Vorwort - Musik und Wirklichkeit - I. Außermusikalisches Material - II. Experimente in relationaler Musik - III. Künstlerische Forschung - Konzeptmusik - I. Historische Konzeptmusik - II. Isomorphismus-Prinzip - III. Speichermedienproblem
IV. Theoriemodell der ästhetischen Moderne - V. Digitale Konzeptmusik - VI. Fazit - 33 Thesen zur Konzeptmusik - Musikalische Postmoderne - I. Lyotards Missverständnis - II. Postmoderne Kunst - III. Muzak und Darmstadt Style - IV. Musikalische Ausdifferenzierung - Fremdmaterial im Klavierkonzert - I. Konzeptmusik-Präludium - II. Selbstspielklavier als Solist - III. Vorgeschichte im Videoformat - IV. Vernichtungsarie unterm Flügel - V. Desillusionierung als Konzept - VI. Utopia - Politische Musik - I. Protestbewegungen - II. Politische Kunstmusik - III. Politischer Konzeptualismus - Noten und Samples - I. Historisches Modell - II. ePlayer in der Kunstmusik - III. Digitale Musikkultur - Künstliche Intelligenz - I. Voyager-Ästhetik - II. Beethovens Schwestern - Musikpublikum - I. Kunstmusik am Biennale-Strand - II. Auf der Suche nach dem Publikum - Musik im Sprechtheater - I. Maschine und Form - II. Psyche und Existenz - III. Sprache und Musik - IV. Sinn und Dekonstruktion - Norwegische Opra - I. Ø und der Neuanfang - II. Art-brut-Ästhetik - III. Weltkarte - IV. DeDekonstruktion - Reflexive Kunstmusik - I. Der historische Musikbegriff - II. Der aufgelöste Musikbegriff - III. Der reflexive Musikbegriff - Endnoten - Playlist - Textnachweise - Bildnachweise - Zum Autor
Musik und Wirklichkeit
Music with the Real ist ein Artistic-Research-Projekt, das an der Norwegischen Musikakademie Oslo zwischen 2014 und 2017 von dem Perkussionisten Håkon Mørch Stene organisiert wurde. Der Projekttitel spricht die zentrale Frage unmittelbar an: den Bezug der Musik zu dem, was real, wirklich, tatsächlich und faktisch ist. Wenn es hier explizit um Musik geht, dann heißt dies implizit, dass man sich programmatisch von einer Musik abzusetzen versucht. In der Projektbeschreibung heißt es konkret: «Der Ausgangspunkt des Projekts ist, dass in den letzten zwanzig Jahren die Idee der Klangrecherche - also die Suche nach neuen musikalischen Klängen, wie sie in den letzten sechs Jahrzehnten stattfand - zu einer großen Ermüdung im Bereich der zeitgenössischen Musik geführt hat. Diese Ermüdung ist zum Teil auf eine übertriebene Aufmerksamkeit für das musikalische Material zurückzuführen; Tonhöhe, Rhythmus und Klangqualität.»1 Genaugenommen geht es aber nicht nur um , sondern das ganze Paradigma - sowohl der Klassischen als auch der Neuen Musik - steht hier zur Disposition: die Idee der absoluten Musik, der zufolge Musik, ihrem Wesen und ihrem Begriff nach, reiner Klang bzw. reine Instrumentalmusik sei. Texte, Programme, Handlungen oder Bilder gehören diesem Paradigma gemäß nicht zum Wesenskern der Musik und wurden entsprechend als etwas begriffen, das nur in den dafür vorgesehenen Musikgattungen wie der Oper oder dem Lied seinen Platz hat.
I. Außermusikalisches Material
Music with the Real reagiert auf zwei gegenläufige Erfahrungen in der Neuen Musik: einerseits auf jene Ermüdungserscheinungen, die darauf zurückzuführen sind, dass sich hier seit vielen Jahren keine substanziellen Materialfortschritte mehr erzielen lassen, wie dies bis in die 1970er Jahre mit der Ausbildung neuer Ismen der Fall war. Andererseits bekommen die Komponisten heute neue digitale in die Hand, die es ihnen erlauben, dieses Innovationsdilemma konstruktiv zu überwinden. Der Computer wird zur Universalschnittstelle, an der sich Musik mit Sprache, Texten, Grafiken, Bildern, Filmszenen und Konzepten kombinieren lässt. Damit entsteht auch ein ganz anderer Typus von Kunstmusik, den man - so mein Vorschlag in Die digitale Revolution der Musik (2012) - «relationale Musik» nennen kann.2
Die Vorstellung, dass die reine Instrumentalmusik der Inbegriff von Musik sei, hatte sich im 19. Jahrhundert im Streit mit der Programmmusik etabliert und besaß normative Implikationen für die Musikkultur. Aus der Perspektive der absoluten Musik erscheinen explizite Weltbezüge als eine von Musik. Die Programmmusik wurde so automatisch als minderwertig wahrgenommen, wenn sie Instrumentalmusik über Leitmotive und Satzbezeichnungen mit konkreten Themen wie den «Alpen» oder einem «Heldenleben» verknüpfte.
Die Idee der absoluten Musik wurde von der Neuen Musik im 20. Jahrhundert adoptiert, wofür es gute Gründe gab. Zum einen hatten sich durch die Emanzipation vom tonalen System der Klassischen Musik neue Innovationsspielräume für die reine Instrumentalmusik erschlossen; es konnten sich die spezifisch modernen Ismen mit ihren neuen Kompositions- und Spieltechniken entwickeln. Zum anderen wurde die Neue Musik so wie die Klassische Musik auf akustischen Instrumenten aufgeführt, was starke Musikinstitutionen erforderlich macht, welche die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Partitur überhaupt im Konzertsaal erklingt. Diese klassischen Musikinstitutionen - die Orchester mit ihren Musikern und Dirigenten, die Konzerthäuser, Musikverlage, Verwertungsgesellschaften, Rundfunkanstalten und Musikhochschulen - entwickeln ein intrinsisches Interesse daran, dass die Instrumentalmusik diskursiv aufgewertet wird. Insofern entsteht ein Machtdispositiv zwischen den Musikinstitutionen, welche die Aufführung von klassischer Instrumentalmusik ermöglichen, und der Idee der absoluten Musik, welche diese Institutionen und ihre eingeschliffene Praxis legitimieren. Da die Neue Musik mit demselben Instrumentarium wie die Klassische Musik aufgeführt wurde, hat sie nicht nur ihre Institutionen, sondern auch ihre Leitidee übernommen und auch dann noch an ihr festgehalten, als ihre Innovationsspielräume am Ende des 20. Jahrhunderts längst erschöpft waren.
Der Begriff der relationalen Musik wurde, wie der Begriff der Programmmusik im 19. Jahrhundert, als Gegenbegriff zur Idee der absoluten Musik eingeführt - mit dem Unterschied aber, dass die relationale Musik heute über ganz andere technische Optionen verfügt, Fremdreferenzen in die musikalischen Werke zu integrieren. In diesem Sinne lässt sich relationale Musik als Musik auffassen, in der die Relationen zum sogenannten in den Begriff der Kunstmusik eingeschlossen sind und nicht, wie das bei der absoluten Musik der Fall ist, a priori aus dem Musikbegriff ausgeschlossen werden. Auf Grundlage dieser Definition kann man dann in der Programmmusik eine frühe, wenn auch extrem limitierte Form von relationaler Musik sehen. Zudem lassen sich bei der relationalen Musik heute mindestens vier verschiedene Relationierungsstrategien beobachten: Strategien der Semantisierung, Theatralisierung, Visualisierung und Sonifizierung. Man kann also relationale Musik komponieren, indem man die komponierte Musik an Texte und Sprache, an Mimik und Gestik, an bewegte und unbewegte Bilder, an Programme und Konzepte sowie an eindeutig identifizierbare Umwelt- und Naturgeräusche koppelt.
Selbstverständlich lassen sich auch in der Musikgeschichte des vergangenen Jahrhunderts Beispiele für relationale Musik finden, aber relationale Musik war im 20. Jahrhundert nicht die dominante Idee in der Selbstbeschreibung der Neuen Musik. Als Luc Ferrari sein Tonbandstück Presque rien No 1 ou Le lever du jour au bord de la mer (1970) vorstellte, fielen die ersten Reaktionen äußerst negativ aus. In einem Interview sagt er: Das Werk «wurde von meinen Kollegen der GRM schlecht aufgenommen; sie sagten, es sei keine Musik! Ich erinnere mich noch an das Treffen, als ich ihnen das Stück im Studio vorspielte und sich ihre Gesichter versteinerten.»3 Der Titel «Fast nichts oder Tagesanbruch am Meer» umschreibt die Idee: Ferrari machte in der Bucht eines kroatischen Fischerdorfes zwischen 3 und 6 Uhr morgens Tonbandaufnahmen und schnitt diese zu einem 21-minütigen Stück zusammen. Man fragt sich natürlich, wieso es zu jener instinktiven Abwehrreaktion in der von Pierre Schaeffer gründeten Groupe de recherches musicales (GRM) überhaupt kommen konnte.
Dem ersten Höreindruck nach scheint Ferrari nichts anderes zu machen als seine Mitstreiter von der musique concrète: Er komponierte wie diese mit gefundenen Klängen ein Tonbandstück. Der Unterschied ist aber, dass er diese akustischen objets trouvés nicht im Kompositionsprozess von ihren Fremdreferenzen gereinigt hat, um sie wie die musique concrète in einen reinen Klang zu transformieren, sondern dass sie bei Ferrari ihre lebensweltliche Identität behalten. Man erkennt in den Geräuschen sofort die Geräuschquellen wieder - man hört das Fahrrad, den Hahn, den Esel und den Lastkraftwagen. Das Stück, das kleine musikalische Anekdoten erzählt, hat deshalb für so viel Verdruss gesorgt, weil es sich ganz offensichtlich nicht unter die Idee der absoluten Musik subsumieren ließ, was selbst noch bei Stücken wie 4'33'' von John Cage oder I am sitting in a room von Alvin Lucier möglich gewesen war. Presque rien No 1 folgt schlichtweg einem anderen Musikbegriff, nämlich dem der relationalen Musik. Die Idee der absoluten Musik war zu jener Zeit jedoch noch so dominant, dass man Ferraris musique anecdotique, wie er sie selbst nannte, nicht einmal als extremen avantgardistischen Tabubruch wahrnehmen konnte, sondern höchstens als Preisgabe des musikalischen Kunstanspruchs, der zur Selbstexklusion aus der Neuen Musik führt.
II. Experimente in relationaler Musik
Bei den fünf Auftragskompositionen des Projekts Music with the Real handelt es sich zunächst einmal um Experimente in relationaler Musik. Ob und wieweit diese Kompositionen damit die erfassen, also einen Weltbezug herstellen können, ist damit noch nicht entschieden und muss konkret, an jedem einzelnen Werk, untersucht werden.
Henrik Hellstenius' Instrument of Speech (2016) für Klarinette, Cello, E-Gitarre, Percussion und Klavier ist ein Ensemblestück in vier Sätzen, in dem die möglichen Relationen von Musik und Sprache exemplarisch durchgespielt werden. Der experimentelle Charakter dieses Stücks wird allerdings erst auf der Kontrastfolie der absoluten Musik deutlich. Auch unter dieser Leitidee wurde mit Sprache gearbeitet, aber diese wurde selbst wieder musikalisiert,...