Schweitzer Fachinformationen
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Unser neues Leben in Paris hatte genau so begonnen, wie wir uns das erträumt hatten. Kurz vor Weihnachten hatten wir eine bezaubernde Wohnung mit Blick auf den Eiffelturm gefunden.
Zugegeben, man muss sich ein wenig aus dem Fenster lehnen, um den Eiffelturm zu sehen. Optimal ist die Sicht dann, wenn man sich außen an der Brüstung unseres »französischen Balkons« mit einem Halbmastwurf-Karabiner anseilt - und sich dann ein wenig nach hinten ins Hohlkreuz fallen lässt. Wahrscheinlich haben die Pariser deshalb französische Balkone erfunden: Es gibt hier einfach viel Schönes zu sehen. Wenn man dagegen in Bottrop wohnt, braucht man nicht unbedingt einen französischen Balkon, sondern nur irgendwas, um die Satellitenschüssel anzudübeln.
Die Wohnung war, wie gesagt, ganz bezaubernd. Es gab nur noch einige Kleinigkeiten zu renovieren. »Petits détails«, hatte der Makler gesagt, während er sich an dem Waschbecken, das komischerweise im Wohnzimmer an der Wand hing, leicht abgestützt hatte - woraufhin das Becken aus der Verankerung gebrochen war. Erst später stellten wir fest, dass das Waschbecken gar nicht verankert, sondern offenbar mit Holzleim befestigt worden war. »Der Franzose improvisiert halt gern.« Scherzten wir da noch.
Wir beschlossen, die Tage zwischen den Jahren mit besinnlichen Nestbau-Aktivitäten zu verbringen. Wir begannen gleich am Zweiten Weihnachtstag. Als Erstes versuchten wir, einen circa acht Zentimeter tiefen, zahnfleischfarbenen Wollteppich vom Fußboden abzuschaben, der offenbar hochentwickelte, linksdrehende Zellkulturen mit langfristigen Mietverträgen beherbergte. Als wir diese Herausforderung annahmen, wussten wir allerdings noch nicht, dass es zumindest ein französisches Industrieprodukt gibt, das qualitativ Weltniveau erreicht: Teppichleim.
Nach drei Tagen eifrigen Schabens - mittlerweile schrieben wir den 28. Dezember - zogen wir eine Zwischenbilanz: Was unser neues Pariser Heim werden sollte, bestand aus drei Zimmern und einer Küche. Bis auf die Küche waren sämtliche Bodenflächen mit dem Zahnfleisch-Teppich bedeckt. Anfangs vermuteten wir, auch der Küchenboden sei mit einer Art Teppich belegt, bis wir feststellten, dass es sich um eine Staub- und Schmutzschicht handelte, die im Laufe der Jahre eine Konsistenz entwickelt hatte, die von einem industriell gewebten Produkt nur schwer zu unterscheiden war.
Vielleicht haben Sie zufällig den B-Movie-Klassiker The Green Slime aus dem Jahr 1968 gesehen oder zumindest Alien Resurrection aus dem Jahr 1997. Oder irgendeinen anderen Film dieser Sorte, in dem aufdringliche Außerirdische mit ungepflegtem Äußeren die Erde mit einem seltsamen Schleimprodukt vollsülzen. Wenn Sie sich diese Masse nun nach 30 Jahren Lufttrocknung vorstellen, wissen Sie ungefähr, womit wir es in der Küche zu tun hatten. Allerdings ließ sich dieser Bodenbelag nach mehrstündigem Schrubbereinsatz mit Unterstützung von chemischen Kampfmitteln einigermaßen rückstandsfrei entfernen.
Der Teppich hingegen war überall mit Hilfe des ausgesprochen widerstandsfähigen französischen Hochleistungsleimes angebracht worden. Drei Tage lang hatten wir zwar in jeder Ecke mehrmals versucht, den Spachtel anzusetzen, aber es war uns gerade einmal gelungen, geschätzte 0,85 Quadratmeter Bodenfläche von dem Teppichmonster zu befreien. Und das war noch eine großzügige Schätzung.
Dabei hatten wir drei deutsche Qualitätsspachtel abgebrochen und circa zwei Dutzend Original Solinger Teppichmesserklingen ruiniert. Wir hatten außerdem Blutblasen an Handballen und Fingern und Schmerzen in den Knien und im Rücken, wie sie sonst nur Pflasterer kurz vor der Rente mit 67 kennen. Unser Zeitplan drohte ins Wanken zu geraten. »Bis zum 31. sind Sie mit den kleinen Schönheitsreparaturen sicher durch und feiern Silvester mit Blick auf den Eiffelturm«, so hatte der Makler frohlockt.
»Monamour«, sagte ich zu Monamour, »ich glaube, wir müssen unseren Plan überdenken.« Monamour heißt natürlich nicht mit bürgerlichem Namen »Monamour«. Aber ich hatte kurz nach unserer Ankunft in Paris begonnen, sie mit einem landestypischen Kosenamen anzusprechen, um ihr die Integration zu erleichtern. Und um das Geld für den Sprachkurs zu sparen.
Monamour war dabei, in einer Ecke jenes Zimmers, das einmal unser Schlafzimmer werden sollte, eher unorthodoxe Teppichentfernungstechniken auszuprobieren, nachdem die konventionellen reihenweise versagt hatten. In diesem Moment bearbeitete sie den Teppich gerade mit ihrem Philips Ladyshave. Soweit ich die Lage in der Zimmerecke einschätzen konnte, funktionierte das allerdings nicht richtig. Das Gerät roch schon ein wenig verbrannt. Monamour hatte viele lustige rosa Flusen im Haar und im Gesicht, mit denen sie allerdings hinreißend aussah. Als ich Monamour auf die Beine half, gaben ihre Kniegelenke Knackgeräusche von sich, die mich beunruhigten - schließlich ist sie elf Jahre jünger als ich. Doch die Fronarbeit der letzten Tage hatte auch ihr zugesetzt. Ihr Blick flackerte, und sie hustete rosa Flusen durch die Nase. Mir wurde klar, dass unser Paris-Abenteuer unter keinem guten Stern stehen würde, wenn diese Entwicklung anhielt. »Monamour«, flehte ich sie an, »so geht es nicht weiter. Wir brauchen professionelle Hilfe.«
Monamour war vollkommen einverstanden, das heißt, sie knurrte zärtlich irgendetwas von »hab ich ja gleich gesagt« und »totale Schnapsidee«. Wohnung selber renovieren sei etwas »für Studenten« oder aber »Handwerker, die es können«. Sie betonte das Wort »können« ungewohnt stark.
Empfindlichere Naturen als ich hätten diese Bemerkungen vielleicht als persönliche Kritik aufgefasst, aber zum Glück kannte ich Monamour gut genug, um zu wissen, dass sie es bestimmt genau so gemeint hatte. Ich beschloss, ihr am nächsten Morgen als Belohnung für ihren Einsatz und als kleine Aufmerksamkeit eine Fusselbürste zu kaufen. Praktischerweise gab es gleich um die Ecke unserer neuen Wohnung eine Schlecker-Filiale. Schlequère heißt das auf Französisch, was das Einkaufserlebnis in einer grenzübergreifend deprimierenden Drogeriemarktkette aber nur unwesentlich mondäner macht.
Ich rief meinen Freund Antoine an und fragte ihn um Rat. Antoine war ein waschechter Pariser, und zum Glück hatte ich ihn ein Dutzend Jahre vor unserem Umzug nach Paris in New York kennengelernt. Es ist nämlich wesentlich leichter, Pariser in New York kennenzulernen als in Paris. Sogar in Bielefeld oder in Omsk ist es einfacher. Denn in New York, in Bielefeld und insbesondere in Omsk kennen Pariser selbst kein Schwein - und freuen sich deshalb riesig, wenn sie eins kennenlernen. In Paris hingegen haben Pariser schon genug Pariser Freunde und empfinden neue Leute, die gern ihre Bekanntschaft machen würden, eher als lästige Störung ihres ungemein pariserischen Betriebsablaufs. Es gibt natürlich auch traurige Pariser, die in Paris überhaupt keine netten, coolen und interessanten Freunde haben, aber das würden die traurigen Pariser nie zugeben, weil man sie dann auch noch für uncoole Pariser halten würde.
Bevor sie sich mit Freunde suchenden Zugereisten aus Omsk abgeben, bleiben sie da lieber alleine in einem zwanzig Quadratmeter großen Chambre de bonne sitzen und gucken jeden Abend die Seifenoper Plus belle la vie, die in Marseille spielt. Pariser interessieren sich für alles Mögliche - nur nicht für Leute, die neu nach Paris gezogen sind.
Wenige Tage zuvor hatte ich bei der Société Générale mein Konto eröffnet. Die mütterlich wirkende Filialangestellte hatte beim Ausfüllen der Formulare gefragt:
»Sie sind ganz neu in Paris?«
Als ich bejahte, schien ihre Sorge zu wachsen: »Kennen Sie denn hier irgendjemanden?«
Als ich auch dies bejahen konnte, war sie ein wenig beruhigt.
»Das ist ein Glück für Sie, denn wenn man hier niemanden kennt, ist es nicht lustig.«
Dann ließ sie mich aus einer Reihe von bunten Motiv-Kreditkarten mein Lieblingsexemplar aussuchen. Es gab Tierbilder, Pflanzen oder was mit Musikinstrumenten. Ich wunderte mich ein wenig, dass Zahlungsmittel in Frankreich gestaltet werden wie Kindergartentaschen, aber dann dachte ich mir: Macht vielleicht Sinn, eine niedliche Kreditkarte kann einen trösten, wenn man sonst niemanden kennt.
Antoine war eine erfreuliche Ausnahme, er war offenbar nicht so kontaktgestört wie die meisten Pariser, denn er ließ sich spontan breitschlagen, erneut mein Freund zu werden, als wir nach Paris zogen. Ich hatte ihn in den Kontakt-Katakomben von Facebook ausgegraben. Geduldig hörte er sich nun am Telefon meinen Krisenbericht an. Dann stellte er ein oder zwei Verständnisfragen. Er wollte zum Beispiel wissen, wieso ich auf den abwegigen Gedanken gekommen sei, meine ersten Tage in Paris mit einem überambitionierten Renovierungsprojekt zu verbringen. Er fragte außerdem, wieso ich auf die noch beknacktere Idee gekommen sei, mit den Bauarbeiten zwischen Weihnachten und Neujahr zu beginnen, und vor allem wunderte er sich:
»Was hat dich geritten, Tonamour in deinem germanischen Renovierungsgrößenwahn mit ins Unglück zu stürzen, anstatt ihr erst mal ein oder zwei schöne neue Kleider im Faubourg Saint-Honoré zu kaufen, um den Kulturschock der Emigration abzufedern?«
Auf diese Frage hatte ich spontan keine überzeugende Antwort parat.
»Na ja«, murmelte ich etwas kleinlaut, »ich dachte,...
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