wir gehen im folgenden Unterkapitel (2.2) darauf ein.
Zusammenfassung
In den letzten Jahren hat sich in der Begabungsforschung eine neue Richtung entwickelt: die Expertiseforschung. Sie will die traditionellen Vorstellungen von Begabung ergänzen. Außergewöhnliche Leistungen werden nach Auffassung der Expertiseforscher/innen nicht ausschließlich von angeborenen Basisfähigkeiten determiniert, sondern hauptsächlich von bereichspezifischen Fähigkeiten. Solche bereichsspezifischen Fähigkeiten bauen sich durch langandauernde und intensive Übung auf (deliberate practice) und führen zur Meisterung einer Domäne. Dabei spielt das Vorwissen eine determinierende Rolle. Die Expertiseforschung hebt in besonderer Weise die...