6
Lange Zeit glaubte ich, mich getäuscht zu haben. Ich hatte meine Wunde gesäubert und wartete. Dabei war ich wohl ein bisschen eingenickt, denn das nächste, das ich wahrnahm, war eine Maus, die an meiner Tür um Einlass bettelte. So jedenfalls hörte es sich an.
Mit einem spitzbübischen Lächeln holte ich meine .38er Smith and Wesson unter dem Kopfkissen hervor, ließ die Waffe im Ärmel der geliehenen Kutte verschwinden und ging zur Tür. Ich zog den Riegel so vorsichtig beiseite, als würde ich mich nicht im würdevollsten Ordenshaus Deutschlands befinden, sondern im Hinterhofzimmer einer berüchtigten New Yorker Absteige.
Pater Ruggieri blinzelte beim Anblick des seltsam gewölbten Kuttenärmels und lächelte schließlich kaum wahrnehmbar.
»Ich sehe, Ihr Glaube im Bibelwort ist nicht sehr gefestigt«, sagte er, während er in meine Kammer trat. »Für uns hingegen ist es die wirkungsvollste Waffe überhaupt. Sie wird nie stumpf, wie die Wurfaxt, und verfehlt nie das Ziel, wie eine Kugel. Was meinen Sie dazu?«
Ich setzte mich und bedeutete ihm, es mir auf dem Stuhl neben dem kleinen Tisch gleichzutun. Bevor ich mich dazu äußerte, verstaute ich die Waffe wieder unter dem Kissen. Dann nahm ich den Bottich, setzte etwas Wasser im Schnellkocher an und machte erst einmal einen starken Tee. Pater Ruggieri starrte nachdenklich in die Bläschen auf der Oberfläche des Wassers und schien gar keine Antwort von mir zu erwarten.
Ich goss die Essenz in das kochende Wasser und zuckte schließlich mit den Schultern.
»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich trenne mich nicht gern von meiner Pistole.«
»Sind Sie ein gläubiger Mensch, Mr. Lawrence?«
»Ich denke, ja.«
»Aber kein Christ?«
Ich musste zugeben, er hatte keinen schlechten Instinkt für so etwas.
Ich rührte den Tee um, nippte ein wenig daran und zwang mir einen verdrossenen Gesichtsausdruck auf. Sollte er wenigstens sehen, dass wir uns auf sumpfiges Gelände begaben.
»Nein«, antwortete ich schließlich bestimmt. »Von den derzeit kursierenden Religionen liegt mir der Buddhismus am nächsten.«
Er nickte und trank ebenfalls einen Schluck Tee.
»Sie denken jetzt wahrscheinlich, dass . ich Sie das nicht fragen sollte, nicht wahr?«
Er seufzte und ließ den freundlichen Ausdruck auf seinem Gesicht verschwinden, gekonnt wie ein erfahrener Zauberer mit seiner Häschen-aus-dem-Zylinder-Nummer.
»In Ordnung, Mr. Lawrence. Ich bin Paolo Ruggieri. Sagt Ihnen dieser Name etwas?«
»Ich möchte Sie ja nicht beleidigen, Pater, aber .«
»Das macht nichts. Übrigens können Sie ruhig aufhören mit diesem Pater!«
»Entschuldigung. Ich dachte, Sie wären . äh . Priester.«
»Das bin ich, nur merke ich, dass Sie sich nicht an die Anrede gewöhnen können.«
»Trotzdem würde ich gern dabei bleiben, wenn Sie erlauben.«
»Wie Sie meinen. Übrigens arbeite ich im Vatikan.«
Unwillkürlich fiel mir die Szene ein, als er mit blutrünstigem Lächeln die Streitaxt über uns kreisen ließ. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu man einen Mann wie ihn im Vatikan gebrauchen konnte. Sorgte er vielleicht im Keller des Papstes für das Brennholz im Winter?
»Diese Sache heute Nacht hat mich sehr verwirrt, Mr. Lawrence.«
»Sie werden lachen, mich auch.«
»Hm. Die letzte Stunde hatte ich im Ausstellungsraum verbracht.«
»Falls ich Ihnen etwas vorschlagen darf - tun Sie es lieber bei Tageslicht. Die Ausstellungsstücke sind dann viel schöner.«
Er beugte sich über seine Tasse und versuchte, mir in die Augen zu blicken. Erstaunt bemerkte ich, dass das leicht grausame Lächeln auf sein Gesicht zurückkehrte.
»Mr. Lawrence! Ich habe festgestellt, dass man heute Nacht tatsächlich einen Anschlag auf Sie verübt hat!«
Es wäre ziemlich billig gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass gerade er es war, der vor gut anderthalb Stunden meine diesbezügliche Paranoia in Frage gestellt hatte.
»Sie haben mich noch nicht gefragt, was ich im Vatikan tue.«
»Wahrscheinlich beten.«
Er seufzte, schnalzte mit der Zunge, und räusperte sich schließlich.
»Die Sache ist die . Ich bin direkt dem Papst unterstellt und habe die Aufgabe, gewisse . Dinge zu erledigen. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen .?«
»Ich fürchte, ja.«
»Gut. Nun, Mr. Lawrence, in der letzten Zeit . häuften sich Vorkommnisse in manchen unserer Klöster, die . um es mal so zu formulieren . die Aufmerksamkeit des Heiligen Vaters auf sich zogen . und zwar im negativen Sinne.«
Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Ahnung, wovon er redete. Ich stellte in Gedanken eine Liste meiner Verfehlungen zusammen, fand aber nichts, was den Groll des Vatikans nach sich hätte ziehen können.
»Mr. Lawrence . ich möchte Ihre Zeit nicht umsonst vergeuden . bald dämmert es, und ich muss an der Morgenandacht teilnehmen. Also, wo waren Sie letztes Jahr im März?«
Plötzlich sah ich die Sterne wieder leuchten. Hoho, darum geht es also?
»Im Kloster San Lazaro«, antwortete ich ruhig.
»Darf ich erfahren, wonach Sie dort gesucht haben?«
»Ich habe das Gefühl, dass Sie das genauso gut wissen wie ich selbst.«
»Da irren Sie sich vermutlich. Also?«
Es machte wenig Sinn, etwas zu verbergen. Wozu auch?
»Forschungsarbeit«, antwortete ich folgsam und knapp.
»Aha. Und wonach haben Sie dort geforscht?«
»Nach denselben Dingen wie hier. Hauptsächlich Relikte der Kitai-Dynastie. Patschken.«
»Pa. was?«, fragte er schließlich, nachdem er seine vor lauter Überraschung heruntergerutschte Brille wieder zurechtgeschoben hatte.
»Wollen Sie damit sagen, Sie wissen nicht, was kitaiische Patschken sind?«
Ein Anflug von Röte überflog sein Gesicht, und er blickte mich hilfesuchend an.
»In Ordnung. Sie wissen doch sicherlich, wer die Kitaien waren?«
»Chinesen, glaube ich.«
»Weit gefehlt. Die vereinten Nomadenstämme der Kitaien eroberten in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts den Norden Chinas. Wir vermuten, sie sprachen mongolisch, und dass sie im gewissen Sinne die Vorfahren der heutigen Mongolen waren. Sie verjagten das chinesische Kaiserhaus und gründeten eine eigene Dynastie, die sie Liao nannten. So weit verstanden?«
»Bisher schon, aber .«
»Die Sprache der Kitaien ist bis heute nicht entschlüsselt worden. Obwohl es genügend Felsinschriften gibt, können wir sie nicht lesen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil wir die Bedeutung der Zeichen nicht kennen.«
»Zeichen?«
»Die Kitaien entwickelten aus den chinesischen Zeichen ihre eigene Schrift. Nun, mit dem Enträtseln genau dieser Schrift beschäftige ich mich seit einiger Zeit. Und es sieht so aus, als hätte ich eine Chance, bald ans Ziel zu kommen.«
»Und . was sind diese . Patschken?«
»Wie soll ich es erklären? Sagen wir mal, ein chinesischer Steinmetz fertigt eine Aufschrift an. Zum Beispiel auf einen Grabstein. Er hat einen Stein geschliffen und dann diese kitaiischen Schriftzeichen eingemeißelt. Tausend Jahre später habe ich dann die Ehre, die Inschrift untersuchen zu können. Ich kann sie nicht mit nach Hause nehmen, da der Stein sehr schwer ist. In so einem Fall fertigt der Wissenschaftler dann Patschken an.«
»Aha.«
»Er bestreicht die Oberfläche des Steins mit einer dunklen, aschehaltigen Farbe, wobei er sorgsam darauf achtet, dass nichts davon in die ausgemeißelten Zeichen fließt. Wenn der Stein schwarz ist wie des Teufels Allerwertester - Verzeihung, Pater! - legt er ein weißes Papier darauf, drückt es fest an und zieht es kurz darauf wieder ab. Auf dem Papier bleibt dann der negative Abdruck der Buchstaben. Das Papier wurde schwarz, die Zeichen aber blieben weiß. Verstehen Sie?«
»Ja, schon . Ich begreife nur nicht, warum man heute, in der Zeit der Infrarotfotografie .«
»Pater, diese Patschken wurden nicht heutzutage, sondern vor hundert oder zweihundert Jahren angefertigt. Zum Glück gab es bereits damals Forscher, die sich für die Vergangenheit Asiens interessierten und die, wenn sie die Aufschriften auch nicht entschlüsseln konnten, für die Nachwelt wenigstens Patschken davon anfertigten. Ich hatte gehört, einige sollen in San Lazaro sein . deswegen fuhr ich dahin.«
Ruggieri starrte nachdenklich in seine Tasse. Als ob er nach irgendwelchen kitaiischen Zeichen auf dem Grund des Tees suchen würde.
»Und? Hatten Sie Glück?«
»Ich fand nur ein Blatt. Die Grabinschrift eines kitaiischen Prinzen.«
Pater Ruggieri steckte den Daumen in den Mund und begann am Nagel zu knabbern.
»Hören Sie, Mr. Lawrence. Kurz nachdem Sie Ihre Studien in San Lazaro beendet hatten, erschien dort ein chinesischer Geistlicher, der zu der Kirche gehörte, die in enger Verbindung mit dem Vatikan steht.«
Ich nickte, da ich genau wusste, dass es in China zwei katholische Kirchen gibt - eine, die sich dem Vatikan unterstellt und eine, die nur den Staat und die chinesische Partei anerkennt.
Letztere hatte schon seit Langem die Verbindung zum Heiligen Stuhl abgebrochen.
»Und?«
»Dieser Geistliche, ein gewisser Pater Liu, zeigte eine Vollmacht des Pekinger Erzbischofs vor und deutete an, er wolle in der Bibliothek von San Lazaro...