Schweitzer Fachinformationen
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MICHAEL MARSHALL SMITH
Dieses oberste Gebot - die Geschichte weiterzuerzählen, so absurd oder haarsträubend sie auch sein mag - hat seinen Ursprung in der riesigen Familie der Toten, die nur so lange weiterleben, bis die Geschichte ein Ende findet.
Robert Pogue Harrison
>The Dominion of the Dead<
Hin und wieder - meistens dann, wenn ich in den schlammigen Schützengräben eines scheinbar nicht zu vollendenden Romans stecke - frage ich mich, warum ich überhaupt schreibe. In einer Welt, in der die Sorgen und Nöte der Menschen sehr real sind, kommt es mir gelegentlich, wenn schon nicht gerade anstößig, doch zumindest unnötig vor, sich Geschichten auszudenken: wie ein Bonus-Feature auf der zweiten DVD der Special Edition des Lebens für Leute, die die Zeit und die Freiheit haben, so etwas zu genießen.
Doch dann frage ich mich: Was sonst hindert uns daran, den Verstand zu verlieren?
Mit »wir« meine ich nicht die Vertreter der Schriftstellerzunft (die sowieso selten zu den psychisch stabilsten Mitgliedern unserer Gesellschaft zählen), sondern die Menschheit im Allgemeinen. Uns alle. Wie sollen wir ohne Bücher und ohne Geschichten mit Tod, Angst und Trauer umgehen - ganz besonders heute, wo die Religion für viele keine Orientierung und auch keinen Trost mehr bietet? Wenn das Leben von abstrakten Begriffen eingeengt, zerstört, angegriffen oder mühsam und elend gemacht wird, ist etwas so wenig Greifbares wie die Fantasie oft unsere beste Verteidigung.
Selbst wenn man gelegentlich eine längere Reise in die Finsternis unternehmen muss, um ans Licht zu finden.
Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass es in dieser Novelle um einen Todesfall geht. Das ist von Anfang an offensichtlich - und ebenso offensichtlich ist, dass der Erzähler weiß, wovon er spricht. Allein auf den ersten beiden Seiten finden sich Sätze, die eindeutig verraten: Das ist jemand, der bereits eine entsprechende Erfahrung gemacht hat.
Woher ich das weiß? Weil ich ebenfalls eine ähnliche Erfahrung gemacht habe. Und Sie womöglich auch - oder Sie werden sie noch machen. Wir alle machen sie - es sei denn, dass Sie vor den Menschen sterben, die Sie lieben. Dann müssen diese Menschen um Sie trauern und mit der plötzlichen Leere zurechtkommen, die Sie in ihrem Leben hinterlassen haben. Der Tod ist die einzige Konstante unserer Existenz, der große Gleichmacher. Auch Sie werden ihn eines Tages kennenlernen. Zu sagen, das sei eine deprimierende Binsenweisheit, kommt der Behauptung gleich, dass der Hinweis, dass der Mensch auf die Toilette muss, infantil sei. Vor Jahren musste ich einmal eine scheinbar endlose Besprechung über mich ergehen lassen (es ging um ein Lehrvideo für Angestellte, zu dem ich ein Drehbuch schreiben sollte - was tut man nicht alles für sein Geld). Nach vielen Stunden der Fachsimpelei und Faktenhuberei machten wir eine Pause. Alle standen auf, um sich zu strecken - und verließen dann nacheinander unauffällig den Raum, um sich zu erleichtern. Die Erkenntnis, dass diese Menschen, obwohl sie am Konferenztisch so scharfsinnig und schlagfertig, anpackend und geschäftstüchtig waren, wie alle anderen ihre Notdurft verrichten mussten, traf mich wie ein Schlag.
Wir alle gehen regelmäßig auf die Toilette, Ihr Lebensgefährte ebenso wie Ihre Mutter - falls sie noch nicht gestorben ist. Aber selbst dann musste sie zu Lebzeiten aufs Klo. Aus diesem Grund gibt es Toilettenschüsseln und Toilettenpapier und Kanalisationen und Lufterfrischer und wer weiß was noch. Wir müssen, weil wir essen, und wir essen, um zu leben, und wenn wir uns nicht erleichtern, sterben wir. Die Entscheidung zwischen Tod und Stuhlgang fällt den meisten ziemlich leicht. Shit happens - das gilt für uns alle. Das soll nicht heißen, dass das Leben an sich beschissen ist. (Sehen Sie? Das Thema ist so allgegenwärtig, dass es in unsere Alltagssprache gesickert ist.) Wir machen Witze darüber oder schweigen beschämt, weil das die einfachste Art ist, mit unangenehmen, aber unvermeidlichen Dingen umzugehen.
Aber der Tod .
Der Tod ist viel schwieriger einzuordnen. Einen Todesfall zu verarbeiten ist eine ganz andere Nummer als der morgendliche Ausflug an den Ort, an den selbst der Kaiser zu Fuß geht.
Der Tod nimmt einem etwas weg. Für immer. Er reißt ein Loch in die Wirklichkeit, und man bräuchte schon einen Zauberspruch, um es zu stopfen.
Diese Suche nach Magie führt unweigerlich zum Schreiben. Der Tod ist Teil unserer Sprache. »Der Motor ist abgestorben«, »die Angelegenheit wurde totgeredet« und so weiter. Solche Redewendungen sollen dem Tod seinen Schrecken nehmen.
Doch manchmal behält er seinen Schrecken, und dann brauchen wir Geschichten wie >Die Reichweite von Kindern<.
Auf den ersten Blick scheint es sich um eine spannende und dramaturgisch geschickt gemachte Geschichte darüber zu handeln, wie ein Junge und sein Vater zur gleichen Zeit, aber auf völlig unterschiedliche Weise denselben Verlust verarbeiten: den Tod einer Frau, die plötzliche drastische Veränderung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Doch zusätzlich hat die Geschichte auch eine mythologische Qualität, als würde sie uns an eine uns allen bekannte Legende erinnern. Sie ist eine Gezeitenfolge, ein flacher werdendes Atmen - und selbstverständlich voller Metaphorik, immerhin ist das Horrorgenre letzten Endes die beständigste und vielfältigste metaphorische Literaturform. Lebbon ist jedoch klug genug, seiner Metapher Astlöcher zu verpassen - er gibt seinen Lesern sozusagen Gelegenheit, ihre Atmung mit dem Atem der Geschichte in Einklang zu bringen. »Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, umso mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen«, hat Nietzsche gesagt, und er hatte recht. Das ist einer der Gründe, warum diese Geschichte so gut funktioniert: Sie beruht nicht nur auf einer Idee, sondern auch auf der realen Welt. Sie beruht auf der Wirklichkeit dessen, was gegessen und getrunken, geschmeckt und gerochen wird, sie beruht auf einer häuslichen Umgebung, die uns nur allzu vertraut ist, und auf der glaubhaften Schilderung des Redens und Fühlens der Figuren - und nicht zuletzt beruht ihre Wirkung auf dem anschwellenden, puren Grauen und der instinktiven Panik, weil man spürt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht - und dass das Ganze wohl kein gutes, sondern ein schlimmes Ende nehmen wird.
Schonungslos stellt Lebbon die bisher verborgenen Schwächen derjenigen heraus, die einst unser Fels in der Brandung waren. Wie unvermittelt andere Menschen in den Vordergrund rücken, während die Hinterbliebenen versuchen, die Leere zu füllen, die die Verstorbene hinterlassen hat. Wie sich plötzlich eine mit Schuldgefühlen beladene Erleichterung Bahn bricht, weil das Schlimmste endlich eingetreten ist. Doch er gönnt uns auch einen kurzen Blick in eine Zukunft, die nicht nur von der bleiernen Anwesenheit des Todes bestimmt ist.
All dies ist brillant beobachtet, und deshalb ist >Die Reichweite von Kindern< eine der besten und emotional überzeugendsten Geschichten über den Tod, die ich je gelesen habe. Und das, ohne deprimierend oder morbid zu sein. Kein Wunder, ist doch jeder gute Text über den Tod zwangsläufig auch einer über das Leben. Die Toten und unsere Beziehung zu ihnen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur und unserer Vorstellungswelten. Ein zentrales Element der menschlichen Entwicklung. Manche - wie etwa Robert Pogue Harrison - sind der Meinung, dass wir zunächst den Toten Wohnstätten gebaut haben und erst dann den Lebenden. Als wir unsere Toten begruben, hatten wir einen Grund, regelmäßig an einen bestimmten Ort zurückzukehren oder uns dort sogar niederzulassen.
Die Toten sind da, wo wir leben. Sie bestimmen die Geografie unserer Welt und die Bandbreite unserer Emotionen. So wie Säulen höhlenartige Strukturen in menschliche Bauwerke verwandeln, so strukturiert auch der Tod unser Leben und bestimmt seine Grenzen.
Wir vermissen die Toten, weil sie uns Freude geschenkt haben. Sie haben uns gezeigt, wie man glücklich ist, und dieses Wissen können wir bewahren. Das Leben unserer Liebsten hat einen Anfang und eine Mitte, aber kein Ende - jedenfalls nicht, solange wir ihre Geschichten weitererzählen.
Lebbon zeigt uns all das mithilfe einer Erzählung, die uns ebenso schleichend wie unerbittlich in ihren Bann zieht und doch so unvorhersehbar bleibt, dass man bis zur letzten Seite mitfiebert.
Eine halbe Stunde nachdem ich die Novelle fertig gelesen hatte, kam mein dreijähriger Sohn ins Arbeitszimmer gestürmt, weil er mit mir spielen wollte. Mit >Die Reichweite von Kindern< im Hinterkopf konnte ich ihm unmöglich die übliche Antwort - Daddy hat zu tun - geben. Stattdessen stand ich vom Schreibtisch auf, ging mit ihm nach unten und wir spielten...
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