Schweitzer Fachinformationen
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Guck dir das an, Maria, ist das nicht eine klare Sache?», drängte Koivu. Es war am späten Vormittag meines zweiten Arbeitstages, als er endlich dazu kam, mir die Serie der Vermisstenfälle zu präsentieren, die ihm verdächtig erschien. Ich saß mit ihm und Puupponen in meinem neuen Dienstzimmer. Die beiden Männer teilten sich den angrenzenden großen Raum, der je nach Bedarf als Ermittlungszentrum oder als Besprechungsraum verwendet werden konnte. In meinem Dienstzimmer fanden außer dem Schreibtisch eine Couch, ein Sofatisch und ein Sessel Platz. Koivu stand am Flipchart und schrieb. Dann befestigte er das Foto eines Mädchens an der Pinnwand. Das Kopftuch ließ nur das Gesicht mit den lebhaften Augen frei, die Lippen waren ganz leicht geschminkt.
«Der erste Fall, am zweiten Januar. Aziza Abdi Hasan, siebzehn Jahre alt, aus Afghanistan. Vor vier Jahren nach Finnland gekommen, die Familie hat eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Aziza hat in Leppävaara die achte Klasse besucht, ist also nach diesem Schuljahr noch ein Jahr lang schulpflichtig. Sie ist mit Abstand die Älteste in ihrer Klasse, was an ihren lückenhaften Sprachkenntnissen und der fehlenden Grundschulausbildung liegt - sie ist erst hier in Finnland eingeschult worden, konnte vorher nicht einmal lesen. Wenn man das in Betracht zieht, hat sie sehr gute Fortschritte gemacht. Nach Aussage ihrer Eltern ist sie in den Weihnachtsferien mit einem Onkel zu Verwandten in Stockholm gefahren. Als sie nach den Ferien nicht zur Schule kam und die Familie keine Auskunft über ihren Verbleib geben konnte, hat das Schulamt Vermisstenanzeige erstattet. Die finnische Botschaft in Stockholm hat sich mit der dortigen Polizei in Verbindung gesetzt, die daraufhin die Verwandten vernommen hat. Weder Aziza noch ihr Onkel ist dort aufgetaucht. Der Onkel hat die schwedische Staatsbürgerschaft und ist den Passagierlisten zufolge am siebenundzwanzigsten Dezember mit dem Schiff nach Finnland gekommen. Über die Rückfahrt gibt es keinen Vermerk. Die schwedische Polizei hat die Fahndung eingeleitet. Übrigens hat die Familie auch in Dänemark Verwandte. Sollte das Mädchen mit Einverständnis seiner Angehörigen untergetaucht sein, decken sie sich gegenseitig.
Der zweite Fall, am fünfundzwanzigsten Januar. Sara Amir, bosnische Muslima, vierzehn Jahre alt, ebenfalls in der achten Klasse, aber an einer anderen Schule. Die gleiche Geschichte: Die Eltern haben keine Vermisstenanzeige erstattet. Die Schule hat sich mit dem Sozialamt in Verbindung gesetzt, das dann uns alarmiert hat. Die Eltern sagen, das Mädchen sei nach Bosnien zurückgekehrt, was sie allerdings nicht nachweisen können. Die Familie besitzt eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis und hat die finnische Staatsbürgerschaft beantragt. Ich war mit den Sozialarbeitern dort. Mikael Amir, der Vater, hat die anderen Familienmitglieder nicht zu Wort kommen lassen. Sara ist die einzige Tochter, das mittlere von fünf Kindern. Die Mutter sah verweint aus, hat aber nichts gesagt. Das Schulfoto ist vom letzten Jahr, dieses Jahr war Sara krank, als die Klassenfotos gemacht wurden.»
Auf dem Foto wirkte das Mädchen noch kindlich. Ihr Gesicht war hager und ernst, in den Augen lag Furcht. Ich hatte geglaubt, die bosnischen Muslime seien säkularisiert, aber Saras Kopftuch verbarg alle Haare und war unter dem Hals verknotet.
«Ich hätte gern unter vier Augen mit der Mutter gesprochen, aber das war nicht möglich. Der Vater hat beteuert, er würde die Polizei natürlich sofort informieren, wenn er erfährt, wo sich das Mädchen aufhält. Bisher haben wir nichts von ihm gehört.» Koivu rückte seine Brille zurecht. Er hatte sich kurz vor Weihnachten Bifokallinsen zulegen müssen.
«Der dritte Fall, am vierzehnten Februar. Ayan Ali Jussuf, aus dem Sudan, unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, wie ihre ganze Familie. Achtzehn Jahre alt, nicht mehr schulpflichtig und nach finnischem Gesetz volljährig. Keine Vermisstenmeldung seitens der Eltern. Ihre Freundinnen im Mädchenclub haben sich Sorgen gemacht, als Ayan sich nicht mehr blicken ließ. Die Eltern behaupten, sie wüssten von nichts. Beim Meldeamt ist auch kein Umzug registriert.»
«Und was verbindet diese Fälle?», fragte ich dazwischen.
«Keine dieser jungen Frauen hat das Land unter ihrem eigenen Namen per Schiff oder per Flieger verlassen. Es ist möglich, dass sie mit dem Auto nach Norden gefahren und bei Tornio-Haaparanta über die Grenze nach Schweden gereist sind, damit wären sie im Schengengebiet und nicht mehr aufspürbar. Möglicherweise haben sie aber auch falsche Papiere benutzt.»
«Und da meint Ruuskanen, es gebe keinen Grund, Ermittlungen anzustellen? Drei junge Muslimas aus Espoo verschwinden spurlos. Jeder halbwegs aufgeweckte Reporter würde einen Zusammenhang wittern. Wie kommt es, dass die Presse nicht darüber berichtet hat?»
«Die Familien wollten nicht in die Öffentlichkeit, und Ayans Freundinnen fürchten, dass Presseberichte Ayan schaden könnten. Allerdings ist sie volljährig, es kann durchaus sein, dass sie aus freien Stücken gegangen ist. Möglicherweise gilt das auch für Aziza und Sara, es kommt schließlich vor, dass Jugendliche ausreißen.»
«Gibt es Gerüchte im Internet?», fragte ich. Koivu schien den Fall der verschwundenen Mädchen sehr ernst zu nehmen. Daher vermutete ich, dass er trotz Ruuskanens Desinteresse auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hatte.
«Über Ayan wurde im Helmi-Portal diskutiert, aber der Systemadministrator hat die Beiträge entfernt, weil sie die Privatsphäre verletzten. Offenbar hat eine von Ayans Freundinnen aus dem Mädchenclub die Diskussion eröffnet. Es wurde gemunkelt, Ayan sei von ihrer Familie außer Landes geschickt worden, weil sie einen finnischen Freund hatte. Die Familie gibt jedoch an, nichts von einem Freund zu wissen; Ayan habe nur mit Mädchen Umgang. Als einer der Chatter behauptete, Ayan sei von ihrem älteren Bruder umgebracht worden, wurden die Beiträge entfernt. Ohne Untersuchungsbefehl konnte ich sie nicht anfordern.»
Das mehr als zehnjährige Zusammenleben mit Anu Wang-Koivu, die als vietnamchinesischer Flüchtling nach Finnland gekommen war, hatte Pekka vor Augen geführt, was es bedeutete, als Angehöriger einer ethnischen Minderheit in unserem Land zu leben. Anu war vollkommen integriert und sprach fließend und akzentfrei Finnisch, aber sie wurde nach wie vor auf Englisch angesprochen oder wie eine Schwachsinnige behandelt. Da Polizisten mit Migrationshintergrund immer noch spärlich gesät waren, wurde Anu häufig hinzugezogen, wenn es um Migranten ging, gleich welcher Herkunft oder Religion sie waren, obwohl sie selbst einen ganz anderen Hintergrund hatte als beispielsweise somalische Asylbewerber oder polnische Putzfrauen. Bei all dem war Koivu gegen Rassenfestlegungen äußerst allergisch geworden.
Puupponen trällerte eine bekannte Melodie, einen Folksong aus den sechziger Jahren. Sag mir, wo die Mädchen sind, so lauteten die Worte in seiner Version. Als Koivu ihm den Kuchenteller hinschob, grinste er und hörte auf zu singen.
«He, Leute, ist es in den muslimischen Ländern nicht ganz normal, dass Mädchen schon mit vierzehn verheiratet werden? Vielleicht hat man Sara und die anderen gezwungen, einen Vetter zu ehelichen, und sie deshalb irgendwohin gebracht, wo unsere Gesetze nicht gelten.» Puupponen drehte den Berliner in der Hand, ohne hineinzubeißen. Der rosa Zuckerguss verschmierte ihm die Finger.
«Eine Achtzehnjährige hätte man auch hier verheiraten können», wandte Koivu ein.
«Auch gegen ihren Willen? Vielleicht hat man sie zurück in den Sudan verfrachtet. Inzwischen hat sie einen neuen Namen, und ihre finnische Personenkennziffer ist nur noch eine blasse Erinnerung. Ein Paranoiker könnte auf die Idee kommen, wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun, der es auf junge Migrantinnen abgesehen hat. Ein ostfinnischer Realist wie ich glaubt nicht so leicht an derartige Theorien. Ich kann gut verstehen, dass Ruuskanen keinen Wind um die Sache machen wollte. Das wäre doch ein gefundenes Fressen für alle möglichen Nazis.»
«Aber Finnland ist ein Rechtsstaat, und in einem Rechtsstaat wird nach vermissten Personen gesucht. Vor allem, wenn sie minderjährig sind. Verdammt noch mal, nun schmier dir den Zuckerguss nicht auch noch an den Pullover!», fuhr Koivu Puupponen an, der Anstalten machte, sich die Finger an seinem unglaublich hässlichen, selbstgestrickten Pullover mit Tiermuster abzuwischen. Die Tiere sollten wohl Bären darstellen, waren aber so verzerrt, dass sie eher an langgezogene Marder erinnerten. Vielleicht hatte Puupponens Mutter oder seine Schwägerin beim Stricken ihren schrägen Humor spielen lassen.
Meine beiden Mitarbeiter starrten mich an, als sei ich die Schiedsrichterin. Es lag in meiner Macht zu entscheiden, ob Ermittlungen eingeleitet werden sollten oder nicht. Ich kannte Koivu gut genug, um davon auszugehen, dass er sich nicht grundlos Sorgen machte.
«Wir können ja noch mal mit den Angehörigen sprechen. Vielleicht darf Saras Mutter mit einer Frau unter vier Augen reden. Wer hat Ayan als vermisst gemeldet?»
«Nelli Vesterinen, eine der beiden Leiterinnen des Mädchenclubs. Ayans Freundinnen hatten sie um Rat gefragt.»
Iida hatte Nelli oft erwähnt. Sie sei nicht so kleinlich wie ihre Kollegin, sondern erlaube Spaß und Albernheiten. Anu, die demnächst einen Vortrag im Mädchenclub halten sollte, war zwar nicht meine Mitarbeiterin, dennoch konnte ich sie bitten, bei ihrem Besuch im Club Augen und Ohren offen zu halten; vielleicht waren Freundinnen von Ayan unter den Anwesenden. Aber mit Nelli Vesterinen mussten wir möglichst bald sprechen.
«Pekka, wahrscheinlich hast du die...
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