Schweitzer Fachinformationen
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Laine, Gegenwart
Normal zu sein, ist etwas, was man wirklich gut vortäuschen kann, wenn man sich richtig Mühe gibt. Zuerst muss man sich selbst davon überzeugen, dann folgen die anderen schon, wie Schafe, die von einer Klippe springen. Man verhält sich so normal wie möglich, man tut so, als ob. Diese Fassade der Normalität mag seidenpapierdünn sein, aber man findet schnell heraus, dass niemand es eilig hat, daran zu kratzen, geschweige denn, nach Schwachstellen darin zu suchen. So kann man sich durch das ganze Leben hangeln, von einer nichtssagenden Tätigkeit zur nächsten, nie das Muster durchbrechen, dann merkt keiner was. Darauf zähle ich jedenfalls.
Als ich Olivia Shaw zum ersten Mal sehe, weiß ich, dass das nicht mehr lange funktionieren wird.
Normalerweise bin ich um sieben im Supermarkt und habe um zwei Schluss. Danach gehe ich entweder joggen oder mache ein Nickerchen, bis ich zur zweiten Schicht muss. Ich jogge mindestens zweimal pro Woche, normalerweise dreimal, und wenn ich es nicht zwischen den Schichten schaffe, dann morgens noch vor der Arbeit. Als ich das einmal einer anderen Kassiererin erzählte, sagte sie, sie wünschte, sie hätte meine Disziplin, und ich nickte nur, denn was soll man darauf schon sagen? Seitdem rede ich möglichst wenig mit anderen über das, was ich außerhalb der Arbeit mache. Ich habe diesen Job jetzt seit fast sechs Monaten, für mich eine halbe Ewigkeit, und es kann nicht mehr lange dauern, bis auffällt, dass ich mich von den Kollegen fernhalte.
Diese andere Kassiererin ist heute nicht da. Ich habe sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, vielleicht hat die Marktleiterin sie für eine andere Schicht eingeteilt, vielleicht hat sie sie auch gefeuert, ich weiß es nicht. Die Marktleiterin ist Charlene, und sie sieht auch aus wie eine Charlene: Gesundheitsschuhe, Dauerwelle und Lippenstift in dem immer gleichen kühlen Farbton, den man schon 1989 hätte vom Markt nehmen sollen. Ich vermute, sie hält sich für so was wie einen mütterlichen Typ, aber mir ist nicht entgangen, wie sie mich angesehen hat, als ich eine Viertelstunde zu spät kam. Die Luft draußen ist so schwül, als würde man unter Wasser atmen, und meine Haare kräuseln sich hartnäckig, obwohl ich sie gerade vor einer Stunde mit dem Glätteisen bearbeitet habe. Ich bin noch immer verschwitzt, dabei habe ich mich soeben umgezogen und trage jetzt meine Arbeitskleidung, das violette Sweatshirt mit dem Supermarktlogo über der rechten Brust, darunter mein Name: LAINEY M. M., weil ich hier nicht die einzige Lainey bin; die rundliche junge Frau, die so unschuldig versuchte, sich mit mir anzufreunden, war Lainey R. Ist sie wohl immer noch, wenn auch vielleicht nicht in diesem Laden. Hiermit wollte sie das Eis brechen: Oh, guck mal, wir haben denselben Vornamen, was für ein Zufall! Ich habe ihr nicht gesagt, dass niemand mich Lainey nennt, jedenfalls niemand, der für mich zählt.
Ist auch egal. Ich habe mir den Namen nicht mal selbst ausgesucht. Sie haben ihn im Krankenhaus nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, den Vornamen irgendeiner Soap-Opera-Heldin und dazu einen gewöhnlichen Nachnamen. So weit verbreitet und unauffällig wie möglich. Damit verschwinde ich in der Masse, so lautete die Begründung.
Und es hat funktioniert, das mit dem in der Masse Verschwinden, jedenfalls bis heute. Heute schiebt mir Charlene, die Marktleiterin, ein paar Flyer zu, die ich neben den gläsernen Eingangs- und Ausgangstüren aufhängen soll. Ich bin noch ein bisschen tranig, nehme die Flyer mechanisch entgegen und vergesse ganz, dass heute nicht Sonntag ist und ich das schon gemacht habe, die üblichen Flyer mit den wöchentlichen Sonderangeboten ja schon aufgehängt habe: Rinderhack drei neunundneunzig das Pfund, Tomatencremesuppe, konzentriert, drei Dosen für vier Dollar. Erst als mein Blick auf die Flyer fällt, sehe ich, was ich da in der Hand halte, und mein Gedankentrott gerät ins Stocken.
Es ist nichts Ungewöhnliches. Nichts, was nicht schon ein paar Mal passiert wäre, seit ich in diesem Supermarkt arbeite. Einmal war es der sechsjährige Junge, der eine Woche später gefunden wurde und dessen Vater aus der Stadt abgehauen war, weil er sich nicht mit dem geteilten Sorgerecht abfinden wollte, das andere Mal eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, bei der man Selbstmord befürchtete. Niemand weiß, was aus ihr geworden ist, ich schon gar nicht, aber eines Tages kam ich zur Arbeit, und das Plakat war weg, ersetzt durch neue Sonderangebote - Cantaloupe-Melonen, Brokkoli und Chips unserer Hausmarke. Wer weiß, vielleicht hat sie sich wirklich umgebracht. Aber sie ist nicht die Art von vermisster Person, die mich interessiert.
Heute allerdings erblicke ich auf den Flyern sie, Olivia Shaw, Alter: zehn Jahre.
Es ist ein typisches Vermisstenplakat der Polizei von Seattle, oben ein Foto und darunter eine Personenbeschreibung in ordentlichen Spalten. Das Foto ist von sichtlich guter Qualität und in Farbe, aber die Farbkartuschen des Druckers waren wohl fast leer, und die Farben sind ineinander verlaufen wie auf einem dieser Polaroidfotos.
Olivia Shaw wird seit vergangenem Dienstag vermisst. Zuletzt gesehen wurde sie vor dem Eingang ihrer Grundschule in Hunt's Point in einer weißen Frühlingsjacke und rosa Stiefeln. Mein Hirn registriert die Informationen mechanisch, jedes Wort brennt sich mir ins Gedächtnis, und zugleich hake ich distanziert und systematisch die einzelnen Punkte ab. Wie Teile eines Kaleidoskops fügen sie sich ineinander.
Falls Sie wissen, wo Olivia Shaw sich aufhält, oder sachdienliche Informationen haben, wenden Sie sich bitte an .
Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf und zerfallen sofort zu schwarzem Staub, wie ein Traum, an den ich mich zu erinnern versuche. Ich habe in den letzten zehn Jahren viel Zeit damit verbracht, mir die Gesichter von Mädchen auf Vermisstenplakaten anzusehen, und mich immer wieder gefragt, wer mich in jenem Keller ersetzt hat. Aber sie waren nie ganz im richtigen Alter, hatten nie ganz das richtige Aussehen, es waren nie ganz die richtigen Begleitumstände. Bis zu Olivia Shaw, Alter zehn Jahre, morgen seit einer Woche vermisst.
Aus meinen Recherchen in unzähligen schlaflos verbrachten Nächten weiß ich, dass die meisten Entführungsopfer innerhalb von achtundvierzig Stunden tot sind.
Du hast Glück gehabt, Ella.
Ich zwinge mich, das Gesicht auf dem Foto zu betrachten, mich in ihre leicht verwischten Züge zu vertiefen, bin wie gebannt.
Olivia Shaw könnte mein Spiegelbild sein, wenn man dreizehn Jahre zurückspulte. Unbändige dunkle Locken umgeben ihren Kopf wie eine Aureole - wie meine, wenn ich sie nicht mit dem Glätteisen quäle. Dunkle Haut, wie meine. Ihre Augen - die Farbe ist wegen des unscharfen Ausdrucks nicht zu erkennen, aber laut Personenbeschreibung sind sie grau.
Irgendwann dringt zu mir durch, dass jemand meinen Namen sagt, meinen anderen, neuen Namen. Das ist meine Chefin. Es kommt mir vor, als wäre meine Wirbelsäule zu porösem Stein geworden, und mein Hals könnte brechen, wenn ich den Kopf zu schnell drehe. Ihr Gesicht drückt Verwirrung aus.
»Das Klebeband«, sagt sie und blinzelt mit ihren dünnen, mascaraverklebten Wimpern.
Das Klebeband? Oh. Das Klebeband. Unwillkürlich kratze ich mich unter dem langen Ärmel meines Sweatshirts am Handgelenk. Charlene hält mir das durchsichtige Klebeband hin und wirkt zunehmend verärgert. Ich benötige fünf Schritte, um den Abstand zwischen uns zu überwinden und ihr das Klebeband abzunehmen. Dabei rutscht mein Ärmel trotz des relativ eng sitzenden Bündchens hoch, und mein Handgelenk wird sichtbar. Für den Bruchteil einer Sekunde zuckt ihr Blick dorthin, genauso, wie Leute verstohlene Blicke auf ein entstelltes Gesicht werfen: Sie starren hin, aber nur halb, und sehen sofort so vehement weg, dass man sich wünscht, sie würden einfach offen glotzen, sich ihren morbiden Kick abholen und fertig. Ich kann hier keine Armstulpen tragen; »Accessoires« sind nach dem Dresscode nicht erlaubt. Deshalb habe ich mir angewöhnt, ständig die Ärmel herabzuziehen, ein Tick, der sich auch außerhalb des Supermarkts hält.
Alles in allem gibt es wahrscheinlich schlimmere Angewohnheiten.
Das Geräusch beim Abrollen des Klebebands macht mir eine Gänsehaut. Ich halte das Plakat ans Glas, klebe erst eine Ecke, dann die andere fest und gebe mir zu viel Mühe, es ganz gerade aufzuhängen. Als ob ihr das helfen würde. Ich weiß, das mache ich nur, um noch einmal den Text lesen, das Foto betrachten und mir beides für immer und ewig in die Netzhäute einbrennen zu können. Um Olivia Shaw meiner stetig wachsenden mentalen Sammlung von Verschwundenen einzuverleiben. Nur weiß ein Teil von mir jetzt schon, dass dieses Stück meiner Sammlung anders ist als die anderen.
Die automatische Eingangstür öffnet sich zischend, und als ich hindurchgehe, summen meine Muskeln vor Anspannung. »Charlene«, höre ich mich sagen, »ich gehe eine rauchen.«
Sie weist mich darauf hin, dass wir in fünf Minuten öffnen, aber länger brauche ich sowieso nicht. Schon bin ich auf dem Weg nach draußen, wobei ich meine Taschen abtaste und mich frage, was ich mit meiner Notfallpackung Kippen gemacht habe. Vielleicht ist sie in meiner Jacke, die ganz hinten im Gebäude ist, in den schuhkartongroßen Spind im Pausenraum gestopft. Pech gehabt. Aber ich glaube, eine Zigarette würde mir jetzt sowieso nicht helfen. Stattdessen hole ich mein Telefon aus der Tasche, starre aufs Display, bis es mir vor den Augen verschwimmt, und gebe das Passwort ein. Ich vertippe mich drei Mal, bis das Gerät endlich entsperrt ist, dann öffne ich den Browser und...
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