Schweitzer Fachinformationen
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Seit einigen Monaten hatte ich häufig Albträume. Alles, was mir in meinem Leben widerfahren war, kehrte im Traum wieder. Der Lauf eines Elchgewehrs drückte gegen meine Brust, und kaum war er verschwunden, sah ich einen explodierenden Briefkasten, der zusammen mit meiner Tochter Iida in die Luft geschleudert wurde. In manchen Träumen war es dunkel, und ich kämpfte mich mit letzter Kraft eine Leiter hoch, denn im Schacht unter mir würde gleich eine Bombe hochgehen. Im schlimmsten Albtraum hielt mir jemand eine mit Zyanid gefüllte Spritze an die Halsschlagader, und ich bekam keine Luft .
Davon wurde ich meistens wach, aber ich brauchte eine ganze Weile, um zu begreifen, dass es nur Träume waren, von der Phantasie verfremdete Erinnerungen an das, was ich bei meiner Arbeit erlebt hatte. Es wunderte mich, dass die Träume erst einsetzten, nachdem ich den Polizeidienst quittiert hatte. War meine Psyche einfach nicht bereit gewesen, Albträume hinzunehmen, solange mir im Alltag jederzeit etwas zustoßen konnte? Ich hatte erst nachträglich eingesehen, dass ich mich auf die Fälle, die ich untersuchte, emotional viel zu sehr eingelassen hatte. Als Ermittlungsleiterin hätte ich distanzierter sein, Abstand von den Verdächtigen halten und mich auf das Gesamtbild konzentrieren müssen. Aber es hatte mir Spaß gemacht, Vernehmungen zu führen und mit Menschen zu tun zu haben. Vielleicht war der Posten der Kommissarin und Dezernatsleiterin von Anfang an nicht das Richtige für mich gewesen, oder besser gesagt, ich war die falsche Person für diesen Job. Bei meiner neuen Arbeit hatte ich viel eher das Gefühl, am richtigen Platz zu sein.
Als ich aus meinem Traum aufschrak, schien die Sonne. Es war ein Morgen im Frühherbst, zehn Minuten nach sechs, der Wecker würde erst um halb acht klingeln. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu entspannen, doch die Traumbilder gingen mir nicht aus dem Sinn. Es ist vorbei, betete ich mir vor. Du brauchst nicht mehr zurück.
Meine Stelle als Hauptkommissarin und Leiterin des Gewaltdezernats bei der Espooer Polizei hatte ich schon vor einigen Jahren gekündigt, mit klaren Zukunftsplänen: Meine Freundin und ehemalige Kommilitonin Leena Viitanen-Ruotsi hatte ihre Tante beerbt, und wir wollten gemeinsam eine auf Rechtshilfe für Minderbemittelte spezialisierte Anwaltskanzlei gründen, die wir unter uns «Allus Engel» nannten. Leena gehörte dem Anwaltsverband an, und ich würde die Aufgaben übernehmen, die keine Mitgliedschaft voraussetzten. Ich erholte mich damals gerade von einer Körperverletzung, der ich im Zuge meiner Ermittlungen in einer Mordserie zum Opfer gefallen war. Selbst als ich die Kündigung einreichte, war mir noch nicht vollkommen bewusst gewesen, wie stark mich die Attacke erschüttert hatte.
Ein Berufswechsel war die einzige denkbare Lösung gewesen. Leena und ich hatten im Frühjahr und in den ersten Sommerwochen mit glühendem Eifer Pläne geschmiedet, bis das Leben wieder einmal mit einer unangenehmen Überraschung aufwartete. Am Wochenende nach Mittsommer war Leenas Familie mit dem Bus zum Sommerhaus ihres Bruders in Bromarv gefahren. Leena war noch mit mir bei einem Konzert gewesen und wollte am Abend mit dem Wagen nachkommen. Erst gegen Mitternacht war sie in Helsinki losgefahren. Bei Västankvarn war ihr ein Fahrer entgegengekommen, der sich vor der Fahrt eine Flasche Schnaps hinter die Binde gegossen hatte. Obwohl Leena auszuweichen versuchte, waren die beiden Autos zusammengestoßen. Im Gegensatz zu dem Betrunkenen hatte Leena den Unfall überlebt, doch das war ein magerer Trost. Meine Freundin war von der Taille abwärts gelähmt und musste eine Reihe von Operationen über sich ergehen lassen. Ob sie je wieder laufen könnte, war ungewiss. Sie hatte mich sofort gebeten, meine Zukunftspläne nicht von der Hoffnung auf ihre Genesung abhängig zu machen.
So stand ich also ohne Job da. Nach der Karenzzeit bekam ich Arbeitslosengeld, aber ich hatte nicht die Absicht, lange untätig zu bleiben. Kurz nach dem Unfall hatte sich mein ehemaliger Chef Jyrki Taskinen gemeldet und gefragt, ob ich nicht zur Polizei zurückkehren wolle. Im Dezernat für Wirtschaftskriminalität sei eine Stelle frei. Ich hatte ihn ausgelacht, natürlich in aller Freundschaft. In Fragen der Wirtschaftskriminalität war ich trotz meiner juristischen Ausbildung nicht kompetent. Jyrki hätte das eigentlich wissen müssen.
Auch andere ehemalige Kommilitonen erfuhren von dem Schicksalsschlag. Leena wurde mit Zuspruch überschüttet; bei mir wiederum meldete sich Mikko Rajajoki, Leitender Referent im Innenministerium, der zur gleichen Zeit mit dem Jurastudium begonnen hatte wie Leena und ich.
«Hallo, Maria! Ich hab neulich mit Lasse und Kristian Squash gespielt.»
«Die alte Clique, wie?» Auch Lasse Nordström und Kristian Ljungberg waren ehemalige Studienkollegen, mit Kristian war ich sogar eine Zeitlang liiert gewesen.
«Ja. Wie man hört, bist du momentan frei, ich meine stellungslos.»
«Stimmt. Nicht alle haben Kristians Talent, Karriere zu machen.»
«Oder Kristians Beziehungen. Wegen Beziehungen rufe ich dich auch an, du bist nämlich genau die Person, die ich suche. Bei der Espooer Polizei hast du doch auch Fälle von Gewalt in der Familie untersucht?»
«Davon gab es mehr als genug, leider.»
«Wir sind im Innenministerium gerade dabei, ein Forschungsprojekt über häusliche Gewalt zu starten, bei dem zunächst die vielfältigen Erscheinungsformen kartiert und dann wirksame Präventivmaßnahmen entwickelt werden sollen», begann Mikko und hielt mir anschließend einen viertelstündigen Vortrag darüber, dass Gewalt gegen Kinder, vor allem wenn sie von den Müttern ausging, überhaupt nicht wahrgenommen wurde, sie war ein gesellschaftliches Tabu. Damit hatte er leider recht. Die Forschung über familiäre Gewalt war teilweise politisiert, sie wurde sowohl von Frauenverbänden in Beschlag genommen als auch von den Aktivisten der Männerbewegung, die der Ansicht waren, sie wären die Sündenböcke und über die Gewalt von Frauen werde hinweggesehen.
All das wusste ich, aber ich ließ Rajajoki reden. Ich hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, eine Lizentiatenarbeit zu schreiben und an der Uni einzureichen; vielleicht würde ich bei diesem Projekt geeignetes Material finden. Also fragte ich Mikko, ob ich die Ergebnisse auch akademisch nutzen dürfte. Er meinte, dem stehe nichts im Wege. Die Untersuchung schien mir sinnvoll, denn der Kampf gegen familiäre Gewalt war eigentlich erst nach der Jahrtausendwende ernsthaft aufgenommen worden.
Nach kurzer Arbeitslosigkeit wurde ich also wieder Beamtin des Innenministeriums, diesmal aber forschte ich nicht kriminalistisch, sondern wissenschaftlich. Außer mir waren ein Sozialarbeiter und eine Psychologin an dem Projekt beteiligt. Wir arbeiteten auch mit der Polizeischule zusammen, die bald darauf zur Polizeifachhochschule, kurz PFHS, aufgewertet wurde. Mir fiel die Aufgabe zu, Lehrgänge zur Erkennung von Gewalt im sozialen Nahraum zu halten, die jedes Frühjahr an der PFHS stattfanden. Sie richteten sich teils an Polizeischüler, die kurz vor dem Abschluss standen, teils waren sie als Fortbildung für berufserfahrene Polizeibeamte konzipiert. Die Schule hatte sich seit meiner Zeit verändert, doch in der Kantine arbeitete immer noch die netteste Kassiererin der Welt, die sich selbst nach zwanzig Jahren noch an mich erinnerte. Man munkelte, dass sie alle Absolventen der Polizeischule mit Namen kannte und wusste, wer nach der Ausbildung wo gelandet war.
«Ich kann gut verstehen, dass du zur Abwechslung etwas anderes tun willst», nickte sie mir zu, als ich meine Portion Pasta mit Gemüse bezahlte. «Als Polizistin darf man nicht zu viel grübeln, man muss einfach nur Verbrechen aufklären. Das scheinst du manchmal vergessen zu haben.» Als ich leicht verwirrt lächelte, erklärte die Frau, sie habe meine Laufbahn genau verfolgt.
Während ich mein Mittagessen verzehrte, gestand ich mir ein, dass sie recht hatte. Ein Polizist konnte nicht völlig gefühllos sein, aber unparteiisch musste er bleiben, und gegen diese Regel hatte ich allzu oft verstoßen. Jetzt bestand meine Aufgabe darin, mit streng wissenschaftlicher Genauigkeit Informationen über das menschliche Verhalten zu sammeln. Ich brauchte nicht in das Leben meiner Forschungsobjekte einzugreifen, ich musste lediglich ruhig zuhören und Notizen machen. Dennoch meldete sich mein früheres Leben in Form von Albträumen, als wollte es mir klarmachen, dass ich alles, was ich erlebt hatte, bis an mein Lebensende mit mir tragen würde.
Auch mein Mann Antti war weiterhin als Forscher tätig; er hatte eine dreijährige Anstellung an der Akademie Finnlands bekommen. Sein aktuelles Projekt vertrat die weltverbessernde Richtung der Mathematik, mit der er sich schon beim Globalisierungsprojekt der Universität Vaasa befasst hatte. Die Akademie finanzierte ein multidisziplinäres Forschungsprojekt, bei dem es um die Frage ging, wie man den Schwerpunkt der Besteuerung von der Einkommens- auf die Umwelt- und Konsumsteuer verlagern konnte und welche Auswirkungen dies auf die finnische Volkswirtschaft hätte. Antti war von dem Projekt begeistert.
«Ich war immer schon der Meinung, dass Mathematik eine politische Wissenschaft ist. Zwei plus zwei ergibt immer vier, aber die Zahlen sind trotzdem nicht neutral. Man kann fragen, wem die zwei plus zwei gehören. Kommt die eine Zwei zum Beispiel von jemandem, der sechs hat, und die andere von einem, der nur drei besitzt?»
Wir fühlten uns also beide wohl bei unserer Arbeit, und unsere Kinder freuten sich, weil wir viel öfter zu Hause waren als früher....
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