Schweitzer Fachinformationen
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Der Anfang
Einen Tag vor ihrem einundvierzigsten Geburtstag merkte Jaana Järvelä-Rämesuo, dass ihr Mann Riku heimlich in ihrem Tagebuch las. Riku war immer eifersüchtig auf das Buch gewesen, dem Jaana all das anvertraute, worüber sie mit ihrem Mann nicht sprechen wollte, beispielsweise über seine Potenzschwäche oder über ihre Gefühle für Ilkka. Allerdings kam Ilkka im aktuellen Tagebuch nicht vor, denn dieser Rausch war bereits vor einigen Jahren verflogen, es ging um all die anderen Dinge, über die sie seit langem nicht mehr mit Riku sprechen konnte: um Träume, Befürchtungen, Anlässe zur Freude, aber auch um die Frustration, mit der sie verfolgte, wie Riku immer depressiver wurde.
Es waren zwei Kleinigkeiten, die Jaana stutzig machten. Erstens hatte ihr aktuelles Tagebuch ein Lesebändchen, das es ihr erleichterte, die zuletzt beschriebene Seite aufzuschlagen. Doch diesmal lag das Bändchen hinter der ersten Seite. Jaana schöpfte sofort Verdacht. Das zweite Indiz wog noch schwerer: Ein paar Tage zuvor hatte sie geschrieben, dass sie Rikus lautes Schmatzen beim Frühstück unerträglich fand. Am Donnerstagmorgen, einen Tag vor ihrem Geburtstag, saßen sie wie immer gemeinsam am Tisch. Lotta und Lauri, die beiden Kinder, hatten ihr Frühstück bereits heruntergeschlungen, doch Jaana und Riku ließen sich Zeit und lasen beim Essen Zeitung. Jaanas Unterricht begann erst um zehn Uhr, Riku wollte zur gleichen Zeit aufbrechen und abends länger arbeiten.
Jaana hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, während Riku gedankenverloren frühstückte. Dann hielt er plötzlich inne, sah Jaana an und wurde rot. In dem Moment war sie sich sicher. Sie stand auf, ohne ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen.
Vielleicht war sie Riku gegenüber ungerecht. Sie wusste ja, wie erschöpft er war, und die Drohungen der Tierversuchsgegner, die er in letzter Zeit erhalten hatte, sorgten für zusätzlichen Stress. Jaana schämte sich, weil sie auch noch Anforderungen an ihn stellte. Eine Frau musste ihrem Mann den Rücken stärken. Aber wie sollte sie das tun, wenn er sich immer mehr abkapselte und schwieg?
Plötzlich fühlte Jaana Panik in sich aufsteigen. Seit mehr als dreißig Jahren führte sie Tagebuch. Wie sollte sie ohne auskommen? Zwar hatte es bisweilen längere Unterbrechungen gegeben, doch wenn sie besonders glücklich oder besonders traurig gewesen war, hatte sie immer wieder zu ihrem Tagebuch gegriffen. Die längsten Schreibpausen fielen in Zeiten, in denen ihr alles gleichgültig war.
Jaana wählte ihre Tagebücher sorgfältig aus, es kam durchaus nicht jedes beliebige Heft in Frage. In der Schulzeit hatte sie meist kleine, mit buntem Marimekko-Stoff bezogene Büchlein verwendet, die in die Handtasche passten, aber allzu schnell vollgeschrieben waren. Dann ging sie zu dekorativen Büchern aus dem China-Basar über, mit eng linierten Seiten. Später, als Erwachsene, kaufte sie handgemachte Unikate und suchte auf Reisen nach außergewöhnlichen Exemplaren. Alles in allem hatte sie über sechzig Tagebücher. Wie lange las Riku bereits darin? Von der Küchentür aus warf sie ihm einen Blick zu. Er sah aus wie immer. Hatte er die ganze Zeit vorgegeben, nicht zu wissen, was in ihrem Kopf vorging, oder hatte er erst kürzlich mit dem Spionieren angefangen?
Im Auto redete Jaana ununterbrochen, aber nicht, weil sie Riku so viel zu sagen gehabt hätte, sondern im Gegenteil, weil es nichts zu sagen gab. Sie plapperte über die Zugvögel, die sie sehnsüchtig erwartete, und über die eisverkrusteten Bäume am Straßenrand.
Es war Mitte März, noch herrschte ideales Skiwetter, und Riku, Jaana und Lauri liefen an den Wochenenden gemeinsam Ski. Die fünfzehnjährige Lotta dagegen war nicht mehr auf die Loipe zu bekommen, obwohl Riku sie mit dem Hinweis zu ködern versuchte, für Mädchen, die auf ihr Gewicht achteten, sei Skilanglauf der ideale Sport. Lotta hatte im Herbst aufgehört, Fleisch zu essen, und entwickelte nun auch eine Abneigung gegen Milchprodukte. Um sie davon abzubringen, versuchte Jaana ihr wider besseres Wissen einzureden, dass sie noch wachsen würde.
Jaana setzte Riku am Labor ab und fuhr weiter in Richtung Espoo. Als sie auf der Finnoontie an einer Ampel halten musste, atmete sie tief durch und versuchte sich zu entkrampfen. Was sollte sie tun? Einen verschließbaren Schrank für ihre Tagebücher kaufen? Nein, damit hätte sie Riku klar zu verstehen gegeben, dass sie wusste, was er getan hatte. Verstecken war auch keine Alternative, denn es gab im ganzen Haus keinen Raum, zu dem nur sie allein Zutritt hatte. Bisher hatte sie sich darauf verlassen, dass niemand die Tagebücher aus dem Regal in der Kleiderkammer nahm, in der auch ihr Schreibtisch stand.
Ein großer Teil von Jaanas Aufzeichnungen betraf die Kinder. In ihren ersten Lebensjahren hatte sie jedes neue Wort und jeden Entwicklungsschritt gewissenhaft notiert. Diese Tagebücher hätte sie jedem zeigen können. Ich versuchte, in den Aufzeichnungen wiederkehrende Muster zu finden, Jaanas Kern, etwas, das erklären würde, weshalb die Dinge sich so und nicht anders entwickelt hatten. In einer späteren Arbeitsphase waren mir auch Rikus einigermaßen wortkarge Tagebücher hilfreich, von denen Jaana mir Kopien zustellte, da sie die Originale der Polizei aushändigen musste.
Jaana war beim Zurücksetzen auf dem Lehrerparkplatz so in Gedanken, dass sie beinahe den Physiklehrer überfahren hätte, der zum Glück in letzter Sekunde zur Seite sprang. Da sie an sich eine aufmerksame und rücksichtsvolle Fahrerin war, erschrak sie heftig und schnappte noch nach Luft, als sie die Schultür öffnete. Auf dem Flur kam ihr Kukka entgegen und grüßte freundlich. Sie war eine ihrer liebsten Kolleginnen. Allerdings verspürte Jaana in ihrer Gegenwart oft vage Gewissensbisse, was eigentlich idiotisch war, denn letzten Endes war zwischen Jaana und Kukkas Mann Ilkka ja gar nichts vorgefallen. Kukka hatte tulpenrote Wangen und trug mit Vorliebe selbstgenähte, wehende geblümte Kleider. Sie unterrichtete textiles Gestalten, ein Wahlfach, das an der Eestinkallio-Schule ungewöhnlich beliebt war.
Jaana überlegte, ob sie Kukka erzählen sollte, dass Riku in ihrem Tagebuch gelesen hatte, doch wegen der Geschichte mit Ilkka verwarf sie den Gedanken. Aber mit irgendwem musste sie sprechen und sich Rat holen. Ohne ihr Tagebuch konnte sie nicht leben, denn das Schreiben war der einzige Weg, Distanz zu den Ereignissen zu gewinnen und stürmische Gefühle zu zügeln.
Im Lehrerzimmer schaltete Pirjo, die Geschichtslehrerin, gerade ihren Laptop aus. Jaana setzte sich neben sie an den mittleren Tisch, wo sie ihren Stammplatz hatte. Die Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer nannten den Tisch Humanisticum, weil sich um ihn auch die Sprach- und Kunstlehrer sowie Kukka versammelten.
«Puh, der Test ist endlich fertig!» Pirjo zog den Speicherstick aus der Buchse und steckte ihn ein. Da merkte Jaana plötzlich, dass sie eine Lösung gefunden hatte, die zwar nicht optimal, aber praktikabel war. Von nun an würde sie ihr Tagebuch am Laptop schreiben und auf einem USB-Stick speichern, den sie immer bei sich tragen oder notfalls in ihrer Schmuckschatulle einschließen konnte.
Doch ihre anfängliche Begeisterung über diesen Einfall legte sich bald. Es würde ihr nicht leichtfallen, im Vorortzug oder im Bus den Computer zu benutzen. Schon wenn sie in der Öffentlichkeit ihr Lektüreheft vervollständigte oder Texte für den Unterricht schrieb, hatte sie oft das Gefühl, dass die Mitreisenden ihr über die Schulter guckten. Der Text auf dem Bildschirm war wesentlich leichter mitzulesen als ihre verschlungene Handschrift.
Aber vermutlich gab es keine andere Möglichkeit. Jaana seufzte. Sie war es gewöhnt, Tagebuch zu schreiben, wann immer ihr danach war. Selbst guten Freunden mochte sie nicht ständig mit Klagen kommen, und über ihr Liebesleben hätte sie erst recht nicht mit anderen sprechen können. Sie wurde rot, als ihr einfiel, was sie über ihre letzte Liebesnacht geschrieben hatte. Ob Riku auch das gelesen hatte? Dabei war er ohnehin schon deprimiert genug.
Natürlich würde Riku sich wundern, wenn Jaana plötzlich nichts mehr in ihr Tagebuch schrieb. Also musste sie parallel auch das alte weiterführen. Sie nahm sich vor, es mit unverfänglichen Eintragungen zu füllen, die Riku gefallen würden. Sie wollte ihm die Jaana präsentieren, in die er sich vor zwanzig Jahren verguckt und bald darauf verliebt hatte.
Es klingelte. Die Schüler der 9 C präsentierten ihre Referate über literarische Werke, doch Jaana hörte nur mit einem Ohr zu. Auf dem Heimweg würde sie einen Speicherstick kaufen. Einen schönen, falls es so etwas gab.
17. 3. 200X
Jetzt fange ich also dieses neue Tagebuch an. Es fällt mir schwer, intime Gedanken in dieser Form niederzuschreiben, denn bisher war der Computer für mich immer nur ein Arbeitsgerät. Ich bin wütend auf Riku, weil er mich zu diesem Ausweg zwingt. Zum Glück ist er noch nicht zu Hause. Es kommt mir vor, als hätte er mich in ein Eisloch gestoßen und die Leiter weggenommen. Vor Wut bin ich innerlich wie erstarrt.
Ilkka liest bestimmt nicht in Kukkas Tagebüchern. Aber was hätte sie auch zu verbergen? Ihr Leben ist wunderbar, mit Ilkka läuft es bestens, die Kinder sind goldig, die eigenen wie auch die in der Schule. Kukkas Leben scheint perfekt zu sein, sie schafft es sogar, Marmelade zu kochen, zu nähen und Nordic Walking zu treiben. Trotzdem ist sie weder langweilig noch aufgesetzt munter. Wenn sie doch eins von beiden wäre! Dann hätte ich mich vielleicht nicht gescheut, eine Affäre mit Ilkka anzufangen. Aber ich...
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