Schweitzer Fachinformationen
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Die Frau stand am Straßenrand. Die hochhackigen Vinylstiefel endeten eine Handbreit unter dem Saum ihres Minirocks, das enge Top verhüllte kaum ihre Brüste. Ihr Lächeln wirkte verführerisch, aber auch unsicher: Sie konnte nie wissen, was für ein Typ der nächste Freier war. Plötzlich hielt ein Wagen. Am Steuer saß Richard Gere.
Ich schaltete um. Zum dritten Mal «Pretty Woman», nein danke. Die Alternativen waren allerdings auch nicht berauschend: Zeitfahren in der Formel 1, Reality-TV-Abenteuer, ein Quiz, bei dem es hauptsächlich darum ging, die Teilnehmer miteinander zu verkuppeln. Ich trank meinen Tee aus und schaltete den Fernseher ab.
Die Kinder schliefen längst. Ich vergewisserte mich, dass sie atmeten. Venjamin, unser drei Monate altes Katzenbaby, hatte sich am Fußende von Iidas Bett zusammengerollt und fauchte leise, als ich es hinter dem Ohr kraulte. Ich fühlte mich einsam. Ich rief Antti an, aber er hatte das Handy ausgeschaltet, obwohl es erst halb zehn war.
Meine Freunde wollte ich um diese Zeit nicht mehr stören, denn sie hatten entweder kleine Kinder oder mussten morgens früh raus.
Mit fiel nichts Besseres ein, als Koivu anzurufen, der an diesem Abend den Bereitschaftsdienst für unser Dezernat versah. Er war ein paar Jahre jünger als ich und nicht nur mein Kollege, sondern auch ein guter Kumpel. Wir arbeiteten schon seit Jahren zusammen, zuerst in Helsinki, dann in Nordkarelien und jetzt in Espoo.
«Maria hier, grüß dich. Liegt was Besonderes an?»
«Ein Notruf, zu den Janatuinens in der Aapelinkuja. Ist ja auch schon einen Monat her, seit wir zuletzt da waren. Beide stockbesoffen. Jetzt hocken sie in der Ausnüchterungszelle, die Kinder haben wir wieder mal ins Heim gebracht. Kann man den Alten nicht endlich das Sorgerecht entziehen?»
«Wenn die Eltern morgen früh wieder in Reue zerfließen und niemand Anzeige erstattet und wenn .»
«Ja, ja», seufzte Koivu. «Ist das Recht der Eltern in diesem Land wirklich so unumstößlich, dass man nichts für die Kinder tun kann?»
Ich gab ihm keine Antwort. Über dieses Thema hatten wir schon oft gesprochen. Mein Kollege und seine Frau Anu Wang-Koivu, die auch Polizistin war, hatten sich in kurzen Abständen drei Kinder zugelegt, das jüngste war erst zwei Monate alt. Die Vaterrolle hatte Koivu gegenüber allem, was Kinder betraf, dermaßen übersensibel gemacht, dass ich ihn gelegentlich beschwichtigen musste.
«Sonst gibt es nichts?»
«Doch, eine schlimm zugerichtete Frau. Sie ist in die Klinik eingeliefert worden, mit Schnittwunden am ganzen Körper, im Gesicht und an den Geschlechtsorganen. Keine Ausweispapiere, versteht offenbar kein Finnisch. Das Klinikpersonal vermutet, dass sie aus Russland oder einem der Nachbarländer stammt. Bevor die Narkose einsetzte, hat sie etwas geschrien, das sich russisch oder so ähnlich anhörte. Es hat fast zwei Stunden gedauert, die Wunden zu nähen.»
«Wo wurde sie gefunden?»
«Auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Espooer Zentrums. Ein Hund hat beim Gassigehen das Blut gerochen. Nach Spuren wird noch gesucht.»
Ich dachte an die Filmszene, die ich gerade gesehen hatte. «Wie war sie gekleidet?», fragte ich.
«Winterstiefel und Pelzmantel», erwiderte Koivu. «Darunter gar nichts, nicht mal Unterwäsche.»
Seltsam. Wenn es sich um eine Prostituierte handelte, die von ihrem Zuhälter misshandelt worden war, stellte sich die Frage, warum er ihr Mantel und Stiefel angezogen hatte, statt sie nackt in der eiskalten Märznacht liegen zu lassen. Hatte er der Frau nur einen Denkzettel verpassen wollen und war, aus welchem Grund auch immer, zu weit gegangen?
«Bist du noch dran?», riss mich Koivus Stimme aus meinen Gedanken. «Die Ärzte meinen, wir können die Frau morgen vernehmen. Von einem Unfall stammen die Verletzungen nicht, so viel steht fest.»
«Dann bestell schon mal einen Dolmetscher. Bist du auch für die Frühschicht eingeteilt?»
«Ja. Wann kann ich eigentlich meine Überstunden abfeiern?»
«Du weißt doch, was bei uns los ist.»
Ich legte auf und schimpfte leise vor mich hin. In unserem Dezernat waren zwei Stellen unbesetzt. Lähde, der schon länger im Haus war als ich, bezog seit Anfang des Jahres Erwerbsunfähigkeitsrente, die zweite Stelle stand bereits seit zwei Jahren offen. Ursula Honkanen hatte nur eine befristete Anstellung, die alle drei Monate verlängert wurde, bis Anu Wang-Koivu aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam.
Die Senkung der Alkoholsteuer hatte zu einem Anstieg der Gewaltdelikte geführt, bei der Drogenkriminalität sah es noch schlimmer aus, aber nur für die Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen wurden mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt. Geld war den Verantwortlichen wichtiger als das Wohlergehen der Menschen.
Ich streckte mich auf der Fensterseite des Doppelbetts aus. Anttis Hälfte war leer. Wegen seines Forschungsauftrags in Vaasa war er schon seit längerem zwei Nächte pro Woche nicht zu Hause, und in letzter Zeit dehnte sich sein Aufenthalt in Vaasa immer länger aus. Das Forschungsprojekt befand sich in einer interessanten Phase, außerdem hatte er immer wieder Kongressvorträge zu halten. Die Pilotstudie der Universität Vaasa hatte internationales Aufsehen erregt. Eine Forschergruppe am Institut für Wirtschaftswissenschaft versuchte, ein Modell über die langfristigen Auswirkungen der Globalisierung auf die finnische und die Weltwirtschaft zu erarbeiten, wobei verschiedene Steuer- und Zollsysteme verglichen wurden. Obwohl Antti sich eigentlich auf die Kategorientheorie spezialisiert hatte, empfand er die angewandte Mathematik als angenehme Abwechslung. Er hatte das Gefühl, eine wichtige Arbeit zu leisten, denn die Resultate konnten genutzt werden, um eine gerechtere Verteilung des weltweiten Kapitalflusses zu erreichen. Aber so sinnvoll seine Aufgabe auch war, vor Heimweh schützte sie ihn nicht.
Als ich endlich einschlief, träumte ich von Julia Roberts und der misshandelten Frau im Schnee. Irgendwann spürte ich, wie Venjamin an meinen Zehen kaute, die unter der Bettdecke hervorlugten.
Um sieben zwang mich der Wecker zum Aufstehen. Ich brachte den vierjährigen Taneli in die Kita und begleitete Iida und ihre Freundin Saara, die in die zweite Klasse gingen, zur Schule, denn auf dem Weg dorthin gab es zwei gefährliche Kreuzungen. Außerdem tat es mir gut, ein Stück zu Fuß zu gehen. Es war fast Mitte März, aber immer noch winterlich. Selbst die Nachmittagssonne trieb die Temperatur nicht über den Gefrierpunkt, und es lag noch genug Schnee zum Skilaufen.
Der Besprechungsraum im Präsidium bot den gewohnten Anblick. Ursula war perfekt geschminkt, Puustjärvi stürmte in letzter Minute herein, weil er im Stau stecken geblieben war wie jeden Morgen. Zum x-ten Mal fragte ich mich, warum er nicht einfach fünf Minuten früher losfuhr. Koivu sagte gähnend, er habe im Pausenraum ein paar Stunden geschlafen. Puupponen biss in einen Berliner. Er verdrückte täglich Unmengen von fetttriefenden Speisen und nahm trotzdem kein Gramm zu. Autio trug einen neuen Schlips, dessen blaue Streifen gut zum braunen Anzug passten.
«Ursula, du übernimmst die Familie Janatuinen und sprichst mit dem Sozialamt über die Möglichkeit, die Kinder in Obhut zu nehmen. Koivu, was ist mit der Frau in der Klinik? Nennen wir sie vorläufig Frau X. Hast du einen Dolmetscher organisiert?»
«Sieht schlecht aus. Von den zwei Dolmetschern für Russisch ist der eine krankgeschrieben und der andere leihweise in Vantaa. Vielleicht probier ich es mit Englisch oder bitte in der Klinik um Amtshilfe. Vermutlich muss ich den Fall übernehmen, oder?»
Ich lächelte. Sprachkenntnisse waren nicht unbedingt Koivus starke Seite.
«Hier sind übrigens ein paar Fotos.» Koivu schaltete den Computer ein. Puupponen legte seinen zweiten Berliner beiseite, denn gleich die erste Aufnahme zeigte ein weibliches Geschlechtsorgan mit einer bis zum Anus reichenden Schnittwunde. Auch an beiden Brüsten hatte die Frau tiefe Wunden, und im Gesicht zog sich ein Schnitt vom rechten Auge bis zum Mundwinkel. Ich bemühte mich, die Bilder kühl und aufmerksam zu betrachten, obwohl es in meinem Körper unangenehm kribbelte.
«Ein Linkshänder», sagte Puupponen spontan, aber ich war mir dessen nicht so sicher. Möglicherweise hatte der Täter ja hinter seinem Opfer gestanden. Puupponen neigte zu übereilten Schlussfolgerungen und benahm sich oft wie ein kleiner Junge. Seine Manie, über alles und jedes Witze zu reißen, hatte sich in letzter Zeit allerdings gelegt; manchmal vermisste ich seine Kalauer sogar.
Die Frau war zierlich und, soweit man aus den Fotos schließen konnte, höchstens zwanzig. Alle Verletzungen befanden sich an der vorderen Körperhälfte.
«So hat der Fundort ausgesehen», fuhr Koivu fort. «Gestern herrschte ziemlich starker Frost. Der Schnee war verharscht, Fußspuren waren deshalb kaum zu finden. Die Streifenbeamten, die vor Ort waren, meinen, dass die Frau nicht an der Fundstelle misshandelt wurde, denn auf der Schneedecke waren keine Blutspritzer zu sehen.»
Das Foto zeigte eine flache, von einer dünnen Schneeschicht bedeckte Parzelle unmittelbar an der Straße. Eine Leichtigkeit, dort jemanden aus dem Auto zu stoßen.
«Aber warum hat man sie ausgerechnet da abgelegt? Um sie erfrieren zu lassen? Oder damit sie gefunden wird?», überlegte Puupponen.
«Man hat der Kleinen das Werkzeug zerschnippelt, aus Rache», stellte Ursula ungerührt fest. «Seltsam ist nur, dass sie anschließend nicht eingesperrt wurde. Normalerweise halten die Zuhälter ihre Pferdchen unter Verschluss, bis sie wieder gesund...
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