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Antisemitismus ist nicht nur der Hass auf Jüdinnen und Juden, sondern auch die Angst vor ihnen. Es ist die Angst, wirtschaftlich ausgebeutet zu werden. Es ist die Angst vor Menschen als Krankheitsüberträgern, wie es der Diskurs über Hygiene seit dem Ersten Weltkrieg suggeriert. Und es ist die Angst davor, dass sich das Jüdische, das Fremde, in einem «Krieg der Rassen» durchsetzen könnte - und zwar durch List und Tücke, nicht zuletzt, weil «die Juden» als Kapitalisten und als Kommunisten angeblich die Welt beherrschen.
Es sind bekannte Klischees, die nicht zuletzt auf einem Minderwertigkeitskomplex beruhen. In SS- und Polizeischulungen wurden sie nach 1933 ausführlich besprochen und in zahlreichen Reden von großen und kleinen Nationalsozialisten immer wieder betont.[1] Als der amerikanische Rabbiner Stephen S. Wise für den 27. März 1933 eine Großdemonstration gegen die antisemitische Politik in Deutschland im New Yorker Madison Square Garden ankündigte, ließ Hermann Göring Vertreter des Centralvereins der deutschen Juden in sein Büro kommen: Sie sollten intervenieren und die Versammlung verhindern. Und tatsächlich bat der Verein darum, die Demonstration abzusagen, fand damit aber kein Gehör.[2]
Die Nationalsozialisten nahmen die Vorstellung eines Weltjudentums ernst - sie fürchteten einen global vernetzten Gegner und hatten Angst vor einer vorgeblichen jüdischen Weltverschwörung.[3] Schließlich seien «die Juden» gut darin, andere zu manipulieren. Selbst kämpfen könnten sie nicht. Am gefährlichsten seien diejenigen Jüdinnen und Juden, die äußerlich gar nicht als solche zu erkennen seien - weshalb sie stigmatisiert und gekennzeichnet werden müssten. Erst einmal ausgesondert, wären sie ohne Gegenwehr zu vernichten.
Das taten die Deutschen nach 1939 in einem präzedenzlosen Völkermord gigantischen Ausmaßes. Angesichts von etwa sechs Millionen Menschen, die in Europa zwischen 1939 und 1945 im Holocaust starben, die von Deutschen und ihren Helfern erschossen, vergast oder auf andere Weise umgebracht wurden, entstehen nur allzu leicht Vorstellungen einer überwältigenden, unausweichlichen Totalität des Genozids. Der Blick auf die Täter und ihre Gewaltpraktiken verstärkt zusätzlich den Eindruck paralysierter Opfer, die lediglich Objekte in den Händen der Mörder darstellten.[4] Es ist der Mythos angeblicher jüdischer Passivität, der bis in biblische Zeiten zurückreicht: «Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.»[5]
Derlei Sichtweisen dominieren nach wie vor die Wahrnehmung des jüdischen Verhaltens im Angesicht der Vernichtung. Insbesondere der Widerstand von Jüdinnen und Juden gegen den Holocaust ist wenig bekannt. Meist beschränkt sich das Wissen darauf, vom Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 gehört zu haben, oder vielleicht noch von Revolten in den Vernichtungslagern Sobibor und Auschwitz-Birkenau. Dabei belegen unzählige Berichte die Aktivitäten der Verfolgten und nicht zuletzt bezeugen die Überlebenden den unbedingten Willen und die Fähigkeit, die eigene Existenz selbst unter den desaströsen Bedingungen der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu behaupten.[6]
Wahrgenommen aber werden die wenigsten dieser kleinen und großen Heldentaten. Sicher, es gibt beispielsweise über die jüdischen Partisanen der Bielski-Brüder den Film Defiance mit Daniel Craig. Aber wer kennt die Geschichte von Oswald Rufeisen, die sich kaum 30 Kilometer von den Bielskis entfernt abspielte? Rufeisen war ein polnischer Jude, der nach dem deutschen Einmarsch in seine Heimat 1939 erst nach Wilna floh und 1941 bis nach Mir im heutigen Belarus gelangte. Dort gab er sich als sogenannter Volksdeutscher aus und verdingte sich beim lokalen deutschen Polizeiposten als Übersetzer. Als im August 1942 das Ghetto mit etwa 300 Insassinnen und Insassen liquidiert werden sollte, warnte Rufeisen diese Menschen. Und mehr noch, er führte die Deutschen auf eine falsche Spur auf der Suche nach angeblichen Widerstandskämpfern und ermöglichte dem Ghetto so überhaupt erst die Flucht. Als die Mörder ihren Irrtum bemerkten, folterten sie Rufeisen, bis dieser zugab, selbst Jude zu sein. Unter abenteuerlichen Umständen gelang ihm dennoch die Flucht und das Überleben bei den sowjetischen Partisaneneinheiten - weil Flüchtlinge aus Mir für den höchst verdächtigen ehemaligen Übersetzer bürgten.
Und wer hat schon von der 1922 in Mannheim geborenen Marianne Cohn gehört, die im besetzten Frankreich seit 1943 mit der jüdischen Widerstandsbewegung Organisation Juive de Combat (Jüdische Kampforganisation) verfolgte Kinder in die sichere Schweiz schmuggelte? Sie bewies wahren Mut, als sie mit einem Transport von 32 Jugendlichen aufflog und von den deutschen Tätern verhaftet wurde: Obwohl sich ihr die Gelegenheit zur Flucht eröffnete, wollte sie ihre Schützlinge nicht im Stich lassen. Diese Haltung bezahlte sie mit dem Leben.
Es sind nur zwei von unzähligen Berichten über aktives Handeln, über Selbsthilfe, Rettung und Widerstand. Dennoch werden die Opfer häufig bloß als unschuldig und passiv dargestellt, um so ihr sinnloses Sterben zu betonen. Eine moralische und oft auch politische Legitimation nährt sich aus dieser Deutung unmilitärischer Zivilität.[7] Doch das unterschlägt nicht nur wichtige historische Ereignisse, sondern konstruiert auch einen Gegensatz, wo gar keiner ist: Natürlich waren auch jüdische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer Opfer des Holocaust - und nur die wenigsten von ihnen überlebten die deutsche Verfolgung. In diesem Sinne ist jüdischer Widerstand ein integraler Bestandteil jeder Geschichte der Shoah.
Die entscheidende Frage ist eher, wie diese Geschichte zu schreiben ist. Denn die Täter zeigten sich damals durchaus beeindruckt - etwa nach zwei Angriffen jüdischer Untergrundkämpferinnen und -kämpfer im besetzten Krakau am 22. Dezember 1942. Heinz Doering von der Regierung des deutschen Generalgouvernements schrieb an seine Familie: «Dass auch viele Juden bei den Banden sind, ist natürlich selbstverständlich. Es gibt unter den Juden auch eine ganze Menge schneidiger Hunde! Gerade von ihnen hört man tolle Geschichten von äußerster Verwegenheit.»[8] Es war der gleiche Blickwinkel, den SS-Gruppenführer Jürgen Stroop in seinem Bericht über die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto einnahm, als er die weiblichen Mitglieder der Jugendbewegung Hechaluz als besonders niederträchtig diffamierte.[9]
Die Handlungen dieser Jüdinnen und Juden widersprachen der von den Tätern so gerne gepflegten Vorstellung von passiven Opfern. Zugleich aber bestätigten sie in ihren Augen die Propagandalüge, wonach jede Untergrundaktivität letztlich von «den Juden» orchestriert sei. Und offensichtlich erschien ihnen die Gegenwehr der Jüdinnen und Juden illegitim - wie jegliche Auflehnung gegen ihre Herrschaft.
Die deutsche Perspektive zeichnet eine offensichtliche Einseitigkeit aus. Allerdings liegt es in der Natur jeglichen konspirativen Handelns, dass es geheim bleiben soll, weshalb zeitgenössische schriftliche Dokumente des Widerstands entsprechend selten sind - es war schlicht überlebensnotwendig, keine Aufzeichnungen anzulegen, damit diese nicht in die Hände der Verfolger fallen konnten. Umgekehrt konnten jene nur notieren, was sie zufällig in Erfahrung brachten, und blieben meist notorisch uninformiert. Beide Seiten betonten ihre eigene Schlagkraft und neigten dabei zur Übertreibung: Wo die Deutschen die jüdische Bedrohung herausstreichen wollten, suchte der Untergrund seine Legitimation zu erhöhen. Oft rivalisierten außerdem verschiedene Widerstandsgruppen um die Sympathien der jüdischen Gemeinschaften.
Als Quellen nutzen lassen sich öffentliche Aufrufe, Informationsschriften oder Flugblätter sowie die äußerst seltenen Rechenschaftsberichte. Aussagekräftiger sind illegale Druckerzeugnisse und Zeitschriften, Tagebücher und Briefe. Protokolle offizieller jüdischer Gremien bleiben in Hinblick auf den...
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