Mallorca-Experte
Ich konnte mir nur noch mit dem Zeigefinger gegen die Stirn tippen und den Mund zu einem spöttischen Grinsen verziehen, nachdem der ungehobelte Mann mein Büro verlassen hatte. Mit was für einen Unsinn hatte ich mich bloß zu beschäftigen? Am liebsten hätte ich den Typen schleunigst aus der Kanzlei hinauskomplimentiert und an einen hungerleidenden Kollegen verwiesen. Aber Karl Stemmler hatte schon eine Vollmacht unterschrieben, mit der er unsere Anwaltskanzlei als seine Rechtsvertretung auswies, bevor er zuvorkommend von meiner Sekretärin ins Zimmer geleitet worden war.
Braun gebrannt, frisch aus dem Sommerurlaub nach Aachen zurückgekehrt, erholt und voller Tatendrang, so stand der stämmige Mann in den Dreißigern vor mir, als er mir zum Gruße beinahe mit seiner Pranke die Hand zerquetschte. Ich müsse unbedingt seine Reisegesellschaft verklagen, polterte Stemmler ungefragt los, nachdem er sich in den Besucherstuhl vor meinem Schreibtisch gepflanzt hatte. Er sei gestern erst von seinem Urlaub auf Mallorca nach Hause zurückgekehrt und hätte überhaupt nichts von den vierzehn Urlaubstagen gehabt. »Jeden Morgen musste ich um sechs Uhr aufstehen, damit ich uns noch Liegen am Swimmingpool reservieren konnte.« Für ihn, seine Frau und die beiden kleinen Kinder hätte er immer Badehandtücher auf die Pritschen legen müssen, damit andere Hotelgäste ihnen nicht die begehrten Schattenspender vor der Nase wegschnappten. Außerdem hätte es viel zu wenige Sonnenliegen gegeben. »Die hatten für die tausend Leute im Hotel gerade einmal fünfhundert Liegen. Sie verstehen, wa?«
Ehrlich gesagt, ich verstand nichts oder jedenfalls nicht, was der forsche Mann eigentlich bezweckte.
Stemmler beugte sich vor und legte seine kräftigen Unterarme auf die Schreibtischplatte. »Das ist so, wa. Wenn ich bei der Arbeit um sechs Uhr auf Schicht muss, muss ich immer schon um fünf Uhr aufstehen. Da will ich wenigstens im Urlaub endlich einmal richtig ausschlafen, wa.« Stemmler schüttelte bedauernd den Kopf. »Das war aber überhaupt nicht möglich. Ich musste ja immer so früh raus, wegen der Handtücher für die Liegen. Da habe ich nichts vom Urlaub gehabt. Und das Hotel ist Schuld daran.« Er sah mich grimmig an. »Jetzt will ich Geld zurück. Wegen unerfüllter Urlaubsfreuden oder so, wa. Ich hab da mal was im Fernseher gesehen.«
Stemmler richtete sich auf und breitete die Arme aus, als wolle er die Welt umfassen. »So neunhundert Märker müssten da schon rausspringen, wa. Das Geld sollen Sie für mich einklagen.«
Ich sah den Gemütsmenschen grüblerisch an. >Sonst hast du keine Probleme<, sagte ich zu mir. »Wir werden sehen, was sich machen lässt«, meinte ich mit gespielter Zuversicht, während ich aufstand und Stemmler zum Flur begleitete. Er solle seine Reiseunterlagen und sonstige Papiere an unserer Empfangstheke abgeben. Ich würde mich sofort um die Angelegenheit kümmern.
»Junge, du wirst das schon machen, wa«, meinte Stemmler jovial zum Abschied und klopfte mir vertrauensvoll auf die Schulter.
>Das war mal wieder typisch deutsch<, schimpfte ich vor mich hin. >Alle wollten den Hintern hinterhergetragen bekommen und noch etwas mehr, weil sie bezahlt haben.< Aber was konnte ich schon anderes erwarten? Daraus bestand halt das gewöhnliche Publikum, das auf der Mittelmeerinsel Sommerurlaub machte. Mallorca, die Urlaubsinsel für deutsche Putzfrauen und Schluckspechte, hatte sich diese Typen herangezogen, die nach ihren feuchtfröhlichen Ferientagen lamentierend vor den Kadi zogen.
Ich fühlte mich richtig wohl bei der Bestätigung meines harschen Vorurteils durch Stemmler, zumal mir auch niemand widersprach.
Ich griff wieder zur Tageszeitung und vertiefte mich in den interessanten Artikel, den ich wegen Stemmlers Erscheinen nicht zu Ende hatte lesen können. Die Zeitung berichtete über ein dubioses Ereignis in einem Aachener Luxushotel. In der Badewanne einer komfortablen Suite war die Leiche eines Mannes gefunden worden. »Fast wie Barschel«, behauptete der Reporter ungeniert und schilderte bedenkenlos die Umstände. Voll gepumpt mit einer Überdosis Schlaftabletten nach einem Alkoholgelage habe sich der Unbekannte bekleidet in die Wanne gelegt, »und wachte nicht mehr auf.« Wer der Mann war, woher er kam, wie lange er schon in dem Hotel wohnte, das waren Fragen, auf die es noch keine Antworten gab. Der Journalist versicherte, er werde weiter berichten und die Leser über die Hintergründe des spektakulären Selbstmordes aufklären.
>Warum eigentlich?<, fragte ich mich nachdenklich. Der Mann hatte sein Leben beendet und bestimmt seine Gründe dafür gehabt. Das war seine Privatsache und keine Angelegenheit, die die Öffentlichkeit zu interessieren hatte. Kopfschüttelnd legte ich die Zeitung zur Seite und spürte meinen knurrenden Magen.
»Warum bekomme nur immer ich den Abfall auf den Tisch?«, moserte ich, als ich mit meinem Freund und Chef in einem kleinen Restaurant an der Theaterstraße in Kanzleinähe zu Mittag aß.
Doch Dieter prustete nur vor Lachen, nachdem er meine Geschichte gehört hatte, statt mich zu bedauern oder mir wenigstens eine plausible Antwort zu geben.
Alle unsere Nachwuchskräfte, frisch gebackene Rechtsanwälte, die sich bereits während ihrer Referendarzeit bei uns ausgezeichnet hatten, waren von Dr. Dieter Schulz, seines Zeichens Inhaber einer renommierten Anwaltskanzlei, beziehungsweise meistens von seinem Bürovorsteher auf knifflige Fälle angesetzt worden. In aller Regel wurde unsere Kanzlei bei Familienstreitigkeiten aller Art aktiv, wenngleich nach meinem Eintreten in die Riege der Juristen der Bereich des Wirtschaftsrechts für uns immer größere Bedeutung gewonnen hatte.
»Da hast du's, Tobias«, sagte Schulz allen Ernstes, »das ist eindeutig ein Fall aus dem Wirtschaftsrecht. Neunhundert Mark wegen entgangener Urlaubsfreuden, weil auf Mallorca zu wenige Sonnenliegen für die Touristen vorhanden sind. Find ich echt gut«, sagte er und lachte erneut, dass ihm die Tränen aus den Augenwinkeln liefen.
Am liebsten hätte ich Schulz heftig gegen das Schienbein getreten oder sonst wohin, aber dann unterließ ich es doch sinnvollerweise; nicht etwa aus Angst oder Respekt vor meinem Brötchengeber, sondern vielmehr, um seiner Gattin Do keinen Pflegefall zu hinterlassen.
»Du kannst nicht immer nur die Rosinen aus dem Kuchen picken, Tobias.« Dieter schlug einen versöhnlichen Tonfall an. »Es ist bestimmt nicht schlecht, wenn du einmal mit etwas Kleinkram abspannen kannst. Du hast wahrlich in der letzten Zeit genug Ärger am Hals gehabt.«
Mein Freund untertrieb gewaltig, aber ich wusste, was er meinte. Seine Fürsorge für mich war zu sehr von seiner eigenen Bescheidenheit geprägt. Schließlich hatte Dieter gemeinsam mit mir die letzten turbulenten Monate überstehen müssen und war nicht weniger angespannt als ich.
Wir waren ein Duo, Dieter und ich, schon seit Jahren miteinander befreundet und galten bei Kollegen und Gegner nur als die Zwillinge, was sich jedoch nur teilweise auf unser Äußeres bezog. Während Dieter stets mit Anzug und Krawatte bekleidet umherstolzierte, bevorzugte ich tagaus, tagein Jeans, Sweatshirt und gelegentlich eine Lederjacke.
Wir seien uns im Laufe der letzten Jahre immer ähnlicher geworden, behaupteten unsere Liebsten. Wir seien nicht nur ziemlich gleich groß, und schlank, sondern auch blond und blauäugig und würden uns in unserem Benehmen immer mehr angleichen.
Unsere Liebsten, Do und Sabine, müssten es eigentlich wissen. Immerhin sind sie tatsächliche Zwillinge, die sich im Wesentlichen nur dadurch unterscheiden, dass Dieters Gemahlin Do mein Patenkind Tobias junior betreut und vor den Erziehungsversuchen seines Vaters bewahrt, während die Patentante Sabine im Hauptberuf als meine persönliche Sekretärin und Partnerin sich vornehmlich um mich und, wie Dieter lästernd behauptet, um meine Erziehung zum erwachsenen Menschen kümmert.
Rund zehn Jahre hielt unsere Freundschaft schon. Damals, wir waren nicht einmal dreißig, hatte Dieter mich in einem Strafverfahren verteidigt. Später war ich dann in seine Kanzlei eingetreten, stets als gleichberechtigter Partner, zunächst als Bürovorsteher und erst sehr viel später als Anwalt. Dieter hatte vorgeschlagen, den Kanzleinamen in »Schulz und Grundler« zu ändern, aber ich hatte mich dagegen ausgesprochen.
Ich mochte es nicht, über das unvermeidliche Maß hinaus an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Ich war immer schon ein Mann für die Arbeit hinter den Kulissen gewesen.
»Mir ist es egal, wenn du die Ehre einheimst«, sagte ich zu Dieter, »dann hast du nämlich auch die Verpflichtung, dieser Ehre gerecht zu werden.«
Dieters skeptischer Blick verriet mir seine Vermutung, dass ich noch eine kleine Nettigkeit für ihn auf Lager hatte: »Wer die Ehre hat, hat auch das Geld, wer das Geld hat, bezahlt selbstverständlich.« Schmunzelnd schob ich mir den letzten Bissen meines Mittagessens in den Mund.
Ich wollte gerade in den bunten Urlaubskatalogen mit Reisen in alle Herren Länder blättern, die ich auf dem Rückweg aus einem Reisebüro mitgenommen hatte, um mich über die Welt der Kataloge und Katalogversprechen zu informieren, als Sabine und Dieter in mein Büro kamen.
Wenn beide gemeinsam auftraten, verhieß das erfahrungsgemäß nichts Gutes.
»Ich glaube, es gibt Arbeit für dich«, sagte mein Chef prompt mit sorgenvoller Miene, »und mit Sicherheit keinen Abfall.« Er setzte sich vor den Schreibtisch und reichte mir ein Fax, während Sabine an meiner Seite auf einem Stuhl Platz nahm und Stift und Papier zückte. »Dafür bist...