Schweitzer Fachinformationen
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An einem Nachmittag im Oktober, auf dem Beton ihrer Terrasse, stürzte meine Mutter.
Das Geschehen spult sich immer wieder in meinem Kopf ab wie ein alter Film. Das Bild wackelt, die Perspektive verschiebt sich, die Schärfe schwankt. Damals sah ich sie ganz klar. Sie hob sich so deutlich von ihrer Umgebung ab. Aber jetzt nicht mehr. Im Film in meinem Kopf verschwimmen die Züge meiner Mutter mit dem Hintergrund: den Schatten, dem Rasen, dem sepiafarbenen Himmel.
Sie war dort draußen, weil sie mit ihren achtzig Jahren jeden Morgen mit dem einen Ehrgeiz erwachte: diese Terrasse unkrautfrei zu halten. Immer wieder spross Unkraut zwischen den Betonplatten, und immer wieder riss sie es aus. Die Instandhaltung war Sache des Heims, aber das war meiner Mutter egal. Das Betreuungspersonal wurde weggescheucht, und wenn ich meine Hilfe anbot, wurde mir befohlen, drinnen zu bleiben. Also blieb ich drinnen. Ich saß in ihrem Wohnzimmer im Finegold Mews und trank. Draußen war ein klarer Herbsttag. Zwischen uns war eine Schiebetür; ein feiner Lichtstrahl laserte sich durch die Scheibe, fiel in das Glas in meiner Hand und brachte die Eiswürfel zum Vibrieren. Hören konnte ich nur leise Flurgeräusche: das Gebrummel anderer Bewohner, die vorbeischlurften, Sachen fallen ließen, sie wieder aufhoben.
Es war der dumpfe Schlag, der erste von zweien, der mich aufschreckte. Im Moment, als ich ihn hörte, beobachtete ich gerade, wie das Licht das Eis schmolz. Ich sah auf und erkannte sofort, in welcher Gefahr sie war. Ihre Handfläche war an die Scheibe gepresst. Ihr ganzes Gewicht schien darauf zu lasten. Ihre Fingerspitzen, zuerst dunkel-, dann hellgrau, rutschten quietschend über das Glas. Ich stand auf und rief: »Mutter!« Jahrzehntelang hatte ich sie »Mum« genannt, aber es war das Wort »Mutter«, das sich in meiner Kehle staute und ins Zimmer ergoss. Seit ihrem Tod ist es das Wort, das sich aufdrängt.
Die folgenden Sekunden sind ein Stakkato von Schwarz-Weiß-Bildern. Sie hängt in der Schwebe. Schmale, verschobene Schultern. Hochgezogene Brauen und abwärts gerichtete Augen. Grazil gedrehter Hals. Und die geäderte Hand. Nur dieses Alien-Wesen, runzlig und pockennarbig, das sie noch hält. Finger, die zentimeterweise abwärtsrutschen, bis sicher scheint, dass sie fällt.
Doch dann schlägt die Szene um. Die Hand hört auf zu rutschen. Kaum zu glauben, aber sie löst sich ganz vom Glas, fällt wie ein verwitterter Stein in die Bauchtasche der Schürze. Meine Mutter erlangt Fassung und Gleichgewicht wieder. Sie schluckt, reckt das Kinn, atmet tief durch. Es ist eine stolze, trotzige Pose. Nur die Amsel über ihr kann sehen, wie schütter ihr Haar ist.
Als der zweite dumpfe Schlag kam, schien die Sache schon ausgestanden. Im Rückblick ist klar, dass dieser Moment, in dem die Gefahr gebannt schien, der entscheidende war. Ich stand in ihrem Wohnzimmer und schaute durch die Glastür, noch immer den Drink in der Hand. Ich hätte fünf große Schritte machen, die Tür öffnen und sie hereinholen können. Oder, wenn das nicht zu machen gewesen wäre, weil sie mich für einen fremden Störenfried gehalten hätte, waren da ja noch die kleinen orangefarbenen Dreiecke an den Zugschnüren. Oder der Notfallknopf an der Wand. Ein Einundvierzigjähriger kann ohne große Anstrengung so ein Dreieck oder einen Knopf erreichen. Einen Moment lang hätte ich jede dieser Möglichkeiten wahrnehmen können.
Ich verweile hier, in diesem eingefrorenen Moment, weil es der letzte ist, in dem ich noch irgendwelche Optionen hatte.
Wie war es überhaupt gekommen, dass ich dasaß und ihre Not mitansah? Minuten, bevor es passierte, war ich noch in der Küche. Ließ gerade Eiswürfel in ein Glas klimpern.
Sie kam herein und nahm ihre Gartenhandschuhe aus einer Schublade mit der Aufschrift »Gartensachen«, bekam aber gar nicht mit, dass ich dastand, zwei Gläser Butterscotch-Schnaps, das einzig Alkoholische, das ich finden konnte, hinunterkippte und drei rosa Pillen schluckte. Seit die Demenz eingesetzt hatte, bekam sie die meisten Dinge nicht mehr mit.
Sie ging mit ihren Handschuhen ins Wohnzimmer. Ich goss mir noch einen letzten Butterscotch ein, stellte die Flasche wieder weg und sah mich nach einem Snack um. Fand aber nichts Brauchbares. Man merkte, dass sie in der Nachkriegszeit einen Haushalt zu führen gelernt hatte. Der Schrank mit dem Klebeschildchen »Medizin« war vollgepackt mit Magensäurebinder, Erkältungsbalsam, Rheumabad, antiseptischer Salbe. Im Kühlschrank gab es ein Fach »rationiert«, gefüllt mit Butter, Schmalz, Margarine, Käse, Eiern. Eine kleine Kammer am Flur (mit dem Etikett »Speisekammer«) enthielt wacklige Stapel von Konservendosen - Fisch, Tomaten, Fleisch, Suppen, Gemüse, Rübensirup. Außer den Dosen lagerten da noch Zucker (Streu-, Puder-, Rohr-), Mehl (Haushalts-, Konditor-, selbstgehend), Linsen, Nudeln, Reis. Und nicht zu vergessen die Kompottgläser, die Kisten mit Braeburn- und Bramley-Äpfeln, die Sirupflaschen. Meine Mutter hatte erlebt, was Mangel ist, und das vergaß sie nie.
Als ich mich mit meinem Drink auf dem Sofa niederließ, drang vom Gemeinschaftsflur der Geruch von Essen auf Rädern herein. Mir wurde bewusst, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Am Morgen war ich beim Gedanken, meine Wohnung zu verlassen und mich all den Gefahren der Welt da draußen zu stellen, so nervös gewesen, dass ich kein Frühstück hinunterbrachte.
»Warum lässt du mich das nicht machen?«, sagte ich. Sie humpelte über den Teppich in Richtung Glastür. »Lass mich doch das Unkraut zupfen, wenn es dich so stört.«
Sie antwortete nicht. Stattdessen schien ihr etwas Wichtiges einzufallen, und sie machte einen Abstecher zum Fernseher in der Ecke. Es war ein klobiges, altes Ding, ein Relikt aus Zeiten, als Bilder nicht so wichtig waren. Sie hielt sich an einer der abgerundeten Ecken fest, langte hinter den Apparat und zog einen Schuhkarton hervor. Sie stellte den Karton auf den Fernseher, tätschelte ihn liebevoll und machte sich auf den Weg zur Terrasse.
Ich sagte: »Was ist in dem Karton, Mum?«
Sie schob mit kolossaler Anstrengung die Glastür auf, blieb dann eine ganze Weile stehen und sann über meine Frage nach. Kalte Luft drang ins Zimmer. Dann antwortete sie. Ich erinnere mich noch an den genauen Wortlaut. Seit damals höre ich diese Worte mit immer mehr Nachhall in meinem Kopf.
Sie sagte: »Der Plan ist, ihn Mr Satoshi zukommen zu lassen.«
»Wer ist Mr Satoshi?«, fragte ich.
Und sie sagte: »Vor allem das Päckchen ist für Mr Satoshi. Wenn wir seine Adresse herausfinden.«
Ihre Stimme war leise, aber ich verstand jedes Wort ganz deutlich. Dann packte sie den Türgriff plötzlich so fest, als ob jemand Unsichtbares sie hinauszöge, und sagte: »Und wenn du hier irgendwas zu sagen hast, dann sorg dafür, dass mir die Betreuerin vom Hals bleibt.«
Sie machte die Schiebetür hinter sich zu, und ich ließ mich in die klumpigen Polster zurücksinken. Die Gartenhandschuhe lagen verwaist neben mir.
Einen Herzschlag später, als ich gerade meinen widerlich süßen Butterscotch in dem Strahl Nachmittagssonne schwenkte, hörte ich den dumpfen Schlag. Es klang wie ein Keulenhieb. Ich staunte, dass jemand so Winziges ein solches Geräusch verursachen konnte, und eine Sekunde dachte ich, die Glasscheibe würde nachgeben. Ich ging in Habachtstellung, aber die Scheibe hielt. Ihre Hand war immer noch daran festgesaugt. Weiß und klebrig und mit jeder Menge Druck darauf. Ihr Kopf neigte sich, ihr Körper sackte zusammen, ihre Hand rutschte langsam tiefer. Und dann das Wunder - ihr Körper, der sich wieder aufrichtete, ihr Kinn, das sich himmelwärts reckte, die Hand, die sich von der Scheibe löste.
Ein Ticken der Uhr genügt, dass sich alle Optionen, die man hat, in nichts auflösen.
Der entscheidende Moment. Ich fühlte mein Herz in meinem Schädel pochen. Mein Mund war plötzlich trocken, die ätzenden Auflösungsbläschen einer rosa Pille versengten irgendeinen verborgenen Winkel meiner Speiseröhre. Doch ich ignorierte diese Zeichen. Ich wollte glauben, dass der Schrecken vorbei war. In dieser leeren Sekunde, dieser Blankostelle der Zeit, wusste ich, dass ich Aktionsmöglichkeiten hatte. Aber ich war mir sicher, muss mir ja wohl sicher gewesen sein, dass keine Handlungsnotwendigkeit bestand. Warum sonst hätte ich wie angewurzelt dastehen sollen, als sie sich - durch die wundersame Wende von eben beflügelt - wieder vorbeugte, wild entschlossen, ihn zu kriegen, diesen schurkischen Löwenzahn in der Ritze zwischen zwei Betonplatten?
Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und bückte sich, tiefer, viel tiefer als eben, um der perennierenden Geißel ihrer hübschen, adretten Plattenfläche den Garaus zu machen. In der verschwommenen Graustufenversion, die ich jetzt sehe, beugt sie sich über ein riesiges Schachbrett. Und dann sehe ich es kommen. Ich sehe, dass der Löwenzahn, den sie umklammert hält, sich nicht rührt. Die gut verankerte, kräftige Wurzel löst sich nicht aus dem harten Boden. Das Einzige, was den Halt verliert, ist sie.
Diesmal kam der dumpfe Schlag nicht von ihrer Hand, sondern von ihrer Schulter. Die krachte gegen die Scheibe. Rutschte. Ihre Knie knickten ein, als sie der Zentripetalkraft des Unkrauts erlag, die sie in eine unentrinnbare Abwärtsbahn zwang.
Ich glaube nicht, dass sie, während sie dem Boden entgegenstürzte, noch mitbekam, wie schön die Pusteblume aussah. Die schneeflockenzarten Samenschirmchen waren atemberaubend. Zuerst saßen diese Schirmchen noch als dichte Kugel fest auf dem Stiel. Dann verschwanden sie ganz,...
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