Der Fluch des Huan-Ti
1
Ich legte das Buch zur Seite und starrte aus dem Fenster.
Hellgraue Wolkenfetzen zogen neben uns vorbei, dicke Regentropfen rollten über das Glas. Die Maschine brummte leise und zufrieden vor sich hin; eine ganze Zeit nun schon, seit wir in Bangkok abgehoben und via Peking Kurs in Richtung Nanking eingeschlagen hatten. Angenehmer Teeduft bereicherte die Luft der Kabine. Die in traditionelle thailändische Kleidung gehüllte Stewardess füllte mit einem freundlichen Lächeln die Tassen nach und bot dazu kleines, rundes Gebäck an.
Der Servierwagen verlor das Gleichgewicht, als das Flugzeug in eine besonders unfreundliche Wolke eintauchte, und machte sich auf seinen Rollen sofort selbstständig. Beherzt stellte ich ihm ein Bein in den Weg und beendete damit seine kurze Fahrt ins Heck.
Die Stewardess tippelte, mit dem Tablett gekonnt balancierend, hinterher und schenkte mir ein, wenn überhaupt möglich, noch strahlenderes Lächeln als zuvor. Sie drehte sich zu mir um, vielleicht flüsterte sie mir auch etwas zu, und berührte dabei wie aus Versehen mein Bein.
Ich lächelte zurück und hielt den Wagen fest, bis sie ihr Tablett darauf in Sicherheit gebracht hatte. Als sie schon fast hinter dem Vorhang zwischen den Abteilen der verschiedenen Klassen verschwunden war, schaute sie noch einmal zurück und zwinkerte mir zu. Nicht auffällig, aber sehr bestimmt. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Gerade gab ich mich der stillen Hoffnung hin, dass uns Peking mit gutem Wetter beglücken würde, als mein Nachbar meinen Arm ergriff.
»Worauf warten Sie denn noch, Sie Hampelmann?«
In seinem Englisch schwang ein starker französischer Akzent mit, und jedes Wort ließ den ehemaligen Soldaten erkennen. Er presste die Vokale hart zwischen den Lippen hervor, als ob er neben einer Kanone stehen und seit vierundzwanzig Stunden ununterbrochen Feuerbefehle geben würde.
Was das betrifft, war auch seine Erscheinung militärisch. Das kurz geschnittene schneeweiße Haar, der riesige abstehende Schnurrbart erinnerten mich an die preußischen Befehlshaber des Ersten Weltkrieges. Lediglich seine beinahe schon an Eingeborene erinnernde braun gebrannte Haut zerstörte die dadurch gewonnene Illusion.
»Wie meinen Sie?«
Er schüttelte den Kopf und stieß einen lauten Seufzer aus.
»Irgendwas stimmt mit der heutigen Jugend nicht mehr, glauben Sie mir . Mein Guter, damals hätte ich vieles dafür gegeben, so ein Mädchen zu bekommen. Wenn ich jetzt dreißig Jahre jünger wäre . Wissen Sie, was wir Franzosen tun, wenn uns jemand so zuzwinkert?«
»Ich habe keine Ahnung .«, spielte ich den Dummen. »Allerdings sind wir Engländer auch nicht so unwissend, wie man meint.«
»Inwiefern?«
»Nun, wir halten uns zum Beispiel zurück, wenn wir bemerken, dass ein hübsches Mädchen mit unserem Nachbarn flirtet .«
Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht, aber nur ganz kurz. Dann kratzte er sich am Haaransatz und zog eine Grimasse.
»Das hatte ich wohl verdient . Nun ja . Übrigens, mein Name ist Villalobos, General Adam Villalobos.«
Der Name kam mir bekannt vor, aber im Moment konnte ich ihn noch nicht einordnen. Ich war mir allerdings sicher, ihn schon einmal gehört oder sogar in Zeitungen gelesen zu haben.
Ich drückte seine Hand und dachte dabei angestrengt nach. Er war sicherlich Soldat, schließlich hatte er sich doch auch als General vorgestellt.
»Lawrence«, erwiderte ich. »Leslie L. Lawrence.«
Er zog seinen Arm zurück und zwirbelte seinen Schnurrbart.
»Oh, dann kenne ich Sie doch! Ich bin nicht zuletzt wegen des Treffens mit Ihnen auf dem Weg nach Nanking. Was für ein Glück! Wollen Sie ihr wirklich nicht hinterhergehen?«
»Bis Peking dauert es ja noch eine Weile«, antwortete ich. »Woher wissen Sie denn, wer ich bin?«
»Aus den Entomologischen Blättern. Ich selbst bin auch sehr an Käfern interessiert. Besonders an den Bambusschädlingen.«
»Äh . und warum gerade an denen?«
»Wenn sie den Bambus auffressen, bleiben keine Knospen für die Pandas übrig. Klar?«
»Nun . um ehrlich zu sein .«
»Also gut, noch mal von vorne. Wissen Sie noch, wie ich heiße?«
»General Villalobos.«
»Lassen Sie das mit dem General. Das liegt Jahrhunderte zurück.«
Plötzlich knipste jemand die Taschenlampe in meinem Kopf an, und mir fiel es wieder ein. Villalobos . natürlich!
»Sie sind der Vorsitzende der Pandakommission!?«
Er lächelte zufrieden und brüllte mir vergnügt in die Ohren:
»Na endlich, Mann! Schließlich hatten wir sogar mal einen kleinen Briefwechsel .«
»Vor drei Jahren .«
»Genau! Ich bat Sie um Hilfe.«
»Sie wollten wissen, ob es eine Möglichkeit gibt, die Schädlinge auf biologische Weise zu bekämpfen, da Chemikalien auch die Pandas töten würden.«
»Na, das müssen wir aber feiern! Los, gehen Sie ihr nach, wenn schon nicht deswegen, dann wenigstens, um etwas Whisky zu besorgen!«
Ich wollte mich schon aus dem Sitz erheben, als sich hinter mir plötzlich jemand nach vorne beugte und mir ohne viele Worte eine volle Flasche des wertvollen Getränkes in den Schoß plumpsen ließ.
Villalobos starrte mit großen Augen auf meinen neuen Schatz.
»Sind Sie so etwas wie ein Hobbyzauberer?«
Ich stand auf und schaute in die nächste Reihe. Ein Riese, mindestens zwei Meter groß, grinste mich an. Seine Glatze glänzte wie eine Billardkugel, lediglich ein kleines lilafarbenes Haarbüschel in der Mitte unterbrach die Symmetrie. Ein geschickter Tätowierer hatte auf der mir entgegengestreckten Hand eine Trommel mit zwei Schlagstöcken verewigt - es erinnerte ein wenig an einen Totenschädel mit gekreuzten Schienbeinknochen.
Das Grinsen verwandelte sich in ein offenes Lächeln und offenbarte einige Goldzähne.
»Hey!«
Für einen Moment wusste ich nicht, ob er mich begrüßte oder sich nur über etwas freute. Noch während ich angestrengt darüber nachdachte, zerquetschte er mir beinahe die Finger.
»Hallo .«, erwiderte ich schwach. »Sind Sie unser Schutzengel oder so?«
»Oder so. Warum, Probleme damit?«
»Wer sind Sie?«
»Der Begleiter des Generals«, grinste er. »Hatte zufällig gelauscht. Sind Sie etwa Villalobos? Ich hab Sie mir aber anders vorgestellt .«
Villalobos errötete ein wenig, und die Hand auf der Lehne schien etwas zu zittern.
»Was heißt hier, mein Begleiter?! Ich habe keinen Begleiter! Wer zum Teufel .«
»Sie sind doch der Pandatyp, oder?«
»Der Vorsitzende der Pandakommission, wenn ich bitten darf!«
»Alles klaro. Ich bin der Leichenfresser.«
Da mir aus den Wortfetzen nicht ganz klar wurde, welche Muttersprache ihn ins Waisenhaus eingeliefert hatte, nahm ich einfach an, dass er Probleme mit dem englischen Wortschatz hatte. Villalobos eignete sich inzwischen die Whiskyflasche an und prüfte gerade das Etikett.
»Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht richtig verstanden .«
»Leichenfresser.«
»Leichenfresser? Sicher?«
»Sagen Sie mal«, blickte er mich misstrauisch von der Seite an, »lesen Sie denn überhaupt keine Popzeitschriften?«
Beschämt blickte ich zu Boden und stammelte etwas von hundertprozentiger Popzeitschriften-Abstinenz.
»Sie meinen, Sie haben noch nie etwas von den Leprakranken Leichenfressern gehört?!«
Villalobos blinzelte mich über die Flasche hinweg an und versuchte, seinen offenen Mund hinter ihr zu verbergen.
»Ahm, sehen Sie .«, fing ich vorsichtig an, »heutzutage gibt es ja so viele Gruppen .«
»Leprakranke Leichenfresser aber nur einmal. Kennen Sie denn das hier nicht?« Und damit fing er an, leise eine Melodie zu summen, um kurz darauf auch noch den Text zu singen. Ich vernahm irgendetwas mit Blut, das bei jedem Biss des Satans hervorquillt.
»Ich gratuliere«, sagte ich. »Ganz nettes Lied. Und danke für den Whisky. Den General scheinen Sie ja zu kennen.«
»Ich bin sein Begleiter.«
Villalobos seufzte und zwirbelte mit Märtyrergebärde seinen Schnurrbart.
»Das scheint sein Tick zu sein. Sagen Sie mal, wohin begleiten Sie mich denn nun?«
»Na zu den Pandas, Chef.«
»Wohin?«
»Sie halten doch diesen Vortrag, oder? So an neun oder zehn Orten. Angeblich soll da auch gesammelt werden.«
Der General sank leichenblass in seinen Sessel zurück und schien sich auf den Tod vorzubereiten. Ich nahm ihm vorsichtig die Whiskyflasche aus der Hand, damit ihr nichts passierte.
»Sie .? Sie sind das . Ensemble?« flüsterte er. »O mein Gott! Ich wollte doch ein Streichquartett! Ich hatte vor, extra ein Pandalied für diesen Anlass schreiben zu lassen .! O mein Gott!«
»Tja, Streichquartette gab's zurzeit nicht. Ja, der Typ von der Agentur schwafelte was von einem Lied . Keine Angst, Major, wir kriegen das schon hin! Spätestens in Peking ist der Gassenhauer fertig. Pampapam, papa-panda! Sowas in der Art. Der Killerpanda . zum Beispiel. Kein schlechter Titel, was?«
Villalobos vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Ich werde verrückt«, krächzte er mit einer Stimme, die keinen Zweifel über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage aufkommen ließ. Es klang, als...