Schweitzer Fachinformationen
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Die schreiende Frau war eine Empfangsdame des Hotels, die mir erklärte, die Frist zum Auschecken sei schon vor zweieinhalb Stunden abgelaufen und ich müsse sowohl für die überzähligen Stunden als auch für die Reinigung des Fußbodens, auf den ich mich übergeben hatte, einen Zuschlag zahlen. Ich versprach, das Zimmer spätestens um sechs Uhr zu räumen und alles zu bezahlen; ich wollte die Frau so schnell wie möglich loswerden und meine Gedanken sortieren. Mir war schwindlig und übel, aber offenbar hatte ich nichts mehr im Magen, was hochkommen konnte. Als die Frau nach einer letzten Tirade über die versoffenen Finnen endlich verschwand, stand ich auf. Ich hatte entsetzlichen Durst. Nach einigem Überlegen erinnerte ich mich, dass ich am Tag zuvor eine Cola und eine Literflasche Mineralwasser gekauft und in meinen Rucksack gesteckt hatte. Und der Rucksack war . dort, an der Wand. War auch alles andere noch vorhanden? Ich hatte in meinen Kleidern geschlafen, die Schuhe und die Lederjacke lagen auf dem Fußboden. Mein Handy steckte in der Seitentasche der Lederjacke, die Geldbörse in der Brusttasche. Sie enthielt die wenigen Rubel, die mir geblieben waren, nachdem ich das Bier bezahlt hatte. Meine Waffe lag unter der Bettdecke. Ich war also nicht ausgeraubt worden.
Ich trank Mineralwasser, nahm eine Tablette gegen die Übelkeit und zwei gegen die Kopfschmerzen und tastete vorsichtig meinen Kopf ab. Nichts deutete darauf hin, dass man mich niedergeschlagen hatte. Als Nächstes zog ich mich aus, stellte mich vor den Spiegel und inspizierte meinen Körper. Die Knie waren leicht verschorft, wie nach einem Sturz, aber meine Handflächen waren unversehrt. Zwischen den Beinen spürte ich keinen Schmerz, entdeckte auch keine Prellungen, die den Verdacht auf Vergewaltigung geweckt hätten. Als ich unter der Dusche stand, erinnerte ich mich, dass ich zu den Blinis einen Wodka und zwei Glas litauisches Starkbier und in der Bar Swoboda noch ein Bier getrunken hatte. Wenn in dem Bier, das ich beim Essen zu mir genommen hatte, ein Betäubungsmittel gewesen wäre, hätte es weitaus früher wirken müssen, und das Bier in der Bar hatte ich behütet wie eine Mutter ihr Baby. Oder? Als Anita auf die Straße getreten war, hatte ich einen Moment lang nur auf sie geachtet. Hatte es einer der drei Männer, die mich umringten, fertiggebracht, mir etwas ins Glas zu träufeln, bevor ich den letzten Schluck getrunken hatte? Fluchend wickelte ich mich in das dünne Handtuch, das gerade breit genug war, um meinen Körper vom Brustansatz bis zum Po zu bedecken. Dann zog ich die Vorhänge zu und rief Anita am Handy an. Keine Antwort.
Hatte ich mit ihr gesprochen? Hatten wir uns ausgesöhnt? Wie war ich ins Hotel gekommen? Vergeblich durchforstete ich mein Gedächtnis. Ich rief in Anitas Hotelzimmer an, doch auch dort meldete sie sich nicht. An der Rezeption sagte man mir lediglich, Frau Nuutinen logiere noch im Haus; weitere Auskünfte könne man mir nicht geben.
Wer wusste etwas über Anitas Angelegenheiten? Ihre Sachwalterin Maja Petrowa? Der Taxifahrer Sergej Schabalin? Petrowas Telefonnummer kannte ich nicht, und als ich Schabalin anrief, hörte ich das Besetztzeichen. Der Ton war unerträglich, er bohrte sich geradezu in meinen Schädel. Ich musste mich noch einmal aufs Bett legen und zog auch die Decke über mich, obwohl sie ebenso schlecht roch wie meine schmutzigen Kleider. Die Duschfrische war im Nu verflogen. Als ich mich umdrehte, strich mir etwas Weiches über die Füße. Ich griff danach, spürte glatte Seide. In meinem Bett lag Anitas goldfarbenes Gucci-Tuch, das sie oft verwendete, wenn sie Kleidung in neutralen Farben trug. Wie war es bei mir gelandet?
Panik erfasste mich, denn alle Erklärungen, die mir einfielen, waren gleichermaßen schlimm. Anita hätte mir nie im Leben ihr Tuch gegeben, selbst wenn wir in Freundschaft auseinandergegangen waren. Ich zwang mich, meine Waffe zu inspizieren - war sie während meines Blackouts benutzt worden? Nein, es waren keine Pulverspuren zu sehen, und im Magazin fehlte keine Kugel. Warum hallte mir dennoch ein Schuss in den Ohren, den ich nicht einzuordnen wusste?
Plötzlich drängte es mich, das stickige Zimmer so schnell wie möglich zu verlassen, obwohl es noch Stunden dauerte, bis mein Zug fuhr. Ich verspürte Hunger. Im Rucksack fand ich den Energieriegel, den ich für Notfälle eingesteckt hatte. Ich aß ihn langsam, voller Angst, die Übelkeit würde zurückkommen. Dann duschte ich noch einmal und zog mich an. Anitas Tuch packte ich ganz unten in meinen Rucksack, unter die Reservemagazine, die Glock steckte ich ins Schulterhalfter. Nachdem ich die Hotelrechnung beglichen hatte, bekam ich meinen Pass ausgehändigt, den ich beim Einchecken als Pfand hatte hinterlegen müssen. Ich fuhr mit der Metro zum Bahnhof und löste die vorbestellte Fahrkarte. Wieder versuchte ich vergeblich, Anita oder Schabalin zu erreichen. Schabalins Anschluss war nicht mehr besetzt, ich ließ es lange läuten, doch er meldete sich nicht.
Da ich keine Lust hatte, mit meinem Gepäck herumzulaufen, es aber auch nicht bei der Aufbewahrung hinterlassen wollte, ging ich ins Bahnhofsrestaurant, wo ich Borschtsch und Mineralwasser bestellte. Nachdem ich mich gestärkt hatte, versuchte ich erneut, mir die Ereignisse des gestrigen Abends ins Gedächtnis zu rufen, doch meine Erinnerung endete schlagartig an dem Punkt, als ich die Bar verlassen hatte, um auf Anita zu warten. Vielleicht waren wir uns nicht begegnet, oder sie hatte es abgelehnt, mit mir zu reden. Vielleicht hatte sie das Tuch versehentlich fallen gelassen, und ich hatte es aufgehoben. Die meisten Knock-out-Tropfen führen zu tiefem Gedächtnisschwund, der weder durch Hypnose noch durch eine Therapie zu beheben ist. Aber ich hatte doch keine Dummheiten gemacht? Vielleicht hatte ich ein Taxi genommen und mich zum Hotel bringen lassen, bevor ich das Bewusstsein verlor. Das hoffte ich jedenfalls. Sobald ich dazu Gelegenheit hatte, musste ich per Internet mein Konto überprüfen, dann würde ich sehen, ob ich mit meiner Kreditkarte eine Taxifahrt bezahlt hatte.
Meine Stimmung, die der Borschtsch ein wenig aufgehellt hatte, verdüsterte sich restlos, als ich wieder Anita anrief und sich ein Unbekannter auf Russisch meldete. Wieso war Anitas Telefon in der Hand eines Fremden - der nun wusste, dass sie Anrufe von meinem Anschluss bekommen hatte? Verdammt nochmal! Womöglich waren die Männer in der Bar allesamt Paskewitschs Handlanger gewesen, einschließlich des Kellners. Ich wollte diesen Gedanken nicht weiter verfolgen. Irgendwer hatte es geschafft, alle meine Sicherheitsnetze zu überwinden. Dass man es nicht einmal für nötig befunden hatte, mich zum Schein auszurauben, machte das Ganze nur noch bedrohlicher.
Als der Zug endlich zum Einsteigen bereitstand, suchte ich mein Abteil und belegte das Einzelbett, das durch einen schmalen Gang von dem Etagenbett an der anderen Wand getrennt war. Die eine Nacht würde ich heil überstehen, selbst wenn ein kirgisischer Straßenräuber das Abteil mit mir teilte - immerhin war ich bewaffnet. Anita war nie mit dem Zug nach Russland gefahren, weil es sie ekelte, mit allen möglichen Leuten das WC teilen zu müssen. Auf meine Bemerkung, das bleibe ihr auch im Flugzeug nicht erspart, hatte sie erwidert, die Toilette der Business Class sei wenigstens nicht jedem Hinz und Kunz zugänglich.
Der Kondukteur rief irgendetwas, dann schrillte eine Pfeife. Ruckelnd setzte sich der Zug in Bewegung. Ich streckte mich auf dem Bett aus und wartete auf den Schaffner. Der Zug würde erst in Sankt Petersburg wieder halten, mindestens bis dahin hatte ich das Abteil für mich allein. Obwohl der lange Schlaf, aus dem die Hoteldame mich gerissen hatte, nur eine chemische Illusion gewesen war, wollte es mir nicht gelingen, fest einzuschlafen. Allerdings nickte ich immer wieder kurz ein und wusste dann nicht, ob der Schuss, der mir beim Aufwachen in den Ohren hallte, Traum oder Erinnerung war. Beiderseits der Grenze wurde ich geweckt, zuerst von der Passkontrolle, dann vom Zoll, aber ich registrierte die Grenzbeamten nur im Halbschlaf und hätte im Nachhinein nicht beschwören können, dass sie tatsächlich in meinem Abteil gewesen waren.
In Helsinki fuhr ich mit der Straßenbahn vom Bahnhof in die Untamontie im Stadtteil Käpylä, wo der größte Teil meiner Besitztümer lagerte. Mein Zimmer, in dem nur ein Bett, ein Schreibtisch und ein Sattelstuhl standen, war staubig und unpersönlich. Meine Mitbewohnerinnen waren nicht zu Hause. Ich teilte mir die Wohnung mit zwei Studentinnen, etwa zehn Jahre jünger als ich, die es zu schätzen wussten, dass ich ein Drittel der Miete zahlte, mich aber nur selten blicken ließ. Sie wussten, dass ich von Beruf Wächterin war, und ich hatte gelegentlich vage von Werttransporten gesprochen, deren Schutz mich für längere Zeit ins Ausland führte. Dass die Wohngemeinschaft mit mir gewisse Risiken einschloss, war ihnen nicht bewusst. Mir war es wichtig, als offizielle Adresse nicht das Ferienhaus angeben zu müssen, das ich in Degerby gemietet hatte und in dem ich den größten Teil meiner freien Zeit verbrachte. Da aus meinen Papieren nicht hervorging, an wen ich die Miete zahlte, war das Ferienhaus sicherer als das Zimmer in der Untamontie sieben, wo ich offiziell gemeldet war.
Es konnte durchaus sein, dass mir jemand auf den Fersen war. Anitas Tätigkeit als Ferienhausmaklerin hatte sowohl die Finnen enttäuscht, die ihr die Grundstücke verkauft hatten, als auch die russischen Käufer, denen sie Exklusivität versprochen hatte. Ein Ferienhaus in Finnland, in der unberührten Natur, war für die Russen ein Statussymbol, das an Wert verlor, wenn Dutzende ihrer Landsleute ein...
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