Schweitzer Fachinformationen
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Im letzten Abendlicht kam das Strandhaus in Sicht. Von der Straße aus war es nicht zu sehen gewesen, da es hinter den Klippen verborgen lag und nur ein steiler, zerfurchter Pfad zu ihm hinführte. Nach dem verfallenen Äußeren zu urteilen - den geborstenen Fensterscheiben und den verzogenen Bretterwänden -, war das Haus schon seit Jahrzehnten nicht mehr bewohnt. Etliche Dachschindeln waren verrutscht; der orangerote Rost einer vergammelnden Wetterfahne hatte lange Schlieren hinterlassen. Auf dem Grundstück um das Haus herum war wenig Lebendiges zu sehen, keine Bäume oder Blumen, nur struppiges Gras und hier und da ein Ginsterbusch. Es war ein vernachlässigter, verwaister Ort, doch irgendwie war er nicht leblos. Das Haus strahlte Energie aus, als zuckten und waberten selbst die Fasern in den Wänden.
»Sind Sie sicher, dass ich Sie hier absetzen soll?«, fragte der Taxifahrer.
Sein Akzent war ungewohnt, ein schläfriges, langgedehntes Cornwall-Englisch. Nina starrte die abblätternde Farbe an und spürte, wie ihre Stimmung ins Bodenlose sackte.
»Wenn Sie mich fragen«, redete der Taxifahrer weiter, so wie schon während der ganzen Fahrt, »diese Bruchbude hätten sie schon vor Jahren plattmachen sollen.«
»Da habe ich ja Glück, dass sie das nicht getan haben«, bemerkte Nina.
»Sie könnens ja abreißen und neu bauen. Das würd ich machen. Nichts wie weg mit dem alten Krempel. Macht übrigens sieben fünfzig.«
Nina holte einen Zwanzigpfundschein aus ihrem Portemonnaie und seufzte. Es war ein langer Tag gewesen. Fünf Stunden mit dem Zug von London nach Penzance, langes Warten auf den Anschlusszug zu dem kleinen Küstenstädtchen Polpeggen und dann die Fahrt mit dem Taxi. Jeder zurückgelegte Kilometer war von Geratter, Geschäftigkeit und Gesprächen begleitet worden; laute Durchsagen, die durch die luftigen Gewölbe der Paddington Station hallten, lärmende Familien im Großraumabteil und dann endlose zwanzig Minuten Selbstgerechtigkeit seitens des Taxifahrers.
Aber hier war es jetzt still. Nur das Rauschen der Wellen und der Wind im Gras waren zu hören.
»Sie kommen also zurecht?«
»Ja. Alles bestens. Danke.«
»Dann hol ich mal Ihre Sachen.«
Der Fahrer, ein stämmiger Mann mit beachtlichem Bauch, ging zum Kofferraum seines Taxis. Schlotternd stand Nina da und spürte den Schock der Kälte durch ihre dünne Bluse hindurch. Es war doch Sommer. Ihr Koffer war voller zarter Trägertops und Designersandalen, aber was sie hier brauchte, war ein dicker Wollpullover. Als sie die Arme um den Oberkörper schlang, schien der Wind noch heftiger zu werden.
»The Barb«, rief ihr der Fahrer zu. »So nennt man hier das laue Lüftchen, das Sie da spüren - wie in barbed wire, Stacheldraht.«
»Na toll.«
Nina blickte über die groben grauen Kiesel zum silberblauen Wasser hinüber. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, als sie von der Existenz des Strandhauses erfahren hatte. Sie suchte nach etwas Vertrautem, einem kleinen Erkennungszeichen, das eine Verbindung zwischen ihr und dem Haus schaffen und ihr ein Gefühl von Heimeligkeit geben könnte. Nichts. Ihr Gedächtnis wollte einfach nicht zünden. Früher war das Haus vielleicht einmal hübsch gewesen. Es könnte immer noch hübsch sein, dachte sie. Ein Strandhaus mit einer Privatbucht, ein fröhliches, farbenfrohes Gebäude, genau das Richtige für ein Feature in einer gehobenen Wohnzeitschrift - blauweiße Streifen und Liegestühle überall, und hölzerne Seesterne, die an den Türklinken baumelten. Das Meer war nur ein paar Meter entfernt, und man hatte freie Sicht darauf; so könnte es zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben, vielleicht bezaubernd sein, aber nicht jetzt.
Schließlich kam der Taxifahrer zurück, einen Karton mit Wein in der einen und den Griff von Ninas Rollkoffer in der anderen Hand. Beklommen sah Nina zu, wie achthundert Pfund teure Louis-Vuitton-Designerware durch den Dreck holperte.
»Nichts für ungut«, meinte der Taxifahrer und stellte ihr Koffer und Karton vor die Füße, »aber im Dorf gibt's jede Menge prima Unterkünfte - Pensionen, Hotels - zu ganz vernünftigen Preisen. In der Hauptsaison wird's manchmal ein bisschen voll, aber, na ja, die sind wirklich nett. Ist ja vielleicht nicht meine Angelegenheit, geht mich nichts an und so, aber ich fänd die Vorstellung ja nicht schön, hier draußen ganz allein zu sein .«
»Ich komme schon zurecht, vielen Dank.«
Als Nina das sagte, überschwemmten Gedanken an geschmackvolle Hotelzimmer ihren Kopf, an Luxusmatratzen und das dickflüssige Gelb pochierter Eier auf Toast, hinuntergespült mit frisch gepresstem Orangensaft. Es wäre ganz einfach, wieder ins Taxi zu steigen und ins Dorf zurückzufahren. Einfach. Und vernünftig. Aber es würde ihre Fragen nicht beantworten. Sie wollte Bescheid wissen. Sie musste Bescheid wissen.
»Hier«, sagte der Fahrer und starrte sie an, »wenn Sie unbedingt hierbleiben wollen, dann nehmen Sie wenigstens die hier.«
Er ging zurück zu seinem Kofferraum und holte eine Taschenlampe aus Metall hervor.
»Ich hab noch eine, Sie können sie also ruhig nehmen. Sieht aus, als könnten Sie ein paar technische Hilfsmittel gut gebrauchen.«
Es war nicht klar, ob er auf den beklagenswerten Zustand des Strandhauses anspielte oder darauf, dass Nina einen Hosenanzug und hochhackige Schuhe trug, frisch aus dem Großstadtleben und nur schlecht gegen die Naturelemente gewappnet.
»Das ist nett von Ihnen«, erwiderte sie, »aber es geht bestimmt auch .«
»Nehmen Sie schon«, drängte er. »Ist 'ne gute. So eine, wie die Polizei sie hat. Kann man auch als Knüppel benutzen.«
Damit kehrte er zu seinem Taxi zurück, zog die Tür zu und fuhr los. Auf der Hauptstraße jedoch hielt er an. Das Taxi setzte den ganzen Weg zurück und stoppte abermals. Das Fenster glitt herunter, und Nina konnte in den Schatten im Wageninneren seine besorgte Miene erkennen.
»Noch was«, sagte er. »Zu meiner eigenen Beruhigung. Ich möchte Sie ja nicht verunsichern, und ich weiß, die meisten Leute würden wegen so was heutzutage keinen großen Aufstand machen wollen, wegen dem Tourismus-Boom und so, aber Sie sollten wissen, dieses Haus hier, Ihr Strandhaus . das hat 'ne dunkle Vergangenheit.«
Nina widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.
»Hat das nicht jedes Haus?«
»Kann sein, aber trotzdem, es käm mir nicht richtig vor, nichts zu sagen .«
Er verstummte.
»Sehen Sie sich einfach vor, ja?«
Dann legte er ohne ein weiteres Wort den Gang ein und fuhr davon.
Echt jetzt? Hatte sie richtig gehört? Warnungen vor einer geheimnisvollen Vergangenheit? Entweder hatte ihr Taxifahrer zu viel Fantasie, oder sie war auf den Set eines Billig-Horrorfilms geraten. Nina drückte die Taschenlampe an die Brust und bemühte sich hochkonzentriert, den »Rat« des Fahrers zu verdrängen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Dunkelheit hüllte sie ein.
Ein Eisengitter und ein großes Vorhängeschloss sicherten die Haustür. Nina hielt die Schlüssel hoch. Sie hatte zwei Ringe bekommen. Der erste Schlüssel war für das Vorhängeschloss, genau wie der Zweitschlüssel am selben Ring. Der zweite, ein altmodischer Messingschlüssel mit dünnem Halm, war der für die Haustür. Und dann gab es noch einen dritten an einem eigenen Ring und ohne Zweitschlüssel, vermutlich für irgendetwas im Haus, vielleicht für ein Schränkchen oder einen Kleiderschrank. Sie ließ die Schlösser aufschnappen. Als der Riegel der Tür sich öffnete, erfasste ein nervöses Zittern ihre Finger und breitete sich aus, an den Handgelenken und Armen hinauf bis zum Bauch und dann die Beine hinunter.
»Okay, Nina, reiß dich zusammen, Mädchen«, flüsterte sie. »Ist doch nur Taxifahrergerede. Nichts, wovor man Angst haben muss. Nichts. Nichts. Nichts.«
Sie drückte die Tür auf, und sofort begrüßte sie abgestandener Meermief, ein penetranter Geruch aus Staub in mehreren Schichten und Verfall. Im nachlassenden Licht war es schwer, mehr als nur Umrisse zu erkennen, doch sie sah, dass sie in eine Art Flur hineinschaute, von dem Türen zu separaten Zimmern abgingen. Nina knipste die Taschenlampe an und ließ sich von ihrem hellen Strahl leiten. Sie fand einen Einbauschrank, eine Reihe leerer Kleiderhaken und ein Drähtegewirr, wo einmal eine Lampenfassung gewesen war. Als sie die Taschenlampe sinken ließ, sah sie einen Kadaver zu ihren Füßen, ein kleiner Vogel oder eine Ratte, schon lange tot, die Beinchen in die Luft gereckt. Sie schnappte nach Luft, stieg darüber hinweg und bereute augenblicklich, dass sie den Vorschlag des Taxifahrers nicht angenommen hatte, ins Dorf zurückzufahren.
Die Erinnerung an einen noch nicht lange zurückliegenden Kurzurlaub in einem thailändischen Spa schoss ihr durch den Kopf. Sie und Jake hatten in einer Pfahlhütte über dem türkisblauen Meer gewohnt. Sie hatten einen eigenen Butler gehabt. Am letzten Tag hatte Jake ihr einen Heiratsantrag gemacht, hatte den Ring in einer großen Schneckenmuschel versteckt, die er ihr in die Hand gedrückt hatte, während sie versucht hatte, von ihrer Veranda aus Delphine zu erspähen. Sie hatten beide erst geheult, dann gelacht und dann eine Flasche Champagner geleert. »Kneif uns mal jemand«, hatte sie gesagt. »Das ist ja wie ein Traum.« Die Absurdität ihres gemeinsamen Glücks war ihr stets gegenwärtig - das Geld, das sie...
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