Schweitzer Fachinformationen
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Kira Wagner saß in dem dunkelblauen Sessel im Sprechzimmer ihrer Praxis, die Beine übereinandergeschlagen. Auf ihren Oberschenkeln lag ein Notizblock, in der rechten Hand hielt sie einen Kugelschreiber. Unauffällig ging ihr Blick zu dem Regal hinter dem Sessel ihrer Patientin. Dort stand die kleine Uhr, die Patrick ihr damals zur Eröffnung der Praxis geschenkt hatte. Es war siebzehn Uhr fünfzig. Die Therapiestunde war um.
Evelyn Braun knetete ihre geröteten Hände und hielt den Blick gesenkt.
»Über die möglichen Alkoholprobleme Ihres Mannes sollten wir in unserer nächsten Stunde sprechen«, sagte Kira sanft.
»Ja.« Evelyn Braun sah auf ihre Armbanduhr. »Liebe Güte, wir haben überzogen. Ich muss los, ich muss noch einkaufen.« Rasch stand sie auf. »Bis nächste Woche, Frau Wagner. Meinen Sie wirklich, ich brauche mir nicht so viele Gedanken zu machen?«
»Sicher nicht. Aber auch darüber reden wir beim nächsten Termin.«
Kira stand ebenfalls auf. Sie begleitete ihre Patientin bis zur Tür ihrer Praxis im ersten Stock des Ärztehauses im Stadtteil Meyernberg in Bayreuth.
»Eine gute Zeit für Sie, Frau Braun«, verabschiedete sie sie.
»Ebenso«, murmelte die Frau und eilte die marmornen Stufen hinunter.
Kira drückte die Tür wieder ins Schloss und ging zurück in ihr Sprechzimmer. Sie öffnete die beiden Fensterflügel, wie immer, wenn eine Sitzung beendet war. Die warme Luft des frühen Abends drang in den Raum. Kira wandte dem Fenster den Rücken zu und begann, ihre Papiere zu ordnen, die auf dem Schreibtisch lagen. Eigentlich standen jetzt noch Büroarbeiten an. Sie hatte etliche Berichte zu schreiben, musste die Anfrage einer Krankenkasse beantworten und ein Gutachten erstellen. Lust dazu hatte sie keine.
Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch, streckte die Beine von sich und betrachtete den unerledigten Papierkram. Es war kurz vor halb sieben, und es war Sommer. Ein herrlicher Sommer. Seit zwei Wochen war ein Tag schöner als der andere.
Kira stand auf, nahm ihre Handtasche aus dem Schrank, der neben ihrem Schreibtisch stand, kramte ihren Schlüsselbund daraus hervor und verließ die Praxis.
Sie trat ins Treppenhaus und sperrte hinter sich ab. Ehe sie ging, drückte sie noch einmal gegen die Klinke, um sich zu vergewissern, dass sie abgeschlossen hatte. Missmutig dachte sie, dass auch sie gegen gewisse Zwangshandlungen nicht ganz gefeit war, und ging langsam ins Erdgeschoss hinunter.
Sie war sicher die Einzige, die sich an diesem Freitagabend noch im Gebäude aufhielt. Im Stockwerk über ihr befand sich die Praxis eines Augenarztes, der sowohl sich als auch sein Personal jeden Freitag pünktlich um zwölf Uhr ins Wochenende entließ. Im Erdgeschoss arbeitete ein Gynäkologe, mit nahezu der gleichen Einstellung. Bei ihm war freitags um dreizehn Uhr Schluss. Nur Kira war oft bis in den Abend hinein im Gespräch mit ihren Patienten. Aber im Gegensatz zu den beiden Kollegen hatte sie ja auch keine Familie, die auf sie wartete.
Kira verließ das Haus. Ihr kleiner roter Dacia war das einzige Fahrzeug, das noch hinter dem Gebäude stand. Obwohl einige dicht belaubte Bäume den Parkplatz säumten, stand ihr Wagen in der prallen Sonne. Im Inneren herrschten mit Sicherheit backofenartige Temperaturen. Kira öffnete sämtliche Türen, um wenigstens einen Teil der Hitze herauszubekommen.
Neunzehn Uhr fünf. Ihr war nicht danach, den Abend zu Hause zu verbringen. Vielleicht sollte sie eine kleine Radtour zur Wilhelminenaue machen?
Recht überzeugt war sie nicht von ihrer Idee. Auf dem Gelände der ehemaligen Landesgartenschau gab es nur wenig Schatten, und je länger sie unter dem großen Kastanienbaum darauf wartete, sich in ihr Auto setzen zu können, umso wärmer empfand sie den Abend. Drückend warm sogar. Das war ihr in ihrer Praxis gar nicht aufgefallen.
Kira beschloss, erst einmal nach Hause zu fahren. Sie setzte sich in ihren Wagen, bereute die Entscheidung sofort, weil die Luft im Auto immer noch unerträglich war und das Lenkrad glühend heiß, und ließ dennoch mit zusammengebissenen Zähnen den Motor an.
Eine gute Viertelstunde später parkte sie vor dem Mietshaus mit drei Parteien, in dem sie eine Wohnung im Hochparterre gemietet hatte. Kira sah ihre Nachbarin Leonie Gerber über den Gehweg eilen. Leonie wohnte im Haus nebenan.
Vor Jahren hatten sie sich ab und zu ein wenig unterhalten, meist auf dem Gehweg, doch seit Leonie mit ihrem Freund Stefan zusammen war, waren diese Gespräche immer seltener geworden.
Kira nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz und stieg aus. Sie lächelte Leonie zu. Leonie hob grüßend die Hand. Außer Atem blieb sie vor ihr stehen.
»Kira, hallo. Endlich Feierabend?«, fragte sie. Über der Schulter trug sie eine offene Korbtasche aus geflochtenem Material. Darinnen lagen einige Plastikgefäße, mit Deckeln verschlossen.
»Ja. Und du? Du siehst aus, als wärst du in Eile.«
Leonie strich sich mit dem Handrücken eine dunkle Locke aus der Stirn. »Ich bin eigentlich nur noch in Eile.«
»Oje. Was ist los?«, erkundigte sich Kira und dachte im selben Moment, dass sie sie mit ihrer Frage unnötig aufhielt. Überhaupt sah Leonie verändert und erschöpft aus, fand Kira. Ihr gutmütiges rundes Gesicht war blass, ihre kinnlangen Locken, früher sorgfältig gepflegt und glänzend, wirkten struppig und zerzaust, und unter ihren Augen lagen Schatten.
»Ich . Ach, meine Güte. Das ist nicht in einem Satz erzählt. Aber . Stefan will sich mit einem Bio-Hof selbstständig machen. Obst, Gemüse und so weiter. Keine Tierhaltung. Ich finde das eine tolle Sache und helfe ihm, wo ich kann.« Sie brach ab.
»Aber es ist viel Arbeit, oder?« Es klang jedenfalls so, fand Kira. Wahrscheinlich mutete sich Leonie zu viel zu, um ihren Freund zu unterstützen. Oder hatten die beiden mittlerweile geheiratet? Kira versuchte, unauffällig nach einem Ring an der Hand der Nachbarin zu sehen. Leonie trug keinen, doch das musste nichts heißen. Vielleicht störte er bei der Arbeit auf dem Hof.
»Sicher. Aber das ist weniger das Problem, obwohl ich zugeben muss, von acht bis siebzehn Uhr in der Versicherung Schadensfälle bearbeiten und im Anschluss oft gleich auf den Hof, das ist schon anstrengend. Er ist hinter Bindlach, weißt du. Das sind ja von hier aus nur ein paar Kilometer, aber dort geht es dann mit der Arbeit weiter. Heute hatte ich ja schon mittags Feierabend. Jetzt muss ich jedenfalls zu Stefan. Der wartet seit zwei Stunden.«
Kira lag es auf der Zunge, zu fragen, was Leonie über den Nachmittag gemacht hatte, beschloss jedoch, dass es sie nichts anging. Aus ihren zwar netten, aber unverbindlichen Gesprächen seinerzeit war nie eine wirkliche Freundschaft geworden, was sie bedauert hatte. Schon gleich als ihre Beziehung mit Patrick vor sechs Jahren in die Brüche gegangen war. Für ihn hatte Kira ihre Heimat verlassen und war ins weit entfernte Bayreuth gezogen. Entsetzlich einsam war sie nach der Trennung gewesen. Damals hatte sie sich sehr nach einer Freundin gesehnt.
Unvermittelt fing Leonie an zu schluchzen. Kira erschrak.
»Leonie, was ist los?«
»Ich kann einfach nicht mehr. Es ist wegen Felix. Er braucht mich, und ich will auch für ihn da sein, aber . Ich schaffe das nicht mehr.« Sie nestelte ein Papiertuch aus ihrer Korbtasche und trocknete sich das Gesicht.
»Wer ist Felix?« Kira verstand überhaupt nichts.
»Mein Bruder. Entschuldige, Kira, dass ich hier so rumheule und dich aufhalte. Ich glaube, mir gehen gerade die Nerven durch.« Sie warf ihr Papiertuch zurück in die Tasche.
»Du hältst mich nicht auf. Ich weiß, du bist in Eile, aber . Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast.« Welch unsinnige Bemerkung, die danach klang, als wäre sie neugierig und wollte Leonies Zeitnot ignorieren. Andererseits war es indiskutabel, sie in ihrer Verzweiflung einfach stehen zu lassen.
»Dann habe ich ihn wohl nicht erwähnt. Ich .« Erneut fing sie an zu weinen, wandte das Gesicht ab und rührte sich nicht von der Stelle.
Kira strich ihr über den Arm. »Magst du kurz mit zu mir kommen? Nur für einen Eistee?«
Überraschenderweise nickte Leonie. Stumm folgte sie Kira in ihre Wohnung.
Leonie saß auf der Kante des Sofas im Wohnzimmer. Kira hatte eben zwei Gläser Pfirsich-Eistee aus der Küche geholt, je ein Stückchen Zitrone und ein paar Eiswürfel hineingegeben.
»Danke«, murmelte Leonie, als Kira ein Glas vor ihr auf den Tisch stellte.
Kira setzte sich ihr gegenüber. »Also, was ist mit deinem Bruder? Weswegen braucht er dich?«, fragte sie sanft, und ihr fiel auf, dass sie eben mit Leonie wie mit ihren Patienten gesprochen hatte.
Leonie trank einen Schluck. Eine typische Geste, um Zeit zu gewinnen, dachte Kira.
»Felix hatte vor gut zwei Jahren einen schlimmen Unfall, mit seinem verdammten Motorrad. Wie ich das Ding hasse! Jetzt liegt es in Trümmern, und Felix sitzt seither im Rollstuhl. Gelähmt! Das ist grauenhaft für ihn. Bei dem Unfall saß seine Freundin mit auf der Maschine. Sie hat es nicht überlebt. Felix ist am Ende. Er hat keinen Lebensmut mehr, fühlt sich schuldig an Katjas Tod, kann sein eigenes Schicksal nicht akzeptieren und hadert mit aller Welt.« Sie hatte schnell gesprochen, als wollte sie ihren Bericht hinter sich bringen.
»Das tut mir furchtbar leid«, sagte Kira aufrichtig. »Ich kann mir vorstellen, dass alles, was geschehen ist, ganz schrecklich für deinen Bruder ist.«
»Ist es«, bestätigte Leonie, nun etwas ruhiger.
»Und du kümmerst dich seither um ihn?«
»Ja. Mit allem, was sein muss. In erster Linie um den Haushalt, da rührt er keinen Finger, obwohl er schon...
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