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Ich warf einen unruhigen Blick auf die Schachtel mit dem Käfer und legte wie von selbst die Hand auf den Deckel.
»Ehrlich gesagt ist Indien nicht gerade mein Spezialgebiet . Mich interessieren eher die Schamanen Innerasiens als indische Yogis.«
»Aber Sie wissen doch, Wer Kali ist?«
»Ja, natürlich. Eine von Shivas Frauen.«
Lord Lover lachte spöttisch auf und schnippte verächtlich die Asche von seiner Zigarre.
»Pah! Seine Frau . ein guter Witz! So kann auch nur ein Laie aus Europa denken . Kali war mehr, viel mehr! Kali war Shivas Shakti. Kali war die Kraft!«
Selbstverständlich war mir klar, was Shakti bedeutet. Eine Shakti ist nicht bloß eine Frau; in manchen Fällen muss sie nicht einmal das sein. Sie ist die Personifizierung aller Urkräfte der Natur, die weibliche Substanz, die von dem männlichen Partner bloß ergänzt wird.
»Kali erschafft und zerstört. In manchen Augen ist sie sogar die Herrin der Liebe. Und gleichzeitig Verkörperung von Mord . und Tod. In den größeren, anerkannteren Bereichen der Religion wird sie nicht gerade hochgelobt. Sind Sie jemals Jüngern einer Kali-Sekte begegnet?«
»Noch nie«, antwortete ich. »Anderen aber auch nicht. Ich habe mich nicht so eingehend mit den Hindu-Sekten beschäftigt .«
Unser Gastgeber nickte düster.
»Trotzdem würde ich Sie gern bitten, sich eine kleine Geschichte anzuhören. Ich wurde während meiner Forschungsarbeit in Indien auf sie aufmerksam. Sie hat ihren Ursprung irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Ein englischer Offizier namens Sarandon diente damals in der Garnison Varanasi, also Benares. James Sarandon. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
»Nein. Sollte er?«
»O nein, ich dachte nur, vielleicht wurde er Ihnen gegenüber einmal erwähnt . in Indien zum Beispiel.«
»Ich kann mich nicht entsinnen .«
»Oberst Sarandon - denn inzwischen war er schon Oberst, in seinen nicht mehr so jungen Jahren - heiratete zu Beginn unserer Geschichte gerade zum zweiten Mal in Großbritannien. Seine erste Frau hatte er in Indien verloren; ein plötzliches Fieber hat sie hinweggerafft. Aus dieser ersten Ehe stammte sein einziges Kind, sein Sohn Nicholas Sarandon.«
Er schaute mich finster an, als ob ich mir der Bedeutung dieses letzten Satzes hätte bewusst sein müssen. Doch sosehr ich mich anstrengte, ich konnte mir keinen Reim darauf machen, warum es wichtig sein sollte, aus wessen und der wievielten Ehe der junge Nicholas Sarandon stammte, dessen Gebeine wahrscheinlich schon seit hundert Jahren unter einem Grabhügel mit der Ewigkeit haderten.
»Die zweite Frau von Oberst Sarandon war eine blonde, stille, nachdenkliche Dame, Hannah - das wissen wir übrigens aus den Aufzeichnungen der Garnison in Benares. Bereits im ersten Ehejahr wurde ihre gemeinsame Tochter geboren, nach ihrer Mutter ebenfalls Hannah genannt.«
Er paffte an der Zigarre und blies den Rauch zur Decke.
»Ich muss hinzufügen, dass Benares zu der Zeit das Zentrum des Kali-Kultes war. Gleich zwei Tempel standen in unmittelbarer Nähe der Garnison. Oberst Sarandon hatte sich gut mit den Gläubigen arrangiert, obwohl er persönlich von den blutigen Ereignissen in der Umgebung der Tempel nicht sonderlich erbaut war.«
»Sie meinen . Menschenopfer?«
»In Benares gab es so etwas nicht, Mr. Lawrence. In erster Linie ging es um Ziegen. Dem Glauben nach mag Kali junge Ziegen . und Blut. Sarandon wurde einmal sogar zu einer solchen Zeremonie eingeladen, die er sozusagen von Amts wegen beaufsichtigen musste. Obwohl es keinen Grund zu der Annahme gibt, der Oberst wäre ein Weichling gewesen, besagen die Aufzeichnungen der Garnison, dass er sich nach dem Ereignis ziemlich betrunken hatte. Was wohl als sicheres Zeichen dafür gelten dürfte, dass der Opfer-Hokuspokus um Kali nicht gerade ästhetisch ausfiel .«
Ich sah es förmlich vor mir, wie meine Naga-Kopfjäger-Freunde ihre Opfergaben vorbereiteten, und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Nein, solche Zeremonien waren mit Sicherheit nicht unter dem Stern der Ästhetik entstanden.
»Haben Sie schon mal eine Abbildung von Kali gesehen?«
»Ja.«
»Dann wissen Sie, dass man Kali nicht einmal volltrunken als anziehend bezeichnen kann. Obwohl es gegen ihre . ähm . Figur nichts auszusetzen gäbe. Große, feste Brüste, ein anmutig rundes Hinterteil .«
»Edmond, bitte .!«
»Verzeih, Liebste«, brummte Lord Lover verlegen und drehte die Zigarre zwischen den Fingern. »Also, auf jeden Fall ist es hauptsächlich ihr Gesicht, was sie so unattraktiv macht. Glubschaugen, bleckende Zähne, wildes, zerzaustes Haar und die Schlangen über dem ansonsten so ansehnlichen Busen . das alles macht sie nicht gerade begehrenswert. So eine Gottheit kann ja gar nichts anderes verlangen als Blut. Habe ich recht?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte ich ausweichend.
»Trotz alledem kamen die Kali-Jünger und der Oberst gut miteinander aus. So lange, bis an einem anderen Ort in Indien etwas Schreckliches geschah. Es gibt keinen Nachweis darüber, doch aus den Andeutungen in zeitgenössischen Zeitungsartikeln kann man erahnen, dass in den angrenzenden Gebieten zum Himalaja Kali-Priester eine junge englische Frau ermordet hatten.«
»Sie meinen, sie haben die Frau ihrem Gott geopfert?«
»Wer weiß . Ich hatte keine Möglichkeit, der Sache nachzugehen, und ehrlich gesagt, ist es für mich auch nicht so interessant gewesen. Die Folgen der Tat umso mehr. Der Gouverneur gab daraufhin nämlich seinem Garnisonskommandanten den Befehl, die Sache mit den Kali-Gläubigen in den Griff zu kriegen.«
»Äh . und was genau verstand der Gouverneur darunter?«
»Man sollte die Priester und ihre Gefolgsleute vermutlich zwingen, die Städte und deren nähere Umgebung zu verlassen und nur noch im Landesinneren ihre Tempel zu errichten. Deswegen sah sich Sarandon gezwungen, sie aus Benares zu vertreiben - wahrscheinlich sogar gegen seine Überzeugung. Auf jeden Fall verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den Engländern und den Einheimischen, deren Großteil die Kali-Priester unterstützten.«
Er schneuzte sich und fuhr fort: »Eines Morgens meldete man Sarandon, seine Tochter wäre verschwunden. Seine Frau ließ ihn aus einer Festung holen, wo er gerade Dienst hatte - fragen Sie mich nicht, aus welcher; ich war noch nie in Benares. Weinend berichtete sie, dass die Zofe das Zimmer der kleinen Hannah am Morgen leer vorgefunden hatte, und dass die Zeichen - gewaltsam geöffnetes Fenster, umgefallener Stuhl - auf eine Entführung hindeuteten. Und da die Repressalien gegen die Kali-Jünger genau in diesem Zeitraum ihren Höhepunkt erreicht hatten, lag es auf der Hand, hier einen Zusammenhang zu vermuten.
Dem Obersten, der den größten Teil seines Lebens in Indien verbracht hatte, war sofort klar, dass er mit Gewalt und Unüberlegtheit nichts erreichen würde. Ohne Waffen und ganz allein machte er sich sofort auf den Weg zu einem der Kali-Tempel, um sich bei den Geistlichen zu erkundigen. Da er nicht in die heiligen Gemäuer eintreten durfte, wartete er ungeachtet seines Ranges als Kommandant einen ganzen Tag vor dem Eingang, um mit dem ersten Priester, der vorüberkam, eine Nachricht schicken zu können. Es ging bereits auf Mitternacht zu, als ein junger Hindu den Obersten im Vorbeigehen informierte, dass er umsonst da stehe. Der Tempel war leer; die Kali-Priester und ihre Gefolgsleute hatten in der vorangegangenen Nacht die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.
Sicher können Sie sich den Schmerz der armen Eltern vorstellen. Der Oberst ließ Tag und Nacht nach seiner Tochter suchen. Vergeblich. Eines Tages aber . ich glaube, es war zwei Jahre nach dem Verschwinden der jungen Hannah . erhielt Sarandon eine Nachricht. Jemand warf ihm eine Zeichnung in den Garten.«
»Eine Zeichnung?« Ich beugte mich gespannt nach vorn. Sosehr indische Kolonialmärchen mich auch langweilen mochten, konnte ich der Sache doch ein gewisses Maß an Faszination abgewinnen.
»Ja, eine Zeichnung«, antwortete der Lord. »Eine Rolle, mit einer blauen Schleife verschnürt. Das Bild stellte einen Tempel dar, und zwar einen Sonnentempel, von dem bekanntlich nur wenige in Indien zu finden sind. Der ganze riesige Tempelkoloss stilisiert den Sonnenwagen, wie er über den Himmel saust. Sarandon glaubte daraus entnehmen zu können, dass man seine Tochter in einen solchen Tempel verschleppt hatte. Er fand aber nie heraus, welcher es genau war, beziehungsweise wo er sich befand.«
Während Lord Lover sich wieder einmal mit seiner Zigarre beschäftigte, dachte ich angestrengt nach. Von Mr. Anderson wusste ich, dass Sonnentempel in der Tat sehr dünn gesät waren, und wahrscheinlich noch aus der Zeit kurz nach der arischen Eroberung stammten - obwohl sich da die Forschergeister schieden.
»Der Sonnentempel wurde natürlich nicht von den Kali-Priestern erbaut«, bestärkte Lord Lover mich in meiner Annahme. »Sie zogen einfach nur in die leerstehenden Gemäuer ein, zusammen mit der kleinen Hannah Sarandon. Die sie dann wahrscheinlich irgendwann der blutrünstigen Göttin opferten .«
Ich blickte unserem Gastgeber direkt in die nassblauen Augen.
»Lord Lover«, sagte ich leise, »wollen Sie damit andeuten, Sie wüssten, wo dieser besagte Sonnentempel zu finden sei?«
Der Befragte...