Schweitzer Fachinformationen
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Nizza, Mai 1915
Charlotte strich sich mit dem Handrücken einige Schweißtropfen von der Stirn. Ihr war warm geworden in dem stickigen Raum, und der penetrante Geruch von Karbol bereitete ihr Unwohlsein. Normalerweise war sie hart im Nehmen, das sagten alle von ihr, aber heute war kein guter Tag. Wahrlich nicht. Sie hatte schlecht geschlafen, beim Frühstück ihren Kaffee auf die neue Tischdecke verschüttet, war zu spät zu ihrer Schicht erschienen und hatte sich eine Standpauke von Babette, der Oberschwester, anhören müssen. Zu allem Übel war ihr auch noch eine Naht ihrer Schwesterntracht gerissen, für alle sichtbar an der Schulter.
Der Soldat, den sie versorgte, war sehr jung, vielleicht neunzehn oder zwanzig, kaum älter als sie selbst. Er war vor einigen Tagen schwer verletzt aus dem Norden nach Nizza transportiert worden, und die Bettdecke warf nun traurige Falten dort, wo einst sein linkes Bein gewesen war. Vorsichtig tupfte sie ihm die fiebrige Stirn ab und injizierte ihm eine Dosis Morphium. Er stöhnte im Schlaf, und sie zog die Decke behutsam über seine Brust.
Dann sah sie nach den anderen Patienten im Zimmer, erneuerte Verbände, verabreichte Schmerzmittel, spülte Wunden und tamponierte sie aus, schenkte den Männern ein aufmunterndes Lächeln. Anschließend trug sie die Ergebnisse der Puls- und Temperaturmessungen und ein »V« für Verbandswechsel fein säuberlich in die Kopftafeln ein, die über dem Bett jedes Patienten angebracht waren. Dort waren auch Name, Dienstgrad und der Tag der Einlieferung vermerkt. Viele der Verwundeten waren schon länger im Lazarett, sie kannte deren Berichte von der Front, das grausame Geschehen dort, das Blutvergießen. Aber sie erzählten auch von ihrer Heimat, ihren Familien, Kindern, Ehefrauen, Freunden. Für manche war es allein der Gedanke an ihre Liebsten, der sie in dunkelsten Zeiten am Leben erhielt.
Charlotte verließ das Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu. Sie lehnte sich an die kühle Wand im Flur, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie schrak auf, als jemand sie sanft an der Schulter berührte.
Es war Francine. »Ist alles in Ordnung?«, fragte ihre Freundin mit sanfter Stimme.
»Ja. Es ist nur etwas viel heute. Du kennst ja diese Tage.« Charlotte seufzte.
»Natürlich. Komm, wir gehen kurz raus, frische Luft schnappen.«
Francine hakte sich bei Charlotte unter, gemeinsam liefen sie die weitläufige Treppe des Hotels Negresco hinab, das seit Beginn des Krieges zu einem Lazarett umfunktioniert worden war. Fast täglich trafen Transporte mit Verwundeten aus dem Norden ein. Das Leid, das sie in den letzten Monaten zu sehen bekommen hatte, übertraf alles, was sie sich in ihren schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können.
Zum Glück hatte Charlotte in den anderen Krankenschwestern wahre Freundinnen gefunden. Allen voran Francine, die mit ihrer ruhigen Art schon seit ihren ersten Tagen im Lazarett zu Charlottes engsten Vertrauten gehörte. Sie war eine Erscheinung, wunderschön mit ihrem feuerroten Haar, den grünen Augen und dem Teint, der sie an glatte Eierschalen erinnerte.
Charlotte und Francine setzten sich auf die Stufen vor dem Hotel. Die Promenade des Anglais lag vor ihnen, die weitläufige Prachtstraße, auf der vor einem Jahr noch die Damen und Herren der feinen Gesellschaft in ihrer eleganten Kleidung mit ihren Sonnenschirmen und breitkrempigen Hüten flaniert waren, um die Sommerfrische der Côte d'Azur zu genießen. Schwarz glänzende Pferdekutschen zogen damals vorbei, und die zahlreichen Cafés waren voller Gäste. Die Fassaden der Gebäude an der von Palmen gesäumten Promenade waren imposant und prächtig gewesen, ihre Eingangstüren mit den goldenen Messingklopfern, den roten Teppichen und Ziergittern erinnerten an Schlösser und Paläste. Doch seit Ausbruch des Großen Krieges hatte Nizza viel von seiner betörenden, unschuldigen Schönheit verloren. Die pompöse Stadt mit ihren schillernden Hotels, Casinos und Restaurants, in denen die gekrönten Häupter und reichen Aristokraten - die Bourgeoisie - unter üppigen Kronleuchtern ihre Ferien verbrachten, hatte nun etwas Gespenstisches, Düsteres. Marschkolonnen und Kavallerie beherrschten die Gassen, und aus den Cafés und Lokalen waren eintönige Militärmärsche zu hören. Das Centre de Recrutement Militaire an der Rue Palermo war zum Zentrum der Stadt geworden, ein Ort, der eine unheimliche Atmosphäre verbreitete. Frauen berichteten sich auf den Marktplätzen gegenseitig von dem, was sie von ihren Männern oder Söhnen erfuhren, die zur Front geschickt worden waren, von grauen Kriegsschiffen, die von Toulon aus in die Schlacht ausliefen, von verletzten oder gefallenen Soldaten, getroffen von Bajonetten oder Granatsplittern.
Das Rauschen des Meeres drang zu ihnen, und Charlotte spürte, wie sie sich langsam etwas entspannte.
»Ich frage mich, wann endlich die Lieferungen vom Roten Kreuz eintreffen. Karbol und Morphium werden knapp. Und wir brauchen neue Decken, Spritzen und Verbandszeug«, sagte Francine in ihr Schweigen hinein. Sie hatte sich ein helles Tuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen, was an die Kopfbedeckung einer griechischen Göttin erinnerte.
»Ich weiß. Aber wir sind nicht das einzige Lazarett in der Gegend. Balmoral und L'Hermitage haben sicher das gleiche Problem«, erwiderte Charlotte. Viele gediegene Hotels waren zu Lazaretten umfunktioniert worden. Inzwischen hatten auch die Besitzer des Grand Hotel im nahen Menton sowie des Le Regina und Le Winter ihre Räumlichkeiten dem Militär zur Verfügung gestellt.
Francine seufzte. »Ich wünschte, dieser verdammte Krieg würde endlich enden.«
Charlotte nickte. Auch sie sehnte sich danach, nicht mehr in der Nacht von Albträumen geplagt aufzuwachen, nicht mehr von den schmerzerfüllten Schreien verwundeter Männer verfolgt zu werden.
»Als ich herkam, da hatte der Krieg gerade begonnen. Niemand ahnte damals, wie schlimm es noch werden würde«, sagte Charlotte.
»Es war sehr mutig von dir, allein als junge Frau nach Nizza zu gehen. Ich hätte mich das nicht getraut.«
»Ich hatte eigentlich keine andere Wahl. Meine Großmutter war ebenfalls Krankenschwester, 1870, im Krieg gegen die Deutschen. Sie war meine engste Vertraute. Und sie hat mir viel über ihre Arbeit erzählt.« Charlotte hielt inne. Die Erinnerung an ihre geliebte Großmutter Valerie ließ sie kurz erschaudern. Valerie war kurz vor Ausbruch des Großen Krieges gestorben, und es war Charlotte wie ein Zeichen vorgekommen, in ihre Fußstapfen zu treten. Nie würde sie den Tag vergessen, als verkündet wurde, dass Krieg sei, an die Bekanntmachungen des Kriegsministeriums, die überall aufgehängt wurden. Alle tauglichen Männer wurden zu den Waffen gerufen, mit sofortiger Wirkung. Überall herrschte eine gedrückte Stimmung, niemand schien so recht zu wissen, was er davon zu halten hatte. Sie selbst war einige Wochen nach Kriegsbeginn nach Nizza aufgebrochen, hatte ihr früheres, wohlbehütetes Leben in ihrer Heimat, einem kleinen Ort in der Provence, zurückgelassen. Ihre Mutter hatte gezetert und geschimpft und sie vor den Gefahren in Nizza gewarnt, doch ihr Vater hatte sie ziehen lassen. Er wusste, dass sie stur sein konnte, stur wie er selbst, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Dafür war sie ihm unendlich dankbar. Die Ausbildung war hart gewesen, in kürzester Zeit hatte sie alles über Morphin, Scopolamin und Procain gelernt, über deren Wirksamkeit und wie man sie verabreichte. Man zeigte ihr und den anderen jungen Frauen, wie man Ärzten assistierte und Operationen vorbereitete, und sie erfuhren alles über die Wundversorgung und wie man Injektionen und Infusionen legte. Die Tätigkeit war anstrengend und kräftezehrend, aber sie war glücklich, denn das, was sie tat, erfüllte sie.
»Charlotte? Wo bist du mit deinen Gedanken?« Francine musterte sie kritisch.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Ich habe dich gefragt, ob du Lust hast, Aimée und mich später ins Café du Jardin zu begleiten. Ein bisschen Ablenkung tut uns allen gut.«
»Ich weiß nicht. Mir ist heute nicht danach.«
»Ach, nun hab dich nicht so.« Francine knuffte sie in die Seite. »Das wird lustig.«
»Na schön.« Charlotte seufzte. »Vielleicht hast du recht. Manchmal muss man sich einfach einen Ruck geben.«
Das Café du Jardin lag an einem Marktplatz, auf dem Gaukler ihre Späße trieben und Händler ihre Waren feilboten. Ein Springbrunnen aus Stein sprudelte in der Mitte fröhlich vor sich hin, und ein paar Kinder spielten davor ein Hüpfspiel. Vor dem Café standen Tontöpfe mit weißen Orchideen, gelben Bougainvilleen und rosa Margeriten, und die große Fensterfront wirkte einladend und gemütlich. Fast schien es, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, die Schrecken des Krieges waren weit entfernt. Hier konnte sich die Seele für ein paar Stunden erholen.
Francine, Aimée und Charlotte betraten das Café. Es duftete herrlich nach frisch gebrühtem Kaffee und Kuchen. Sie setzten sich an einen freien Tisch am Fenster, und sofort fing Aimée an, von den Erlebnissen ihres Tages zu berichten. Aimée war mit Abstand die lauteste und fröhlichste der Freundinnen, hatte stets einen flotten Spruch auf den Lippen, lachte und schäkerte gern. Ihr rundes Gesicht mit den blitzenden blauen Augen umrahmte ein wilder Lockenkopf. Trotz ihrer fröhlichen Art war sie aber auch verletzlich und einfühlsam, und die Erlebnisse im Lazarett nahmen sie mehr mit, als sie sich anmerken ließ. Aber diese Seite an ihr kannten nur ihre engsten Freundinnen.
Sie bestellten Limonade und Pissaladière, einen besonderen Zwiebelkuchen, und...
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