Schweitzer Fachinformationen
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In einem schwarzen Suzuki Samurai fahren sie durch ein weißes, vom Wintererfasstes Land. Es ist das Land, das man kennt, und doch ist es anders. DasSchweigen der Häuser, die verschlossenen Fensterläden erzählen von tiefenTräumen, und kaum ein Mensch zeigt sich auf den Straßen. Die drei Reisendenkennen sich nicht gut. Der Zufall hat sie zusammengeführt - jeder mit seinerGeschichte und seinen Geheimnissen -, und ihre Fahrt durch den Schnee inRichtung Süden wird zu einer Reise dorthin, wo nicht nur der Winter zu Endegeht. Benjamin Lebert hat einen poetischen Roman über Freundschaft und dieWege, der Kälte zu trotzen, geschrieben. Zusätzlich zum Roman enthält dieses E-Book ein Video, in dem Benjamin Lebertausgewählte Seiten seines Buches liest. Wer sich mit anderen Lesernaustauschen möchte, findet in der Digitalversion außerdem einenSocial-Reading-Stream zu diesem Roman.
In Hamburg lebte ich nahe der Innenstadt. Im Gängeviertel. In seinem Gewirr aus dicht aneinandergebauten, alten Häusern mit schiefen Fenstern und schmalen Treppenstufen hatten früher die armen Bürger der Stadt gewohnt. Aber viel war nicht mehr davon übrig geblieben, nur ein paar Gassen, lagerhausähnliche Gebäude und aschfarbene Hinterhöfe, in denen Künstler ihre Ateliers hatten. Das Haus, in dem ich wohnte, war über zweihundert Jahre alt. Es hatte blassrote Steinmauern und kreuz und quer verlaufende Holzbalken. Von außen sah es aus, als wäre es betrunken oder sehr erschöpft und müsste von den beiden anliegenden, größeren Häusern gnädig in die Mitte genommen werden. Ich mochte das Haus gern. Ich hatte eine kleine Wohnung unter dem Dach, die warm und behaglich war und in der ich mich in manchen Momenten vor dem Zähnefletschen der Stadt in Sicherheit wähnte.
Einen Stock unter mir wohnte der zweiundfünfzigjährige Herr Plasa mit seinem sanften Lächeln und seinen abstehenden Ohren, der in einem Gewürzgeschäft in der Speicherstadt arbeitete und während der Woche jeden Abend pünktlich um Viertel vor acht die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Ich war ihm zu diesem Zeitpunkt schon oft im Treppenhaus begegnet. Aber noch häufiger hörte ich ihn von meinem Wohnzimmer aus. Er hatte ein Atemgerät mit zwei Schläuchen daran, die zu seiner Nase führten. Aber es schien nicht viel zu helfen. Jedenfalls nicht beim Treppensteigen, denn er musste auf jedem Stockwerk haltmachen. Und oben, während ich unter einer Decke auf meiner weißen Couch lag, auf der man sich oft so fühlte, als segelte man in eine blaue Weite hinaus, wusste ich: Jetzt tritt er im Treppenhaus wieder ans Fenster, stützt die Arme auf das Fenstersims, schaut geduldig auf den Hinterhof mit den Mülltonnen und dem zerschlissenen Ledersessel hinab, den irgendwer dort unten abgestellt hatte, und bis er weitergehen kann, atmet und atmet er geschlagene fünf Minuten lang. Oft fragte ich mich, ob er in diesen Minuten an etwas dachte, das ihm dabei half, seinen Atem zu kontrollieren. Ob er vielleicht im Geiste zählte. Ob er in seinem Inneren, wie aus einem geheimen Kästchen, eine schöne Erinnerung hervorholte. Zum Beispiel, wie ihm sein Großvater irgendwo vor den Toren Hamburgs, an einem lichtdurchfluteten Tag, gezeigt hatte, wie man einen Rasen mäht. Obwohl dieses schwere Schnaufen viel Traurigkeit in sich barg, gewöhnte ich mich an das allabendliche Nachhausekommen von Herrn Plasa, und jedes Mal, wenn ich ihn wieder atmen hörte, fühlte ich eine seltsame Geborgenheit, die ich mir nie ganz erklären konnte.
Im unteren Teil des Hauses, mit großen Fenstern und einer Glastür zur Straße hin, war der renommierte Geigenbauer C. Fendel. Dort arbeitete neben dem Besitzer und dem jungen Christian aus Luzern, der, über eine Hobelbank gebeugt, mit großer Gemütsruhe und Sorgfalt die Geigen bearbeitete, während ihm immer wieder sein weiches, braunes Haar in die Stirn fiel, auch Sophie. Sophie war vierundzwanzig Jahre alt und in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb aufgewachsen, dessen Namen ich vergessen habe. »Ich bin von der Alb«, hatte sie bei unserer ersten Begegnung ein wenig schüchtern gesagt. Als wir uns kennenlernten, baute sie gerade eine Bratsche, die sie bei einem nationalen Wettbewerb vorstellen wollte. Ob sie dann einen der Preise gewonnen hat, weiß ich nicht.
Sophie und ich sind ein paar Mal zusammen ausgegangen. Sie hatte lange Haare, durch die eine ländliche Morgensonne zu scheinen schien, und vertrauenserweckende Schultern. Sie lachte oft und warf den Kopf zurück, und man lachte gern mit ihr. Trotzdem dachte ich hin und wieder, dass ihr Lachen eine gewisse Anstrengung und heimliche Traurigkeit verriet. Manchmal, wenn sie fröhlich draufloserzählte, sah man die Häuser ihres kleinen Dorfes vor sich und die felsigen Hügel ringsum, und man ahnte, wie eine bestimmte Form der Freude dort systematisch in Schach gehalten worden war.
Einmal, an einem Abend im Juni, nahm Sophie mich zum Salsatanzen ins La Macumaba mit. Ich konnte kein bisschen Salsatanzen. Aber Sophie schon. Ausgezeichnet sogar. Sie war häufiger dort gewesen, und an diesem Abend forderte sie routiniert viele gutaussehende Männer zum Tanz auf und ließ sich von ihnen gekonnt herumwirbeln. Zwischendurch fand sie aber immer noch Zeit, mit mir zu tanzen, das heißt, mir ein paar Schritte beizubringen und währenddessen gegen die lauten Rhythmen anzureden. Ich weiß noch, sie erzählte von dem Unterschied zwischen dem Salsastil aus Los Angeles und dem aus New York City, den ich aber sofort wieder vergaß, weil es klar war, dass ich so schnell keinen der beiden lernen würde. Trotzdem war ich stolz darauf, wie ich mich schlug. Ich spazierte mit einem kleinen Glück im Herzen, das ich in dieser Nacht noch hütete, durch die weiche Sommerluft nach Hause.
Keine zehn Gehminuten entfernt von dem Haus, in dem ich lebte und in dem Sophie an ihrer Bratsche arbeitete und Herr Plasa Abend für Abend schnaufend die Treppen hochstieg, war der große Park Planten un Blomen mit seinen exakt geschnittenen Rasenflächen, makellos gepflegten Blumenbeeten und Weihern, über die im Sommer goldene Pollen schwebten. Und mitten in dieser Parkanlage war das Hamburger Untersuchungsgefängnis. Ein Gebäudekomplex aus dunkelrotem Backstein. Umgeben von einer hohen Mauer, die mit Stacheldraht abgesichert war. Ich ging oft in Planten un Blomen spazieren und hing meinen Gedanken nach. Und mehrere Male kam es vor, dass, während ich an der hohen Mauer des Gefängnisses entlangmarschierte, etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog und mich aus meiner Versunkenheit holte. Plötzlich war da ein Mensch, jedes Mal ein anderer, der im Schein der Nachmittagssonne auf eine der Bänke stieg und, so laut er konnte, die Hände zum Sprachrohr geformt, etwas zu den hohen, vergitterten Fenstern des Gefängnisses hinaufrief. Einen Namen. Und er rief so lange, bis er eine Antwort erhielt. Meistens waren die Personen auf den Bänken junge Frauen. Ich habe immer nur ausländische Wörter gehört, die gerufen wurden, sodass ich dieses kurze, laute, seltsame Zwiegespräch, das sich dann entspann, nie verstehen konnte. Aber das Bild eines Menschen, der von einer kleinen Parkbank aus diesem großen, gewaltigen, verrammelten Ungetüm von Gebäude etwas entgegenbrüllt, rührte mich. Bekanntlich führt einen das Leben fast immer an der Nase herum. Vielleicht brüllte eine oder mehrere dieser jungen Frauen ja auch die übelsten Beschimpfungen in die Höhe. Aber das glaubte ich nicht, oder besser gesagt, das wollte ich nicht glauben. Ich wollte glauben, dass dieser außergewöhnliche Moment im Leben dieser zwei Menschen nur mit einer einzigen Sache zu tun haben konnte: mit Liebe.
Damals war ich davon überzeugt, dass, wohin einen das Leben auch führt – auf eine Allee im Herzen des Südens, in einen angenehm ausgeleuchteten Saal, an dessen Wänden sich vielleicht das Gelächter einer Gesellschaft bricht, oder in einen karg eingerichteten Raum mit Stäben vor den Fenstern –, eines ist immer und überall gegeben: die Möglichkeit, die Aussicht auf Liebe. Jeder Ort, an dem man für längere oder kürzere Zeit verweilt, der plötzlich, auf unerklärliche oder scheinbar ganz natürliche Weise wichtig ist, der fast zu so etwas wie einer Gemütsverfassung, einer Geisteshaltung wird oder vielleicht auch nur eine Station darstellt, die man schnell hinter sich lässt, jeder Ort, selbst wenn er einem vielleicht Angst macht, hat, so schien mir, eine kleine Öffnung, einen Riss, durch den jederzeit Liebe hineinsickern kann.
Dieser Gedanke spendete mir oft Trost. Und er kam mir in den Sinn, als ich ein kleines Zimmer mit grauem Filzteppichboden bezog, das ungefähr dreihundert Kilometer entfernt war von dem Untersuchungsgefängnis im Park. Und in dem ich, wie ich wusste, auf nicht absehbare Zeit würde bleiben müssen. Das Zimmer, an das ein Bad anschloss, befand sich im ersten Stock eines weißen Gebäudes, das etwas von einer neuzeitlichen Festung hatte und in dem man sich, sobald sich die Glastüren mit Bewegungsmelder schwerfällig hinter einem schlossen, gleichermaßen beklommen und sicher aufgehoben fühlte. Es war eines von mehreren unterschiedlich alten Häusern, die in einer weitläufigen, romantisch anmutenden Parkanlage wie in einer Heimat standen.
Am Tag meiner Abreise aus Hamburg, an einem Dienstag im Oktober, hatte ich meinen Wecker auf 6 Uhr 20 gestellt. Ich sehe mich noch genau, den jungen Mann, der da im Gängeviertel, als die Vorhänge der Nacht noch geschlossen waren, in der Pyjamahose auf dem Boden hockte, mit Gliedmaßen, die dünn geworden waren wie Bambusstöcke. Und die CD mit den tibetischen Heilsilben laufen ließ, die er damals fast manisch immer wieder gehört und mit intoniert hatte – A, OM, HUNG, RAM, DZA –, während draußen der Wind über die Dächer strich und das Unheil wegblies wie eine magische, unsichtbare Reinigung. So hatte ich es mir damals zumindest immer gern vorgestellt.
Der ICE nach Göttingen rollte eine gute Stunde später aus dem Gewölbe des Hamburger Hauptbahnhofs.
Ich fuhr erste Klasse. Die letzten Kilometer legte ich im Taxi zurück.
Ich hatte an meinen Vater denken müssen. Und an seine Worte. Als ich neun war, sollte ich einmal in den Ferien allein mit dem Zug von uns zu Hause, einem kleinen Ort an der Isar, über München und Stuttgart bis zu meiner Tante und meinem Onkel nach Heidelberg reisen. Ich fuhr nie gern von zu Hause fort und fürchtete mich vor den beiden. Besonders vor meinem Onkel, der jeden Tag, obwohl ich ja freihatte, mit mir in seinem Arbeitszimmer für die Schule lernen wollte. Meine Eltern sahen diesen Urlaub, soviel ich weiß, als eine Art Muttraining an. Aber ich weiß noch genau, wie mich mein Vater am vorletzten Abend vor meiner Abreise...
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