1. Kapitel
Helmut Bahn fühlte sich gut, als er kurz vor Mitternacht die Haustür aufschloss. Er freute sich aufs Bett und einen tiefen, ruhigen Schlaf. In den Stunden in der Muckibude und anschließend in der Sauna hatte er den Stress abgebaut, der sich in den letzten Tagen langsam und unaufhaltbar in ihm aufgestaut hatte.
Und er hatte in der letzten Zeit verdammt viel Stress in der Redaktion gehabt. Da war der Besuch im Fitnesscenter der richtige Ausgleich zum Arbeitstag gewesen.
Aber nicht nur wegen des Stressabbaus hatte sich Bahn von Notizblock und Computer gelöst und zu den Kraftmaschinen und Schwitzkästen aufgemacht. Es gab noch einen zweiten Grund, weswegen er nicht den direkten Weg zu seiner Doppelhaushälfte in der Boisdorfer Siedlung nahm. Seine Frau Gisela hatte eine Freundin eingeladen, besser gesagt, die Plaudertasche Anne hatte sich selbst eingeladen und wollte mit Gisela über ihre Sorgen und Nöte reden. Annes Nachnamen fand Bahn nicht nur unaussprechlich, er hatte ihn auch vergessen. Irgendwas mit Schibulski oder so war er wohl.
Dieses Weibergetratsche würde ihm nur auf die Nerven gehen, hatte Bahn am Telefon gestöhnt, als ihn Gisela am Nachmittag warnte. Er konnte diese plötzliche Störung seiner Tagesplanung so wenig leiden wie Bauchschmerzen. Er hatte sich nach der nervigen Arbeit auf einen gemütlichen Abend mit Gisela gefreut. Nun wollte er seine Zeit sinnvoller nutzen, als sich neben die beiden Frauen zu setzen oder sich von ihrem Gerede stören zu lassen.
Gisela hatte mitbekommen, wie er den Focus in die Garage gefahren hatte. Bahn würde es nie lernen, das Tor geräuschlos zu schließen. Das Scheppern würde die Nachbarschaft garantiert aufwecken. Aber darauf nahm er keine Rücksicht.
Sie stand schon im Flur, als Bahn das Haus betrat.
»Gottfried hat angerufen.« Sie überfiel ihn sofort mit der Mitteilung, die nichts Gutes verheißen konnte. »Ich habe ihm gesagt, dass du zurückrufst. Es gibt wohl einen Mord in Düren.«
Bahns Hochstimmung war auf der Stelle verflogen. Wütend funkelte er seine Frau an und schleuderte dann die Sporttasche fluchend in die Garderobenecke.
»Hat das nicht Zeit bis morgen«, fauchte er. »Meinst du, ich habe Lust, jetzt noch in die Eiseskälte rauszufahren?«
Gisela verzichtete auf eine Erwiderung. Sie hätte darauf wetten können, dass Bahn derart gereizt reagieren würde. Dafür kannte sie ihn schon zu lange. Hätte sie ihm erst am nächsten Morgen von dem Anruf des Informanten berichtet, hätte er ebenfalls aufgebracht reagiert, wahrscheinlich sogar noch wütender. Das tat er immer, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, das ihm nicht passte. Da war der jetzige Wutausbruch das kleinere aller Übel.
Schweigend beobachtete Gisela Bahn, der nachdenklich und unentschlossen durch den Hausflur lief.
Sollte er Jansen anrufen oder nicht? Wenn's tatsächlich ein Mord gab, musste er raus. Wenn Jansen vielleicht einer Fehlinformation aufgesessen war, schlug er sich für nichts die eiskalte Januarnacht um die Ohren.
»Helmut, es sollen sogar schon Fernsehteams draußen sein«, hörte er seine Frau leise sagen.
»Schon gut, ist ja schon gut«, schnaubte er. Er stapfte in sein Arbeitszimmer und tippte schnell die Rufnummer seines Informanten in das Telefon.
Gottfried Jansen war unbestritten die beste Quelle in Düren, wenn es galt, Neuigkeiten aus Polizeikreisen, von der Feuerwehr oder den Rettungsdiensten zu erhalten. Bahn kannte Jansen schon seit Jahren. Zufällig hatten sie sich in einer Kneipe kennengelernt und Jansen hatte ihm ungeniert seine Dienste angeboten. Seitdem Bahn als Redakteur beim Dürener Tageblatt tätig war, hatte ihn der Informant prompt und meistens zuverlässig mit Wissenswertem und Hintergründen versorgt. Woher der unscheinbare Jansen seine Informationen bezog, war Bahn einerlei; wahrscheinlich hörte Jansen sämtliche Funkgeräte ab und hatte einige Freunde in den Behördenstuben sitzen, die ihm gegen Bares Wissen verkauften. Aber so lange Jansen ihn als ersten und einzigen Journalisten in Düren informierte, so lange würde Bahn nicht nach dem Ursprung der Informationen fragen. Er bezahlte Jansen, dessen Beruf er noch nicht einmal kannte, gutes Geld aus dem Redaktionsetat und erhielt dafür in der Regel gutes Material.
Nur, wie lange noch? Das war die Frage. Mit der anstehenden Digitalisierung des Polizeifunks, der im Aachener Grenzland bereits erfolgreich getestet wurde, war es mit dem illegalen Abhören wohl endgültig vorbei. Aber daran jetzt schon Gedanken zu verschwenden, war müßig. Es gab momentan Wichtigeres. Wenn Jansen doch endlich abheben würde.
Nervös trommelte der Journalist mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, während er darauf wartete, bis sich der Informant meldete. Mitternacht war kein Grund, auf den Anruf zu verzichten. Er würde läuten lassen, bis selbst die größte Schlafmütze wach würde.
»Ich bin's«, sagte er endlich schroff, »was gibt's, du Penner?«
Jansen ließ sich von dieser beleidigenden Bemerkung nicht aus der Ruhe bringen. Er, der nie um einen lockeren Spruch verlegen war, blieb sachlich und informativ, was das untrügerische Zeichen dafür war, dass er die Sache ernst nahm.
»Vor 'ner knappen Stunde haben die Bullen einen Garagenhof im Grüngürtel abgeriegelt. Dort soll 'ne Leiche liegen. RTW, Leichenwagen und Feuerwehr sind draußen. Es kommt keiner ran.«
»Nur die Fuzzis vom Fernsehen«, unterbrach ihn Bahn barsch, »die sind alle da.«
»Die auch nicht, die stehen alle mindestens hundert Meter vom Fundort der Leiche weg.«
»Woher weißt du das?«
Jansen fiel in einen säuselnden Tonfall, der andeutete, dass er darauf nicht antworten wollte und das Thema für ihn abgehandelt war. »Helmut, mein Bester. Die wollen alle von mir Informationen und klagen mir alle ihr Leid. Aber ich sage ihnen nichts. Ich rede nur mit dir.« Er kicherte. »Weil du immer so gut zu mir bist, mein Bester. Vergiss nicht mein Honorar und viel Spaß in der Kälte.«
Bahn zögerte nicht lange. Er griff im Flur nach seiner Lederjacke und schaute kurz durch die Tür zum Wohnzimmer.
»Ich bin wieder weg«, sagte er hastig.
Nur flüchtig blickte er in das Gesicht von Giselas Freundin. Anne hatte wohl geweint. Krach mit dem Alten vielleicht oder Ärger im Beruf. Aber das war nicht sein Problem. Er konnte die Schibulski oder so ohnehin nicht leiden.
Problemlos hatte der Journalist bei seiner langsamen Fahrt durch das nächtliche Viertel den Einsatzort gefunden. Die Polizei hatte mit drei Streifenwagen den Bereich in einer wenig beachteten Nebenstraße der Nachkriegssiedlung abgesperrt und ließ niemanden durch. Hier im Grüngürtel waren in dem vom Krieg massiv zerstörten Düren Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger die ersten Wohnblocks hochgezogen worden, um Unterkünfte für Arbeitskräfte zu schaffen. Auf soziales Klima oder Gemeinschaftsbewusstsein wurde dabei keine Rücksicht genommen. In der Siedlung fristete man üblicherweise seinen Lebensalltag und wurde allenfalls bei Wahlen als Stimmvieh beachtet.
Erstaunt registrierte Bahn, dass zwar drei Männer mit Kameras vor dem rot-weißen Flatterband hinter den Fahrzeugen postiert waren, mit dem der Zugang zu der Garagenanlage verhindert wurde, dass aber kein Schaulustiger und keiner seiner Kollegen von den Dürener Konkurrenzblättern anwesend war. Es war beklemmend still, als er aus seinem Kleinwagen stieg und dabei nach dem Fotoapparat auf dem Beifahrersitz griff. Und es war lausig kalt, wie er feststellte, einige Grade unter Null. Kein Wunder, dass sich hier niemand länger aufhielt, als es sein musste und dass niemand freiwillig einen Mitternachtsspaziergang machte. In einiger Entfernung erkannte er die von der Feuerwehr aufgebauten Scheinwerfer, die offensichtlich einen nicht einsehbaren Platz erhellten. Bahn hatte sich noch nicht den wartenden Männern und den Polizisten genähert, als die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet und die punktuelle Nachtbeleuchtung eingeschaltet wurde. Nur eine schwach schimmernde Lampe am Ende eines Peitschenmastes gab etwas Licht; zu wenig, um in die abgesperrte Straße hineinzublicken, aber ausreichend, um die Männer zu erkennen, die mit tief in den Jacken eingegrabenen Händen auf der Stelle trippelten, um sich ein wenig Wärme zu verschaffen. Bahn grüßte nur flüchtig die Sensationsgeier, wie er die vermeintlichen Journalisten bezeichnete, die glaubten, mit dem Besitz einer Videokamera das schnelle Geld bei einem der Privatsender machen zu können, und wandte sich einem der frierenden Polizisten zu.
»Was gibt's?«, fragte er lässig.
»Nichts«, antwortete der Grüne nicht minder lässig.
Bahn kannte den Streifenpolizisten nicht. Der Junge, der ihn herablassend musterte, war wohl neu im Städtchen.
»Und warum stehen Sie dann hier herum und sperren halb Düren ab?«, knurrte der Journalist gereizt.
»Weil wir nichts Besseres zu tun haben«, erhielt er prompt und pampig zur Antwort.
Bahn wollte aufbrausen und sich den arroganten Schnösel vorknöpfen, als er eine Hand schwer auf seiner Schulter spürte.
»Nichts für ungut, Helmut«, hörte er eine vertraute Stimme, während er zur Seite geschoben wurde. Die Stimme gehörte einem der Polizisten, die schon seit Jahren an der Rur ihren Dienst schoben und mit denen Bahn es immer wieder zu tun hatte.
Freundlich schüttelte der Journalist dem älteren Grünen die Hand.
»Was gibt's?«, fragte er erneut.
»Mein Kollege hat es dir doch schon gesagt. Nichts.« Der...