Schweitzer Fachinformationen
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Wenn ich heute nach Sainte-Marine zurückkehre, in das Dorf, in dem ich in meiner Kindheit jedes Jahr die Sommerferien verbracht habe, erkenne ich fast nichts wieder. Die lange Straße, die vom Ortseingang bis zur Spitze der Landzunge führt, der Pointe de Combrit, ist noch genauso da wie früher, weder verbreitert noch begradigt. Ich erkenne auch die Ablaufbahn im Hafen wieder, die alten Häuser, das Marinemuseum Abri du Marin und die reizende Kapelle. Alles ist noch am selben Platz, aber irgendetwas hat sich verändert. Selbstverständlich hat die Zeit ihr Werk verrichtet, sowohl an mir wie auch an den Häusern, hat sie altern lassen, ihnen neue Farben verliehen, den Maßstab verändert, die Landschaft modernisiert. Die Straße ist geteert und vor allem voller weißer Linien und Streifen, die Parklücken anzeigen, Zickzackdurchlässe bewirken oder als Stoppsignale dienen. Um den Fluss der Fahrzeuge zu kanalisieren, sind Verkehrskreisel geschaffen und Holzbarrieren aufgestellt worden, die die Durchfahrt von Wohnmobilen verhindern, und Schilder, die die erlaubten Parkzeiten anzeigen, sowie Metallpfosten und Gitter, die unerlaubtes Parken verhindern sollen. Zahlreiche Cafés sind aus dem Boden geschossen, Crêperien mit Terrasse und Sonnenschirmen, und nun gibt es Läden mit Ansichtskarten und Reiseandenken. All das hat den Glanz provinzialer Moderne, als sollte das Dorf für das Vergehen der Zeit unempfänglich gemacht oder wie mit Politur vor dem Zahn der Zeit geschützt werden, wie ein antikes Möbelstück. Heute fährt man mit dem Auto durch Sainte-Marine, macht dort aber nicht halt. Im Sommer ist der Besucherstrom so groß, dass man weiterfahren muss, bis zur Pointe de Combrit, vielleicht, um dort ein Foto zu machen, und kehrt dann wieder um. Man durchquert den Ort noch einmal und lässt ihn dann hinter sich. Ich dagegen habe mich damals jedes Jahr, jeden Sommer an all den Tagen, die ich in Sainte-Marine verbracht habe, nicht sattsehen können und meine Kindheit entdeckt.
Es ist schwer, eine Verbindung zwischen dem damaligen Dorf und dem herzustellen, was heute daraus geworden ist. Die Welt hat sich gewandelt, das versteht sich von selbst. Sainte-Marine macht da keine Ausnahme. Aber warum geht mir das so nah? Was für ein Bild muss ich in meinem Herzen wie ein kostbares Geheimnis bewahrt haben, dass mich dieses Zerrbild mehr als alle anderen stört und mir das Gefühl vermittelt, mir sei ein Schatz gestohlen worden?
Sainte-Marine, das war diese lange Dorfstraße, auf der meine Familie und ich nach einer endlosen Fahrt aus Südfrankreich in dem vorsintflutlichen Renault Monaquatre meiner Eltern jeden Sommer ankamen, um drei ideale Ferienmonate voller Freiheit und Abenteuer in einer ganz anderen Umgebung zu verbringen. Damals war die Dorfmitte von Sainte-Marine nicht so sehr die Kapelle, sondern die Fähre, diese erstaunliche eiserne Schwimmbrücke, die alle halbe Stunde an Ketten gleitend quietschend das tiefe Tal der Odet-Mündung überquerte. Der Bau der gigantischen (und vermutlich überflüssigen) Brücke mit dem hochtrabenden Namen Pont de Cornouaille oberhalb der Mündung war der Anlass und das weithin sichtbare Zeichen des Wandels. Als es noch die Fähre gab, überquerte man nur zögernd den Fluss. Die Überfahrt war langsam, geräuschvoll, es roch nach Schmieröl, und man beschmutzte sich die Schuhe. Und wozu eigentlich? Um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen, nach Bénodet, wo nichts los war? Wo sich im Sommer die Leute in Scharen an den Stränden, auf den Caféterrassen oder den Campingplätzen tummelten? Auf der anderen Seite war die Moderne schon eingetroffen, und es reichte völlig, sich den Anblick von diesem Flussufer aus vorzustellen, und wenn man wirklich dorthin wollte, brauchte man nur mit den Lieferwagen und Fahrrädern auf die Fähre zu steigen, das kostete so gut wie nichts, brachte aber auch nicht viel. Wenn ich mich recht erinnere, ein paar Pfennige - zwei, drei Sou hätte meine Großmutter gesagt. Vielleicht noch weniger. Vielleicht war es für zehnjährige Kinder, die im letzten Moment an Bord sprangen, bevor die Fähre ablegte, sogar umsonst. Die Überfahrt dauerte zehn Minuten, aber bei Hochwasser oder Sturm wurde die Fähre quietschend an ihrer Kette abgetrieben und vom Auf und Ab des Meerwassers und den Strudeln des Flusses hin und her geschüttelt. Auf der anderen Seite erwartete einen eine andere Welt: Bénodet war damals die Stadt, der Treffpunkt der Sommerurlauber, der Campinggäste. Von Sainte-Marine nach Bénodet überzusetzen, hieß, eine Grenze zu überschreiten, welche die halb vergessene, traditionsreiche, ein wenig rückständige Bretagne von dem modernen Département mit all seinen Straßen, Hotels, Cafés, Kinos und vor allem seinen mit Sonnenschirmen übersäten Stränden voller Badegäste trennte. Ich weiß nicht, ob Kindern solche Dinge wichtig sind. Ich habe nicht das Gefühl, mich als Kind sonderlich für Modernität, Lärm und Menschenmassen interessiert zu haben. Aber die Erwachsenen haben das wohl anders gesehen, denn sie beschlossen eines Tages, dass die alte, rostige Fähre und der weite Umweg über die Uferstraßen von Quimper nicht mehr ausreiche und eine Brücke gebaut werden müsse, um die Autos und den Touristenstrom durchzulassen.
Der Pont de Cornouaille ist prachtvoll. Ich habe den Bau der Brücke nicht mitangesehen - in jenen Jahren hatten wir es schon aufgegeben, die Bretagne zu besuchen. Die Anfahrt von Nizza war zu lang für das alte Auto, und mein Vater hatte vermutlich Lust, etwas anderes zu sehen. Außerdem waren mein Bruder und ich inzwischen herangewachsen und zogen es vor, die Sommermonate in der schwülen Hitze Nizzas zu verbringen oder nach Südengland zu fahren, nach Hastings oder Brighton, um in milk bars zu gehen und Mädchen kennenzulernen.
Viele Jahre später bin ich in die Bretagne zurückgekehrt und über diese Brücke gefahren. Um dieses Bauprojekt zu verwirklichen, hat man ein ganzes Netz von drei- oder vierspurigen Straßen mit Verkehrskreiseln und Zufahrtsstraßen geschaffen. Die Brücke war zu jener Zeit in einer Richtung mautpflichtig, in der anderen kostenlos befahrbar (was ganz offenkundig im Widerspruch zu allen Gewohnheiten der Bretagne stand). Anders gesagt, es war ein unternehmerischer Akt. Die Banken hatten daran teilnehmen müssen. Die Fahrt über die Brücke ist wie ein Flug über das breite Mündungstal des Odet in gleicher Höhe wie die Möwen. Es hat mich überrascht, wie sehr die Höhe dieser Brücke die Landschaft hat schrumpfen lassen.
Wenn wir in einem kleinen flachen Holzboot mit einer Angelschnur im Schlepp auf dem Odet wriggten, kam er uns ebenso groß wie der Amazonasstrom vor, mit geheimnisvollen, im Nebel liegenden Ufern, strudelndem schwarzem Wasser und der Mündung ins offene Meer vor den Glénan-Inseln. Jetzt ist er im Schatten der Brücke zu einem ruhigen Wasserarm geworden: provinziell, jämmerlich klein, mit kleinen weißen Booten gesprenkelt, die an Muringbojen festgemacht sind. Innerhalb weniger Jahre hat sich die wildromantische Flussmündung in einen Ankerplatz für Motor- und Segeljachten verwandelt, eine von Häusern und Bäumen eingerahmte Esplanade aus grünem Wasser, eine Ria. Ich habe versucht, mir vorzustellen, was es für zwei halbwüchsige Jungen heißen würde, zwischen den Brückenpfeilern zu manövrieren, während ein Autostrom in fünfunddreißig Metern Höhe mit sechzig Stundenkilometern dröhnend die Odet-Mündung überquert. All das hat etwas Endgültiges, Urbanes angenommen, ist gewaltig und unverrückbar wie eine Talsperre. Ich bin nie wieder zu dieser Brücke zurückgekehrt.
Wenn ich versuche, mir das Dorf meiner Kindheit, Sainte-Marine, ins Gedächtnis zurückzurufen, taucht vor meinen Augen als Erstes die Straße auf, diese ganz lange Kiesstraße, die vom Ortseingang in der Nähe der Schule bis zur Spitze der Landzunge führt, der Pointe de Combrit, mit jeweils einer Reihe von Häusern auf der einen und der anderen Straßenseite. Das muss mir wohl normal vorgekommen sein, aber es war bereits eine gemischte, am liebsten würde ich sagen, hybride Siedlung. Zum einen die bretonischen, zumeist ärmlichen Häuser, zwar aus Granitstein erbaut, aber mit grauem Zement verputzt, mit rustikalen Fensterläden und niedrigen Türen, deren Sturz manchmal verziert war, moosbedeckten Schieferdächern mit sichtbar verzahnten Firstplatten und Schornsteinen aus Backstein. Manche waren so ärmlich und alt, dass sie noch ihre unverputzten Granitmauern, die schmalen Fenster und ein Strohdach behalten hatten. Hinter diesen Häusern lag ein geschütztes Gärtchen, in dem Knoblauch und Zwiebeln, Bohnen und Kartoffeln angepflanzt wurden. Und mitten zwischen diesen einfachen Häusern standen, arrogant und protzig, die Villen der »Pariser«, mit großen Parks bis ans Odet-Ufer, umgeben von hohen Steinmauern, hinter denen man Giebel und Türme erkennen konnte. Ein schweres, dunkelgrün gestrichenes schmiedeeisernes Portal diente als Zufahrt zu weißen, von blühenden Blumenbeeten, blauen Hortensienbüschen und Kameliensträuchern gesäumten Kieswegen.
Was Sainte-Marine zu einem besonderen Dorf machte, war die Tatsache, dass es dort keine Geschäfte gab, vermutlich war das eher ein Mangel und nicht etwa ein Zeichen von besonderem Luxus (was ist heute luxuriöser als eine Straße ohne Geschäfte?), denn in Wirklichkeit konnte man in jedem der bescheidenen Häuser etwas kaufen, je nachdem, einen Fisch, Garnelen, ein Krustentier oder auch nur leicht...
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