Schweitzer Fachinformationen
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(1994)
Leute, die keine Science Fiction lesen, und selbst manche, die sie schreiben, unterstellen gern oder tun so, als entstammten die darin enthaltenen Ideen sämtlich einer intimen Kenntnis von Himmelsmechanik und Quantentheorie und wären nur für Leser zu verstehen, die bei der NASA arbeiten und ihren Videorecorder programmieren können. Den Schreibenden schenkt diese Phantasie ein Gefühl von Überlegenheit, den Nicht-Lesenden hingegen eine Ausrede. »Ich verstehe dieses Zeug einfach nicht«, jammern sie und suchen Zuflucht in den tiefen, gemütlichen, sauerstoffarmen Grotten der Technophobie. Es ist sinnlos, ihnen zu sagen, dass auch nur ganz wenige Science-Fiction-Autoren »dieses Zeug« verstehen. Auch wir finden auf unseren Videokassetten oft zwanzig Minuten I Love Lucy und einen halben Ringkampf, dabei wollten wir eigentlich nur eine Folge von Masterpiece Theatre aufnehmen. Die meisten wissenschaftlichen Ideen in der Science Fiction sind absolut zugänglich und durchaus allen vertraut, die weiter als bis zur sechsten Klasse gekommen sind, und sie werden schließlich nach der Lektüre nicht abgefragt. Im Übrigen sind diese Bücher keine verkappten akademischen Vorträge. Sie sind keine von einem satanischen Mathematiker erfundenen Textaufgaben, sondern Geschichten. Sie sind Erzählliteratur, die mit Themen spielt, weil sie interessant, schön und für das Menschsein relevant sind. Das Wort »Science« in dem hässlichen, unzutreffenden Oberbegriff für das Genre ist nur ein Attribut, eine dienende Beifügung zu »Fiction«.
In meinem Roman Die linke Hand der Dunkelheit beispielsweise ist die zentrale »Idee« weder wissenschaftlich, noch hat sie mit Technik zu tun. Es handelt sich um eine physiologische Phantasie - eine körperliche Veränderung. Die Menschen der erfundenen Welt Gethen haben kein Geschlecht. Sie sind fast immer geschlechtlich neutral und erleben nur einmal im Monat eine Phase der Brunft, mal männlicher, mal weiblicher Prägung. Gethener können sowohl Kinder zeugen als auch bekommen. Diese Erfindung mag einem befremdlich, pervers oder faszinierend erscheinen, aber zu ihrem Verständnis oder zum Mitvollzug der im Roman durchgespielten Verwicklungen ist gewiss kein besonderer wissenschaftlicher Intellekt vonnöten.
Ein weiteres Element im Buch ist das Klima auf dem Planeten, der sich mitten in einer Eiszeit befindet. Eine ganz einfache Idee: Es ist kalt, sehr kalt; es ist immer kalt. Die Auswirkungen, Komplexitäten und Resonanzen ergeben sich durch die Detailarbeit an der Vorstellung.
Die linke Hand der Dunkelheit unterscheidet sich von einem realistischen Roman nur insofern, als er von den Lesenden verlangt, pro tem eine narrative Wirklichkeit zu akzeptieren, die auf begrenzte, spezifische Weise modifiziert ist. Statt unter zwiegeschlechtlichen Menschen in einer Zwischeneiszeit auf der Erde (wie, sagen wir, in Stolz und Vorurteil oder jedem beliebigen anderen realistischen Roman) befinden wir uns auf Gethen unter Androgynen in einer Eiszeit. Es ist nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, dass beide Welten imaginär sind.
In der Science Fiction sind solcherlei Parameterveränderungen, selbst wenn sie spielerisch und ornamental sind, wesentlich für die Struktur und den Charakter des Werkes. Ob sie in erster Linie als Selbstzweck dienen oder aber als Metapher oder Symbol, immer werden sie romanhaft ausgestaltet und in die Gesellschaft und die Psychologie der Figuren, die Beschreibungen, Handlungen, Emotionen, Auswirkungen und Bilderwelten eingearbeitet. Beschreibungen sind (um den Begriff von Clifford Geertz zu übernehmen) in der Science Fiction tendenziell »dichter« als in realistischen Romanen, die sich auf vermeintliche gemeinsame Erfahrung berufen. Aber dem Geschehen zu folgen, ist nicht schwerer als in anderen komplexen Erzählungen. Die Welt von Gethen ist weniger vertraut, aber im Grunde unendlich viel einfacher als die Welt der englischen Gesellschaft vor zweihundert Jahren, die Jane Austen uns so lebendig vor Augen führt. Wir finden uns in beiden Welten erst nach und nach zurecht, da wir sie nur durch Worte, durch die Lektüre erleben können. Alle Romane bieten uns Welten, in die wir nicht auf andere Weise gelangen können, sei es, weil sie in der Vergangenheit angesiedelt sind oder an fernen oder erfundenen Orten, oder weil sie Dinge beschreiben, die wir nicht erlebt haben, oder weil sie uns in Geisteswelten führen, die anders sind als unsere. Manche Leute empfinden diesen Weltenwechsel, das Ungewohnte, als unüberwindbare Hürde, andere als Abenteuer und Vergnügen.
Leute, die keine Science Fiction lesen, aber es zumindest ehrlich probiert haben, kritisieren sie häufig als inhuman, elitär und eskapistisch. Die Figuren seien zugleich konventionalisiert und außergewöhnlich, entweder Genies, Weltraumhelden, Superhacker oder androgyne Aliens, und dadurch drücke sie sich um das herum, womit sich normale Menschen im Leben herumschlagen, und versage deshalb an einer wesentlichen Funktion von Literatur. Jane Austens England möge uns fern sein, aber die Menschen dort seien unmittelbar von Belang und interessant - durch das Lesen über sie würden wir Dinge über uns selbst erfahren. Hat Science Fiction irgendetwas zu bieten außer Selbstflucht?
Das Pappfigurensyndrom war ein Phänomen der frühen Science Fiction, das ja, aber es gibt schon seit Jahrzehnten Autorinnen und Autoren, die dieses Genre zur Erkundung menschlicher Charaktere und Beziehungen nutzen. Zu diesen gehöre ich. Manchmal bietet ein imaginärer Schauplatz die besten Möglichkeiten zur Ausgestaltung bestimmter Charaktereigenschaften und Schicksale. Zugleich aber stellen viele zeitgenössische Erzählungen nicht die Zeichnung von Figuren in den Mittelpunkt. Das ausgehende Jahrhundert ist kein Zeitalter der Individualität wie einst das elisabethanische oder viktorianische. Für unsere Geschichten, die realistischen wie die anderen, mit ihren unzuverlässigen Erzählern, den sich auflösenden Erzählperspektiven, multiplen Wahrnehmungs- und Sichtweisen, ist Charaktertiefe oft nicht die Hauptsache. Dank ihrer immensen Metaphernvielfalt hat die Science Fiction vielen Autoren bei diesen Erkundungen jenseits der Grenzen von Individualität neue Wege eröffnet - als Sherpas an den Steilhängen der Postmoderne.
Was das Elitäre betrifft, könnte Szientismus das Problem sein: die Verwechslung von technologischer Beschlagenheit mit moralischer Überlegenheit. Der Imperialismus der Hochtechnologie ist genauso überheblich wie der alte rassistische Imperialismus: Menschen, die nicht auf der »Höhe der Zeit« sind oder nicht die richtigen Geräte besitzen, zählen für Technophile nicht. Sie sind Proleten, Masse, gesichts- und bedeutungslos. Literatur und Geschichtsschreibung handeln nicht von ihnen. Sie handeln von den Jungs mit den echt abgefahrenen, echt teuren Spielsachen. So dass »Leute« rein funktional definiert nur diejenigen sind, die Zugang zu einer extrem aufwendigen, schnell wachsenden industriellen Technologie genießen. Und die »Technologie« selbst ist auf ebendiese Gattung beschränkt. Ich habe gehört, wie ein Mann mit vollem Ernst sagte, die US-amerikanischen Ureinwohner hätten vor der Eroberung über keinerlei Technologie verfügt. Wie wir wissen, ist gebrannte Keramik ein natürlicher Bodenschatz, werden Körbe im Sommer reif und ist Machu Picchu einfach so gewachsen.
Die Menschheit auf die Erzeuger/Verbraucher einer komplexen industriellen Wachstumstechnologie zu begrenzen, ist etwas vollkommen Absonderliches, vergleichbar einer Gleichsetzung der Menschheit mit Griechen, Chinesen oder der britischen Oberschicht. Es schließt ein wenig zu viel aus. Erzählliteratur hingegen kommt nicht umhin, fast alle Leute auszuschließen. Ein Roman über komplexe Technologie darf genauso gut die (sagen wir mal) anders Technologisierten ausschließen, wie ein Roman über Vorstadtaffären die innerstädtischen Armen ignorieren darf oder es für einen auf die männliche Psyche zentrierten Roman legitim ist, Frauen auszublenden. Ausschlüsse wie diese können allerdings als Zeugnis davon interpretiert werden, dass Vorteil zugleich Überlegenheit bedeutet oder dass die Gesellschaft nur aus der weißen Mittelschicht besteht oder dass allein Männer es wert sind, über sie zu schreiben. Moralische und politische Aussagen per Ausschluss oder Auslassung werden dadurch legitimiert, dass sie bewusst geschehen, insoweit die Kultur der Schreibenden ein entsprechendes Bewusstsein zulässt. Was letztlich eine Frage der Verantwortung ist. Eine Leugnung schriftstellerischer Verantwortung, willentliche Unbewusstheit, ist elitär und beeinträchtigt tatsächlich einen Großteil unserer Literatur in allen Genres, einschließlich des Realismus.
Die Ansicht, dass es der Science Fiction durch ihren Gebrauch von Metaphern aus anderen Welten, Raumfahrt, Zukunft und durch ihre Erfindung von Technologien, Gesellschaften oder Lebewesen an menschlicher Relevanz für unser Leben fehle, teile ich nicht. Wo ernstzunehmende Autoren von ihnen Gebrauch machen, werden diese Bilder und Metaphern zu Bildern und Metaphern für unser Leben, legitime erzählerische, symbolische Mittel, Dinge zu sagen, die anders nicht über uns, unser Dasein und unsere Lebensführung hier und jetzt zu sagen wären. Die Science Fiction erweitert mithin das Hier und Jetzt.
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