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Eine große Liebe, die siebzig Jahre Schweigen überdauert
1947: Emma ist überglücklich, dass ihr geliebter Fritz doch noch aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Nun fiebert sie der Heirat entgegen. Doch der Krieg hat einen Schatten auf Fritz' Seele gelegt, gegen den nicht einmal Emma mit all ihrer Liebe ankommt. Und dann, in der Nacht, die eigentlich die glücklichste ihres Lebens sein sollte, geschieht etwas Schreckliches, das alles verändert.
2019: Marie ist mit ihrem Mann neu nach Oberkirchbach gezogen und lernt nach und nach die Einwohner des Dörfchens kennen. Auch den 92-jährigen griesgrämigen Fritz Draudt und die ebenso alte Emma Jung. Marie erfährt, dass die beiden seit fast siebzig Jahren nicht miteinander gesprochen haben. Dabei wollten sie einst heiraten. Marie nimmt sich vor, Fritz und Emma wieder miteinander zu versöhnen, bevor es zu spät ist ...
Es waren genau acht Leute in der Kirche. Zwei davon Presbyter in der ersten Reihe links, zwei Konfirmanden in der zweiten Reihe rechts. Drei alte Frauen, die auf verschiedene Reihen verteilt auf den alten Holzbänken saßen. Und Marie.
Marie saß ganz hinten. Jakob würde sie später fragen, ob man ihn auch bis in die hinterste Reihe verstanden hatte, obwohl das gar nicht nötig war. Die alten Frauen verstanden ihn auch so nicht, weil sie schlecht hörten, und ein Hörgerät betrachteten sie als unnützes Zeug. Die anderen saßen vorn. Jakob würde trotzdem fragen. Es war ihm wichtig. Laut und inbrünstig trug er seine Predigt vor. Marie kannte sie schon. Er hatte zu Hause geübt. »Ist das gut so?«, fragte er immer und wollte wissen, ob er auch alles richtig betonte. »Du machst das großartig«, sagte sie jedes Mal, und es war die Wahrheit. Er predigte für die acht Menschen in der Kirche, als wären es zweihundert, die ihm zuhörten, als wäre die Kirche proppenvoll und er müsste mit seiner Stimme und seinem Glauben bis in den letzten Winkel dringen.
Marie selbst war nicht gläubig, oder sie wusste es nicht so genau. Sie wäre es gern gewesen, für Jakob, aber sie war sich nicht sicher, ob sie an einen Gott glauben konnte, der so viel Schlimmes zuließ, so viel Böses.
»Das machen die Menschen, nicht Gott«, verteidigte Jakob ihn dann.
»Und warum tut er nichts dagegen?«, erwiderte Marie immer wieder. Inzwischen hatten sie diese Diskussionen schon lange aufgegeben. Sie ließ ihm seinen Glauben, er ließ ihr ihre Zweifel und war glücklich, wenn sie trotz allem in der letzten Reihe der Kirche saß und ihm im Anschluss sagte, dass man ihn gut gehört und dass er wundervoll gepredigt habe.
»Amen!«, sagte Jakob, lächelte und stieg von der Kanzel, während Frau Wehmeier die Orgel spielte. Lied 316. Jakob und die zwei Presbyter sangen, die beiden Konfirmanden vergruben ihre Nasen im Gesangbuch und taten so, als sängen sie mit, was blanker Unsinn war, denn bei so wenigen Leuten war jede einzelne Stimme zu hören. Von den drei Frauen blätterten zwei auf der Suche nach der richtigen Seite, die dritte sang auswendig und laut. Marie sang nicht. Sie hörte lieber zu und amüsierte sich still darüber, wie Frau Wehmeier über die Noten galoppierte und sämtliche Pausen gnadenlos überspielte. Spätestens ab der zweiten Strophe war sie dem singenden Teil der achtköpfigen Gemeinde uneinholbar davongeeilt, und wenn sie den letzten Ton anschlug, den sie besonders laut spielte und lange hielt, dann tröpfelte der Gesang nach und nach hinterher.
Jakob sang genauso schön, wie er predigte, mit einer warmen, klaren Baritonstimme. Marie wusste, dass ihm eine tiefe, männliche Reibeisenstimme wie die von Tom Waits lieber gewesen wäre, aber man konnte nicht alles haben.
Nach dem Lied schaltete Marie regelmäßig ab. Es kam nicht mehr viel. Ein paar Ankündigungen, eine Fürbitte, falls jemand gestorben war, und der Segen. Dann stellte sich Jakob an den Ausgang und verabschiedete die Gottesdienstbesucher. Einer der Presbyter stand mit stoischer Miene und einem kleinen Körbchen für die Kollekte daneben. Der zweite versah währenddessen die Aufgaben eines Kirchendieners und kümmerte sich um das Glockengeläut.
Marie ging als Letzte durch die Tür, warf ein paar Münzen in den Korb und gab ihrem Mann die Hand, als wäre sie eine Unbekannte. Manchmal drohte sie damit, ihn zu küssen. Das gehörte sich sicher nicht, aber eines Tages würde sie es trotzdem tun. Was konnte Gott schon dagegen haben, wenn eine Frau so in ihren Mann verliebt war, dass sie ihn küssen wollte, selbst wenn er dabei noch den Talar trug? Falls es diesen Gott gab. Und falls nicht, war es sowieso egal.
Nur den Presbytern war es vielleicht nicht egal oder den alten Damen, die achteten auf so was. Jedenfalls behauptete das Jakob. Ganz sicher war er da auch nicht. So lange waren sie noch nicht in der Gemeinde, erst drei Wochen, und wussten nicht, wie konservativ oder wie locker die Leute hier auf dem Land waren.
»Sehr schöne Predigt, Herr Pfarrer!«, sagte Marie und reichte Jakob die Hand. Sie liebte es, wenn er dann verlegen wurde, mit zusammengepressten Lippen ein breites Lächeln zurückhielt und ihre Hand heimlich ein wenig drückte. »Danke!«, sagte er.
Sie trat hinaus in die Sonne und stieg die fünf Stufen des Kirchenportals hinab in den gepflasterten Kirchhof.
»Herr Pfarrer!«, hörte sie, wie der Presbyter mit dem Kollektenkorb Jakob ansprach. »Haben Sie noch einen Moment?«
Marie seufzte, lehnte sich gegen die dicke Kirchenmauer und ließ ihr Gesicht von der Frühlingssonne wärmen. Einen Moment, das bedeutete ihrer Erfahrung nach oft eine halbe Stunde. Die Landbevölkerung hatte ein anderes Zeitgefühl als die Leute in der Stadt, das hatte sie schon früh festgestellt. Manchmal hatte das sein Gutes, manchmal eben auch nicht.
»Auf Wiedersehen, Frau Pfarrer!«, rief eine der Frauen, die, die alle Lieder auswendig singen konnte.
»Auf Wiedersehen«, antwortete Marie freundlich. Sie kannte den Namen der Frau noch nicht und schämte sich, denn sie sollte doch zumindest die Leute kennen, die so nett waren, für Jakobs Sonntagspredigt früh aufzustehen. Zudem hatten sie die Qual der Wahl zwischen dem weiten Weg zur Kirche am Wald entlang und dem näheren, aber beschwerlichen Weg den Berg hinauf über die Treppen mit ihren zahllosen unregelmäßigen Stufen. Gleichgültig wofür man sich entschied, der sonntägliche Kirchgang war unweigerlich mit einem strammen Fitnessprogramm verbunden.
»Haben Sie sich schon eingewöhnt bei uns?«, fragte die alte Frau. Auch das war typisch, wie Marie schon bemerkt hatte: Man sagte »Auf Wiedersehen« und schob dann noch eine Frage hinterher. Oder eine Anmerkung, einen Scherz, einen Seufzer.
»Ach, na ja . schon irgendwie«, wich Marie aus. Was sollte sie auch antworten? Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie sagen müssen: Ich fremdele an jedem neuen Morgen, an dem ich hier wach werde. Ich bereue es an jedem Abend, hierher gezogen zu sein, weil in diesem leblosen kleinen Dorf nichts, absolut nichts los ist und weil ich die Stille und die verlassenen Straßen kaum ertragen kann. Wenn mein Mann nicht wäre, wäre ich noch heute Mittag auf und davon. Sollte sie das etwa sagen? Nein, das tat man nicht als Frau des neuen Pfarrers, genauso wenig, wie ihn nach dem Gottesdienst zu küssen.
Die alte Frau schmunzelte wissend, als hätte sie jede einzelne dieser lediglich gedachten Antworten gehört. Dann wankte sie die Stufen der Kirchentreppe hinab. Ihre Hand suchte an dem halb verrosteten Geländer mit der abgeblätterten grünen Farbe Halt. Stellenweise war das Geländer sogar unterbrochen, sodass man ein paar Schritte freihändig zurücklegen musste. Dass noch keiner der alten Leute gestürzt war, grenzte an ein kleines Wunder, aber es war kein Geld da, um das Geländer zu erneuern oder wenigstens die Stufen der Treppe zu befestigen. Geld war für gar nichts da, das hatte man dem Pfarrer gleich am ersten Abend erklärt. Die Orgel war die letzte größere Anschaffung der Kirchengemeinde gewesen, und das war nun auch schon siebzehn Jahre her.
»Daran haben wir uns verhoben«, so hatte sich der Vorsitzende des Presbyteriums ausgedrückt. Verhoben. Dabei hatte er ganz gebeugt am großen Tisch im Pfarrhaus gesessen und den Eindruck gemacht, als wäre er selbst derjenige, der sich verhoben hatte.
Marie schaute der alten Frau hinterher, hielt die Luft an, als diese an die erste Stelle ohne Geländer kam, und atmete auf, als ihre Hand wieder sicheren Griff fand. Möglicherweise war ja die Schutzengelrate rund um die Kirche besonders hoch.
Marie hob den Blick und ließ ihn über das Tal gleiten. Das war der Vorteil an der Lage der Kirche: Von der Anhöhe hatte man die schönste Aussicht weit über das ganze Dorf hinweg, fast von einem Ende bis zum anderen. Malerisch lag es zwischen der niedrigen Hügelkette auf der einen Seite und dem sanft ansteigenden, reich bewaldeten Berghang auf der anderen. Mitten in einem Meer aus satt leuchtendem Grün. Die Häuser sahen aus, wie in dieses Meer hineingepurzelt, dahin und dorthin, die älteren mehr in die Mitte, die neueren weiter außen, Einfamilienhäuser unter roten Ziegeldächern. Der kleine Bach am Rande des Dorfes schuf die natürliche Grenze. Ihm verdankte der Ort seinen Namen: Oberkirchbach.
Es war wunderschön, und doch konnte Marie die Aussicht nicht genießen, sie konnte nicht denken: Wie schön! Sie dachte nur: Wie klein! Wie entsetzlich klein und trist.
Sonntag für Sonntag stand sie da oben und versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wie herrlich diese Gegend war mit ihren Hügeln, Feldern und Wäldern. Wie ursprünglich die Natur war, wie gesund die Luft, wie erholsam die Ruhe. Doch an jedem neuen Sonntag lag eine Woche hinter ihr, die ihr wie ein Loch vorkam, das ihre Lebenszeit verschluckt hatte.
Sie hatte sich das nicht richtig vorgestellt, wie es sein würde als Pfarrersfrau in einem kleinen Dorf, als »Frau Pfarrer«. Genau genommen hatte sie sich gar nichts vorgestellt. Sie war in einer Kleinstadt geboren und...
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