Schweitzer Fachinformationen
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Ich habe mit dem Anfang angefangen. Ich wusste nicht mehr als das, was ich in den Büchern darüber gelesen hatte. Ich hatte nicht versucht, mir eine Vorstellung davon zu machen. Zunächst laufe ich mit dem Stein des Muskelmagens, wie mit dem Stein der Weisen in der Hand, mitten durchs Zuckerrohr in Richtung Savinia, La Baraque, Le Chaland. Ich setze meine Füße in die Fußstapfen meines Vaters. Ich bemühe mich, seine Kindheitserfahrungen nachzuempfinden, wie er in praller Sonne allein über die geschnittenen Zuckerrohrfelder läuft und plötzlich mitten im Stroh diese weiße Form sieht, wie ein Ei. Selbstverständlich suche ich nichts. Man findet nicht zweimal etwas von solcher Bedeutung. Die Erde ist rot und trocken, sie bildet kleine Haufen, die die Sohlen meiner Turnschuhe nur mit Mühe zertreten. Es ist nicht die gleiche Jahreszeit wie damals: Das Zuckerrohr ist noch nicht geschnitten, die Halme überragen mich, sind hart und schneidend, der Seewind bewegt ihre Blätter mit metallischem Geräusch. Ich gehe nach vorn gebeugt mit vor den Bauch gedrückter Tasche, um mich zu schützen, und tief in die Stirn gezogener Schirmmütze. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Zuckerrohr, so weit das Auge reicht, ein Meer aus Grün, der Himmel ist stahlblau, fast violett. Ab und zu mache ich halt, um einen Schluck lauwarmes Wasser aus einer Plastikflasche zu trinken. Die Sonne steht schon hoch, das Licht ist äußerst grell. Der Geruch des Zuckerrohrs ist fast erstickend, das Stroh gärt am Fuß der Halme, ein Geruch nach Urin und Zucker und auch mein Geruch, der Schweiß rinnt mir über die Augen, über den Hals, ich spüre, wie mir der Stoff meines Hemds an der Haut klebt. Wo bin ich? War das vielleicht hier oder noch ein Stück weiter? Wo hat mein Vater den Stein gefunden? Er hat mir nie den Namen der Stelle genannt, in der Nähe von Mon Désert, auf der Straße nach Le Chaland. Das ist schon lange her, aber hier hat sich nichts verändert. Das Taxi hat mich an der Straße zur Fabrik abgesetzt, und ich habe sogleich einen gewundenen, schmalen Weg durchs Zuckerrohr genommen, der nach kurzer Zeit mitten in der Plantage endete. Ich gehe aufs Geratewohl durch einen Ozean aus Graugrün.
Hier, inmitten des Zuckerrohrs, existiert die Zeit nicht mehr. Ich sehe diesen Ort genauso wie er vor dreihundertzehn Jahren war, zur Zeit der letzten Tage der Dodos. Anstelle des Zuckerrohrs waren hier bestimmt ein niedriger Wald, Ebenholzbäume, Dornenbüsche, vielleicht auch Schilfrohr oder Becken mit hohem Gras, in dem die großen Vögel mit gerecktem Hals herumrannten. Aber es herrschte die gleiche Hitze, die gleichen Böen von feuchtem Wind, die den Meeresgeruch herbeitragen, und hin und wieder Nebelbänke mit kalten Tröpfchen, die vom unsichtbaren Himmel fallen und auf meinem Gesicht prickeln. Die kleinen Tropfen dürften an ihrem lockeren Gefieder hängen geblieben sein, ihren Schnabel benetzt und auf der Erde in den Spuren ihrer Füße mit den drei Zehen geleuchtet haben. Sie dürften ab und zu stehen geblieben sein, reglos und starr wie ein Reptil, und dann ohne Grund wieder losgerannt sein. Ich bewege mich jetzt mit demselben Gang vorwärts, nach vorn gebeugt, den Hals ein wenig gereckt, dem Wind entgegen, die Augen halb geschlossen und die Hände in den Taschen, um mich nicht an den schmalen, scharfen Blättern des Zuckerrohrs zu verletzen. Ich gehe, ohne zu wissen, wohin, in Richtung Osten, ich weiß, dass am Ende das Meer ist, bleibe hin und wieder stehen, um das Rauschen der Wellen zu hören, höre aber nichts anderes als das Säuseln des Winds in den Blättern. Ich suche nichts. Ich blicke nicht mehr vor meinen Füßen auf die Erde. Die Jahrhunderte haben die Erde ausgewaschen, abgeschliffen, bearbeitet, es kann keine Spuren mehr geben. Nichts hat den Wirbelstürmen widerstanden, der Regen ist in Sturzbächen von den hohen Bergen mit der Heftigkeit eines Hochwasser führenden Flusses hinabgeströmt. Irgendwann bin ich so erschöpft von der Sonne und dem Wind, dass ich mich im Zuckerrohr im dürftigen Schatten der Blätter hinsetze. Ich habe den runden Stein noch immer in der rechten Hand. Ich denke: »Wo bist du, Dodo?« Ich rufe sogar seinen Namen, da dieser, wie es scheint, dem Klang seines Schreis nahekommt, ein tiefes, knarrendes Gurren, wie das Geräusch von Steinen, die in eine Schlucht rollen, oder vielleicht wie das Blubbern des weißen Steins in seiner Kehle: DODODOdododo! . Ich warte, in mich zusammengesunken, mit der Stirn auf den Knien. Ich weiß nicht, worauf ich warte, ich warte schon sehr lange auf diesen Augenblick, seit meiner Kindheit, als ich den weißen Stein an meine Wange gepresst und die Augen geschlossen habe. Irgendetwas aus sehr alter Zeit dringt durch die Gesichtshaut, die geschlossenen Lider in mich, irgendetwas, das mich nährt und in meinem Blut zirkuliert, mir meinen Namen sagt, meinen Geburtsort, meine Vergangenheit, eine Wahrheit . Der Wind schüttelt die schmalen Blätter des Zuckerrohrs, stößt sie mit dem Geräusch eines Räderwerks gegeneinander, der Seewind, der sich auf der dürren, brüchigen Erde erwärmt hat, wie kommt es, dass ich diesen Geruch wiedererkenne? Er war schon immer in mir, kommt von meinem Vater, meinem Großvater Alexis, von allen Felsens, die nacheinander auf dieser Insel gelebt haben, seit Axel und seine Frau Alma sich hier ansiedelten, der Geruch ihres Fleisches und ihrer Haut in meinem Fleisch und meiner Haut. In diesem Moment wird der Himmel von einem Brummen erfüllt, das die Erde erzittern lässt, und ich ziehe den Kopf ein wie ein verängstigter Vogel, der das Brummen eines unbekannten Raubtiers hört, das Dröhnen einer Kanone auf dem Meer. Ein Schatten mit ausgebreiteten Flügeln gleitet langsam über das Zuckerrohr, auf seinem Rumpf spiegelt sich das Licht, ein Jumbojet mit seiner Ladung von Touristen ist gerade gestartet, ich habe den Eindruck, das knisternde Geräusch von Blitzlichtern in der Kabine zu hören, er fliegt schwerfällig über mich her, gewinnt mühevoll an Höhe über Plaisance, ehe er in einer Kurve über dem Ozean verschwindet.
Vor Einbruch der Dunkelheit gelange ich in die Nähe der Mare aux Songes, des Teichs der Träume. Trotz der Karte hatte ich Mühe, ihn zu finden. Ich musste eine Schlucht voller Gestrüpp hinauflaufen und einen Hain aus Ebenholz und Tamarinden durchqueren. Auf einem schmalen Feldweg mit tiefen Traktorspuren. Ich hielt Ausschau nach der Farbe von Wasser. Aber statt eines Teichs fand ich nur eine runde, von Wald umgebene Senke aus Gras und Schilf. Hier hat 1865 ein gewisser Roy, Vorarbeiter auf dem Gut von Gaston de Bissy, zufällig ein Gerippe entdeckt, als er den Teich auf der Suche nach Schlammschollen sondieren ließ, die er für neue Anpflanzungen entnehmen wollte. Würfel aus schwarzer, tonhaltiger, mit verwesenden Pflanzen vermischter Erde. Die indischen Arbeiter hatten sich einen Schal vor den Mund gebunden, um nicht die übel riechenden Dünste einzuatmen. Zu jener Zeit war noch Wasser im Teich, die Arbeiter waren barfuß und hatten sich nur ein langouti um die Hüften geschlungen, ihre schwarze Haut war schweißgetränkt. Die ersten Überreste sind sogleich aufgetaucht, einer der Arbeiter hat Alarm geschlagen: »Missié, da sind Knochen, Missié Roy.« Er hat ihm einen Klumpen aus schwarzer Erde gezeigt, in dem weiße Knochen zu sehen waren. Roy hat sich die Überreste genau angesehen und darin Teile des Skeletts eines unglaublich großen Vogels erkannt, einen Brustbeinkamm, Rippen und Rückenwirbel. Anschließend sind die Knochen der Beine ans Tageslicht gekommen, sie waren derart dick und lang, dass sie unmöglich einem Seevogel gehören konnten, wie beispielsweise einem Albatros, der sich im Sturm verirrt hat. Nachdem die Knochen mit Süßwasser gereinigt worden waren, das die Arbeiter in einem Kanister zum Trinken mitgebracht hatten, stellte sich heraus, dass die Knochen von seltsam blau geäderter schwarzer Farbe waren, im Gegensatz zum Weiß der Rippen, die Farbe eines Tiers aus alten Zeiten, das seit Jahrhunderten ausgestorben war. Ausgebreitet im Gras am Rand des Teichs schimmerte das Skelett in einem geheimnisvollen, fast bedrohenden Glanz. Die Arbeiter umringten es und betrachteten es ratlos. Von Roy benachrichtigt, traf Schulmeister Clarke, der die Küste von Mahébourg erforschte, eine knappe Stunde später mit einem Pferdewagen dort ein. Die Blöcke aus Löss und Torf rings um den Teich waren inzwischen trocken und sahen aus wie Grabsteinplatten. Im Schutz einer Segeltuchplane, die im Wind knatterte, saßen Roy, Gaston de Bissy und ein paar Arbeiter. Die Männer warteten auf den Befehl, sich wieder an die Arbeit zu machen und Schlammklumpen herauszuholen, aber es lag auf der Hand, dass das Auftauchen dieses seltsamen Vogels aus den Tiefen des Teichs jegliche profane Tätigkeit unterbrochen hatte. »Was du da ausgegraben hast, mein Lieber«, verkündete Clarke, »ist ganz einfach ein Raphus cucullatus, der Urahn dieser Insel, die berühmte Dronte, oder anders gesagt, ein Dodo.« Er hatte sich niedergekniet wie vor einem Ossuarium und nahm vorsichtig die langen Knochen, um sie anderswo, in einer anderen Anordnung, wieder hinzulegen, bis das Skelett des riesigen Vogels als solches zu erkennen war, lang auf dem Boden ausgestreckt, als verfiele es in ewigen Schlaf. »Schade, dass ihm ein Teil des Kopfes und der Unterkiefer fehlt, sonst stände er in nichts den Exemplaren in Amsterdam oder Oxford nach.«
Nachdem er sich erkundigt hatte, an welcher Stelle genau der Arbeiter die Knochen ausgegraben hatte, stieg Clarke ohne Rücksicht auf seine weiße Baumwollhose in den Teich und begann den...
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