5. Kapitel
Kräftig pustete Bahn durch. Sein Lokalchef hatte ihm die Geschichte mit dem unzuverlässigen Faxgerät bedenkenlos abgenommen. Ohne lange zu zaudern, hatte Waldhausen danach in der Kölner Zentrale angerufen und sich bei Waldmann massiv über die unzumutbaren Arbeitsbedingungen in der Redaktion beschwert und über die mangelnde Sorgfalt, mit der die Zentrale die Dürener Außenstelle betreut.
»Die Blamage von heute geht ganz klar auf Ihre Kappe«, hatte Waldhausen erbost dem CvD vorgeworfen. »Ich frage mich, warum wir überhaupt noch mit Ihnen über unsere Probleme reden. Das hat doch keinen Zweck.« Das Tageblatt sei in Düren zur Witzfigur geworden, weil die Zentrale lahmarschiger sei als ein dreibeiniger Ziegenbock mit einem Glasauge. »Ich bin nicht bereit, die Verantwortung für diese Peinlichkeit zu übernehmen und ich weiß, dass mein Kollege Bahn dafür nicht verantwortlich ist.«
Scheinbar wütend knallte Waldhausen den Telefonhörer auf die Gabel und grinste unvermittelt Bahn an, der vor ihm am Schreibtisch saß.
»So, Helmut, jetzt erzähl mal«, forderte er freundlich seinen Kollegen auf. »Was ist Sache? Wie geht's weiter?«
Bahn ließ sich sehr viel Zeit mit seiner Antwort. Er musterte angespannt seinen Chef, der auch sein Freund war und dem er feige sein Lügenmärchen aufgetischt hatte. Waldhausen war knapp zwei Jahre jünger als er, zwar wie Bahn groß und schlank, aber wegen seiner ständigen Radtouren durchtrainiert und ausdauernd, und, was das wichtigste Merkmal schlechthin war, er war wie Bahn ein Lokalredakteur von Schrot und Korn, dem statt Blut Druckerschwärze durch die Adern floss, wie Bahns Frau Gisela stets freundschaftlich zu lästern pflegte. Mitte 30 waren die beiden Freunde.
Bahn hatte es Waldhausen nicht übel genommen, als dieser als Externer von Bonn kommend statt seiner vor ein paar Jahren zum Chef der Dürener Lokalredaktion bestimmt worden war. Bahn verfügte zwar in der Redaktion über die meiste Erfahrung, Waldhausen hatte aber stets den Überblick über das gesamte redaktionelle Geschehen, der ihm selbst bisweilen abging. Bahn wusste, dass ihm Waldhausen den Rücken freihielt, wenn er wieder einmal zu schnell gehandelt und weit übers Ziel hinausgeschossen hatte und dabei zuweilen abstruse Schlüsse zog. Waldhausen bremste ihn und hielt ihn oft unmerklich zurück oder brachte den begeisterungsfähigen Bahn wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück, wenn mit ihm die Fantasie vollends durchging.
Mit ruhigem Blick und großer Gelassenheit wartete Waldhausen auf Bahns Antwort. Falls er dachte, dass er Bahn die Version mit dem Faxgerät nicht glaubte, so ließ er seine Zweifel jedenfalls nicht durchblicken. Waldhausen hatte sich bequem in seinen Sessel zurückgelehnt, die Füße übereinander auf die Tischkante gelegt und die Arme im Nacken verschränkt. Das war seine typische Gesprächshaltung, wenn er sich unter vier Augen in der Redaktion mit seinem Freund unterhielt.
Bahn nahm die Dürener Zeitung in die Hand. »Das sind die Fakten, auf die wir aufbauen können«, sagte er langsam. »Jetzt müssen wir sehen, dass wir mehr Informationen als unsere Kollegen von der anderen Straßenseite bekommen.«
Bahn wertete Waldhausens kurzes Kopfnicken als Zustimmung. »Ich werde auch mit Küpper reden. Und .«, er legte absichtlich eine Pause ein, »und ich werde Franken anhauen. Ich kenne ihn seit ewigen Zeiten. Was meinst du dazu, Fritz?«
Waldhausen schüttelte ablehnend den Kopf. »Das würde ich nicht tun. Der hat garantiert anderes im Sinn, als sich mit dir zu unterhalten.«
»Wenn du meinst. Aber du wirst mir sicherlich nicht den Blick ins Archiv verbieten?«
Waldhausen stutzte kurz: »Warum sollte ich?«
Bahn schmunzelte selbstzufrieden. »Lass dich überraschen. Wenn ich mich recht erinnere, hat es vor deiner Zeit hier an der schönen Rur, als du noch im ehemaligen Bundesdorf Bonn am schmutzigen Rhein versuchtest, Journalismus zu betreiben, eine tragische Geschichte mit Franken gegeben.« Insgeheim wunderte sich Bahn im Nachhinein, dass in der aktuellen Ausgabe kein Medium auf die damalige Geschichte eingestiegen war. Das Fehlen konnte nur damit zusammenhängen, dass in den anderen Lokalredaktionen relativ junge Kollegen am Werke waren, die erst seit wenigen Jahren in Düren arbeiteten. Da war Bahn mit seinen mehr als 15 Dienstjahren beim Dürener Tageblatt trotz seines noch relativ jungen Alters schon ein Dinosaurier, der Mann mit der meisten Erfahrung aller Journalisten im Städtchen. Anders als viele Kollegen aus seiner Anfangszeit hatte es ihn nie danach gedrängt, aus der angeblichen Provinz zu entfliehen und anderenorts eine vermeintliche Karriere zu machen. Er war damals noch einer der wenigen gewesen, die das Glück gehabt hatten, quasi direkt von der Schulbank und nach dem Wehrdienst in eine Zeitungsredaktion hineinzurutschen, was inzwischen undenkbar war. Ein abgeschlossenes Studium wurde nun zur Grundvoraussetzung gemacht, um überhaupt eine Ausbildung zum Redakteur beginnen zu dürfen. So war Bahn zwar kein Akademiker, aber mit einem reichlichen Ortswissen gesegnet, das den hochnäsigen Unischnöseln auf ihrer Zwischenstation nach oben abging.
Bahn war eingefleischter Dürener Junge und würde nur unter Zwang diese Stadt, die seine Stadt war, verlassen.
Für Küpper war es geradezu eine Selbstverständlichkeit, sich zum Mittagessen mit Bahn in der Gaststätte Stollenwerk zu treffen. »Wenzel hat mir heute Morgen sofort gesagt, dass du gestern niemanden zu der PK geschickt hast. Er war schon ganz unruhig und hat danach noch ein Fax losgelassen, damit du informiert wirst«, berichtete der Kommissar, als Bahn angerufen hatte. »Warum hast du nichts gebracht?«
»Ist eine lange Geschichte«, knurrte Bahn gereizt, »werde ich dir beim Essen erzählen.« Wenn er mit Küpper allein war, duzten sie sich, in Anwesenheit anderer beließen sie es beim förmlichen »Sie«. Ihre Freundschaft war für den Hausgebrauch bestimmt, wie Küpper meinte. Pressekollegen hätten schnell von Kumpanei gesprochen, bei der Kripo wäre womöglich von einer Bevorzugung eines Journalisten gesprochen worden, wenn sie ihre, in gemeinsam durchlebten Kriminalfällen gewachsene Freundschaft offen gezeigt hätten.
»Was ich dir privat anvertraue, Helmut, geht Sie, Herr Bahn, als Journalist nichts an«, so umschrieb der Kommissar die Beziehung, wissend, dass Bahn sich nicht immer daran halten konnte.
Der Redakteur winkte freundlich, als Küpper suchend das gut gefüllte Lokal betrat. Der Kommissar sah wie immer mit seinem betrübten Hundeblick um sich, weswegen er in Kollegenkreisen den Spitznamen Bernhardiner erhalten hatte. Der trübsinnige Blick täuschte oft darüber hinweg, dass der fast 60-jährige Beamte in leitender Funktion als versierter Ermittler galt und in Ganovenkreisen gehörigen Respekt besaß. Wenn es in Düren eine komplizierte Nuss zu knacken gab, schaltete sich der Nussknacker Küpper ein, der fast immer, mehrmals sogar mit Bahns Unterstützung, zu den gewünschten Erfolgen gekommen war.
Küpper hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf. »Nur eines muss ich loswerden. Ich wusste gar nicht, dass dein Chef so viel Calvados vertragen kann«, meinte er scherzhaft rückblickend auf die Frankreichtour.
»Mich interessiert nicht die Standfestigkeit der Schnapsblase«, brummte Bahn, während er am Kölsch nippte. »Was gibt's Neues bei Franken?«
»Nichts, mein Freund«, antwortete der Kommissar und griff ebenfalls zum Glas. »Noch nichts, Helmut«, fügte er dann ruhig hinzu.
Bahn horchte sofort auf. »Nichts«, das war die offizielle Version, »noch nichts«, das war der Ausdruck für den tatsächlichen Stand der Ermittlungen. Der Journalist sah Küpper fragend an. >Erzähl schon!<, forderte er mit einem stummen Blick.
»Wir haben in der Nähe der Leiche eine Taschenlampe auf dem Boden im Kinderzimmer gefunden. Darauf befinden sich einige schöne Fingerabdrücke. Fast wie aus dem Lehrbuch.«
»Schon identifiziert?«
Der Bernhardiner nickte bejahend. Er schwieg, bis eine Serviererin das Mittagessen, Schnitzel mit Blumenkohl und Kartoffeln, gebracht und wieder gegangen war. »Eine Kleinigkeit, längst schon erledigt. Sie gehören einem unserer alten Bekannten.«
»Dann habt ihr also doch einen Tatverdächtigen?«, fragte Bahn verwundert. Bei der Aussage von Wenzel am Sonntag hätte sich die Sachstandbeschreibung anders, erfolgloser angehört.
Küpper lächelte entschuldigend. »Aus ermittlungstechnischen und taktischen Gründen hat mein Kollege zu diesen Abdrücken geschwiegen. Ich hätte es auch getan. Gerade bei einer Entführung musst du sehr vorsichtig taktieren. Wir wollen den Täter in Sicherheit wiegen.«
»Den Täter oder die Täter?«, hakte Bahn rasch nach.
»Wir haben eindeutige Hinweise auf einen Täter, eben die Fingerabdrücke«, antwortete Küpper geduldig, »das schließt aber selbstverständlich nicht aus, dass es Mittäter gibt, wenn nicht sogar geben muss.«
Er habe die Akten des identifizierten Tatverdächtigen angefordert, berichtete er weiter. »Kopfzerbrechen bereitet uns auch die Taschenlampe. Sie stammt aus Frankreich und ist in Deutschland überhaupt nicht im Handel erhältlich.«
Nachdenklich kratzte Bahn sich das kurze Haar. »Wo ist das Baby geblieben?«
»Kennst du die Lottozahlen vom nächsten Samstag«, entgegnete der Bernhardiner und griff zum Bierglas. »Wir wissen es nicht. Der Junge ist spurlos verschwunden.«
»Wie Ernst Franken«, sagte Bahn sachlich.
Der Kommissar verschluckte...