Schweitzer Fachinformationen
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Das Atelier des Meisters war nicht weit, Gwen gönnte sich Zeit für einen Umweg durch den Jardin du Luxembourg.
Auf den Straßen war der Matsch über Nacht in den Hufspuren erstarrt, nur im Schatten der vorstehenden Dächer lag der Schnee noch weiß und unberührt am Straßenrand.
Gwen fror. Der Wind ritzte ihre Haut auf und trieb ihr Tränen in die Augen. Ihr Kleid entsprach nicht der Jahreszeit, es war das Festkleid, in dem sie an warmen Herbstabenden im Arm von Ambrose getanzt hatte, damals, vor Jahren, auf den Bällen der Kunstakademie. Ein berauschendes Wirbeln durch die Menge, das Glück in Reichweite, fast so greifbar wie Ambroses Arm, der sich schüchtern um ihre Taille gelegt hatte. Und erst die neidischen Blicke. Vom jungen Ambrose hatte man sich in den Londoner Kunstkreisen viel versprochen. Gwen verschränkte die Arme vor der Brust und strich fröstelnd an der Mauer des Cimetière Montparnasse entlang.
Das Frühlingslicht tauchte den Jardin du Luxembourg an diesem Apriltag in milde Trostlosigkeit. Laub schwamm im großen Bassin, faulte auf den Wegen und in den Faltenwürfen der Statuen. Der Schnee lastete auf den Bäumen und erstickte jedes Geräusch. Gwen hörte nur den Kies unter den Sohlen knirschen, hörte die Stille, ihren Atem, dann und wann das Flattern eines aufgescheuchten Vogels. Sie war allein um diese Zeit, die Spaziergänger mussten schon morgens mit ihren Hunden im Park gewesen sein; kreuz und quer über die Rasenflächen zog sich ein wildes Muster eingedrückter Pfotenspuren.
Gwen liebte den Park. Seit sie mit Dorelia in Paris wohnte, vier, sechs Wochen, so genau wusste sie es nicht, machte sie fast täglich ihre Runde. Sie mied die Alleen, verlor sich lieber auf den verspielten Wegen der Pépinière und ließ den Palast und die Terrassen im Rücken. Hinter dem Pavillon Daviou betrachtete sie den Farn, der sich aus dem moosigen Boden rollte, den Krokus, der büschelweise spross. Immer gab es neue Blumen zu sehen, heute die ersten Osterglocken. Viele Blüten waren noch gar nicht aus den Stängeln geschlüpft, stachen wie gelb gewickelte Stäbchen aus der Membran. Andere hatten sich entfaltet und leuchteten aus dem Gewirr entblätterter Stauden. Gwen kniete nieder und berührte sie mit ihren durchfrorenen Fingern. Sie fühlten sich samten an, sehr weich, trotz des Frosts, der ihre Stängel spröde machte. Sie musste sich beherrschen, sie nicht zu pflücken. Was dächte der Meister von ihr, wenn sie mit einem Blumenstrauß vorspräche?
Sie verließ den Park durch das Nordtor und ging in Richtung Seine. Sie wählte die windgeschützten Gassen, ungefähr kannte sie sich in den Verwinkelungen des Quartiers aus. Vom Kauern war der Kleidsaum nass geworden, auch an den Füßen fühlte sie jetzt die Feuchtigkeit durchs Leder dringen, aber sie kehrte in keinem Café ein, um sich zu wärmen. Sie schaute nur durch die Scheiben ins Innere der Stuben und stellte sich vor, wie ihr das heiße Getränk in den Magen floss. Das musste genügen. Es wäre unvernünftig gewesen, die letzten Sous im Café auszugeben.
Das staatliche Marmordepot lag im letzten Abschnitt der Rue de l'Université, viel näher am Seineufer, als Gwen erwartet hatte. Sie hatte die ganze Länge der Straße hochlaufen müssen, an Schreinereien vorbei, Buchbindereien, einem Schuhmacher, zahllosen Boutiquen, quer durchs Quartier des Invalides.
Der Weg zu den Ateliers führte, wie Hilda Flodin es ihr beschrieben hatte, über einen Innenhof mit Kastanien, an dessen Hausmauern sich Marmorblöcke reihten. Die Steine glichen gefrorenen Milchkuben, auf ihren Flanken schimmerte ein verästeltes Muster, als durchzögen Adern eine fast durchsichtige Haut. Gwen schaute sich die Quader aus der Nähe an, sie hatte noch immer Zeit, musterte eingehend die Oberflächen, die vom mechanischen Schnitt wellige Rillen aufwiesen. Auf einigen war der geschmolzene Schnee zugefroren und bildete einen Eisfilm.
Gwens Lippen waren blau vor Kälte, ein leises Zittern schüttelte ihre Glieder. Mehrmals fuhr sie sich mit der Hand übers Haar und vergewisserte sich, dass keine Nadel aus dem Dutt stach. Sie zwickte sich in die Wangen, um sie zu röten, betastete unterm Umhang den Kragen nach der Kamee, ob sie noch gerade saß. Kratzte den Matsch von ihren Stiefeletten und wehrte sich gegen die Angst, die ihr plötzlich wieder den Atem verschlug. Was sollte sie sagen, wenn sie ihm gegenüberstand? War ihr Französisch nicht mangelhaft? Gar lächerlich? Vergeblich suchte sie die geeigneten Begrüßungsformeln, die sie zu Hause eingeübt hatte, nur Bruchstücke fielen ihr ein, vom Akzent ganz zu schweigen. Am liebsten wäre sie umgekehrt, noch war ein Rückzug möglich. Aber sie hatte sich geschworen, nicht feige zu sein. Sie brauchte das Geld. In Paris starben dauernd Künstler an Hunger und Verwahrlosung, die Zeitungen waren voll von Nachrichten über gescheiterte Träume. >Der Meister wird mich verstehen müssen<, redete sie sich zu, >so einfach ist das. Er wird mich anhören, und wenn er mich erst begutachtet hat, spielt die Sprache keine Rolle mehr. Hat Gus nicht geschrieben, dass der Meister junge Engländerinnen möge? He loves English young ladies, sind seine Worte gewesen, das ist klar genug. Nun, ich bin mit meinen siebenundzwanzig Jahren jung genug, und aus England stamme ich ja auch, oder immerhin fast<, dachte sie. Zum Teufel also mit den Sprachlücken.
Gwen war von der Unordnung im Atelier überrascht. Sie befreite sich aus der Umklammerung der Concierge, die sie hineinführte, und wich in den Schatten des Türrahmens zurück. Wo sie hinschaute, standen versteinerte Menschen, die meisten ohne Arme und Beine. Ein ganzer Wald. Riesen und Gnome, Männer und Frauen, Köpfe, Torsos. Auch am Boden lagen Leiber im Mörtelstaub, zerstückelt, in den aufgerissenen Mündern einen stummen Schrei.
»Kommen Sie, Mademoiselle, keine Angst, kommen Sie nur. Der Maître erwartet Sie.«
Die Concierge winkte Gwen und ging ihr zwischen den Statuen schlurfend voraus. Sie hatte ungepflegtes weißgelbes Haar, und ihr Gesicht war von einem Netz feinster Runzeln überzogen. Aber von der sprichwörtlich schlechten Laune, die Hilda ihr geschildert hatte, war nichts zu merken. Gwen meinte sogar ein Lächeln um ihre Lippen spielen zu sehen, vielleicht der schüchterne Ansatz einer Aufmunterung. Sie folgte zögernd, die Augen auf die Schleifspuren geheftet, welche die Alte mit ihren Pantoffeln über den Boden zog.
Plötzlich hallte von der Fensterecke ein Gekicher herüber, das Gwen zwang aufzublicken und Gesichter zu suchen aus Fleisch und Blut. Durch die Höhlung eines Männerrückens und den gebogenen Arm einer Nymphe sah sie eine junge Frau in der Zimmerecke stehen. Sie hatte den Oberkörper aus der Bluse geschält und hielt den Arm angewinkelt hinter dem Kopf. Von links hatte sich eine Hand unter ihr Kinn geschoben und verweilte dort mit gespreizten Fingern, bewegte sich kaum. Die Hand maß den Abstand bis zum Schlüsselbein, erspürte die Einbuchtung des Halses mit einer verhaltenen Bewegung der Finger. Ein Schauer durchzuckte den Körper der Frau, ihr Mund schürzte sich zu einem mädchenhaften Lächeln. Sie hatte volle, dunkle Lippen. Lippen, dachte Gwen, auf die Männer gerne Küsse drücken. Die Frau gurrte: »Hören Sie auf, Maître, das kitzelt«, aber die Hand, die kräftige Hand eines Handwerkers, fuhr unbeirrt unters Kinn und tastete sich am Ansatz des Halses zum Kiefer hoch und hinunter. Von Weitem sah es aus wie die Berührung eines blinden Geliebten, liebkosend und zugleich fieberhaft getrieben von der Gier, die Landschaft dieser Haut zu erfahren. Die Frau war nicht schön, Gwen erkannte auf einen flüchtigen Blick Mängel, die sie beruhigten. Darin war sie von der Londoner Slade School of Arts her geübt. Sie erfasste sofort die euterhafte Schwere der Brüste, bemängelte den allzu muskulösen Hals. Und dem Gesicht, das einen Hauch von Südländischem hatte, verlieh der auffällig stumpfe Winkel zwischen Stirn und Nasenrücken etwas entschieden Dümmliches.
Der Meister schob sich vor sein Modell und begann, verschiedene Positionen am erhobenen Frauenarm auszuprobieren. Er befahl ihm, den Ellbogen hinter den Kopf zu biegen und das Handgelenk näher an die Schläfe heranzuholen, gleichzeitig arbeitete er mit raschen Daumenbewegungen an einer Tonfigur. Er hatte kräftige Schultern. Das war das Erste, was Gwen auffiel. Die Dockarbeiter im Hafen von Liverpool hatten solche Schultern. Sicher kam das von seinem Beruf, von der Kraft, die es brauchte, um den Stein zu behauen. Überhaupt schien er ein Riese. Das also ist der große Meister bei der Arbeit, staunte Gwen. Er, den die ganze Welt bewundert, er steht leibhaftig vor mir, atmet dieselbe Luft ein wie ich. Aber sie empfand keine Ehrfurcht, nicht einmal Freude. Den Kopf hielt er während seiner Betrachtung seitlich geneigt, dabei bildeten sich im Nacken Hautfalten, die über den Kragen des Arbeitskittels quollen. Wie alt mochte er sein? Er hätte ihr Vater sein können. Hilda hatte behauptet, er sei weit über sechzig. Die Frauengeschichten, die man sich in seinem Zusammenhang erzählte, widersprachen aber einem solchen Alter. Gwen hatte Scheußliches gehört. Daran musste sie nun denken, während sie ihn beobachtete, an die vielen Frauen, die sich ihm schon an den Hals geworfen hatten und für die er sich nicht zu schade gewesen war.
Eine Fliege schwirrte im Raum, surrte die Fensterscheibe hoch und schlug immer wieder dumpf dagegen.
»Maître, hier kommt das junge Mädchen. Immerhin wenigstens pünktlich!«
Die Concierge...
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