Schweitzer Fachinformationen
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LE PREMIER JOUR
DER ERSTE TAG
Dunkelheit. Nässe. Absolute Stille.
Er hatte sich viel zu weit von den anderen entfernt, sah nicht einmal mehr die Strahlen ihrer Helmlampen.
Richard Jardin war erfahren genug, um zu wissen, dass so etwas leichtsinnig war. Auch unter Hobbyhöhlenforschern galt das ungeschriebene Gesetz, stets in der Gruppe zu bleiben.
Dass Jardin nicht zu den beiden Kletterfreunden aufgeschlossen hatte, war seine eigene Schuld. Denn er war mit den Gedanken nicht hier, in diesem tief abfallenden Schacht der Blutgrotte, sondern bei einer ganz anderen Sache. Einer Sache, die ihn in letzter Zeit so sehr beschäftigte, dass er sich auf nichts richtig konzentrieren konnte, weder auf den Flammkuchenwettbewerb, an dem er sich mit seinem Gasthaus La Taverne beteiligen wollte, noch auf seine Leidenschaft, das Erkunden von Höhlen in den Vogesen. All das war auf einmal zweitrangig geworden, denn die Entdeckung, die er wenige Tage zuvor gemacht hatte, hatte sein Leben verändert.
Jetzt hing Jardin in seinem Sitzgurt und fühlte neben sich die kalte Wand der unterirdischen Schlucht, in die er und seine Freunde sich abseilen wollten. Das bläuliche Licht seiner LED-Leuchte brachte die feuchte Oberfläche des Gesteins zum Glitzern und ließ erkennen, wie glatt der Fels war. Hier gab es weder Vorsprünge noch Einbuchtungen, an denen er sich festhalten konnte. Einzig das Kletterseil und die beiden Karabiner, die er am Einstieg des Schachts gesetzt hatte, hielten ihn in der Wand.
»Joey? Claude?«
Jardins Stimme hallte von den gegenüberliegenden Felsformationen wider und verklang im düsteren Schlund der Höhle. Er lauschte in die Leere, doch von seinen Partnern war nichts zu hören.
Also los! Jardin zwang sich zur Disziplin. Er musste einfach weitermachen. Am Grund der Felsspalte warteten die anderen sicher schon auf ihn. Er stieß sich mit den Füßen von der Wand ab und ließ das Seil durch die Hauptschlinge seines Gurts gleiten. Meter um Meter fuhr er weiter in die Tiefe.
Doch immer noch war er nicht voll bei der Sache. Erneut schweiften seine Gedanken ab: Jardin trug ein Geheimnis mit sich herum, das er bislang nicht einmal seiner Frau Anabelle anvertraut hatte. Und er wusste immer noch nicht recht, wie er mit seinem Wissen umgehen sollte. Zunächst hatte er vorgehabt, das Ganze einfach zu ignorieren, getreu der alten Weisheit: Die Toten soll man ruhen lassen. Aber genau darum ging es, wurde Jardin wieder einmal klar, und er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Dann hatte er sich dennoch dazu verleiten lassen, seine Entdeckung zu nutzen - um Kapital daraus zu schlagen. Zunächst war ihm das als eine gute Idee erschienen, denn das Geld, das ihm winkte, konnte er gut gebrauchen. Inzwischen jedoch fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, der ihm vielleicht eine Menge Ärger einbringen konnte.
Er bemühte sich, die finsteren Überlegungen abzuschütteln und sich auf seine augenblickliche Lage zu besinnen. Es kam jetzt einzig und allein darauf an, diesen Abstieg zügig hinter sich zu bringen und zu seinen Kumpanen aufzuschließen. Er durfte nicht noch mehr Zeit verlieren!
Das Seil glitt langsam und kontrolliert durch seine Hände. Alles lief glatt, bis er plötzlich ein leichtes Vibrieren spürte, das wie ein Stromimpuls durch die Gurtschlinge jagte. Jardin stockte. Die Bewegung des Seils aber setzte sich fort und wurde sogar stärker. Was ging hier vor, fragte sich Jardin und stoppte die Abwärtsfahrt. Hatte er die Haken für die Karabiner nicht fest genug verankert? Begannen sie sich etwa zu lösen? Aber nein, er hatte ihren Halt mehrfach überprüft!
Jardin beschloss, kein Risiko einzugehen. Er griff nach einem kleinen Hammer am Gürtel, um einen weiteren Haken ins Gestein zu schlagen. Daran wollte er einen zusätzlichen Karabiner einklinken, um die beiden oberen zu entlasten.
Das Klack, Klack, Klack seiner Schläge mit dem Spezialhammer durchbrach die Stille. Feinste Gesteinsbrocken stoben unter der Wucht seiner Hiebe auf und verschwanden sogleich in der dunklen Tiefe. Jardin hängte den Karabiner ein, testete die Haltekraft und spannte das Seil ein. Abermals stieß er sich mit den Schuhen ab und glitt behutsam weiter an der gerade abfallenden Wand nach unten.
Die Abwärtsbewegung endete jäh, als ein erneuter, diesmal sehr kräftiger Ruck durch das Seil fuhr. Jardin bremste ab, kam jedoch nicht dazu, über die Gründe für die neuerlichen Seilbewegungen nachzudenken. Wenige Meter über sich hörte er ein metallisches Schnappen, gleichzeitig ließ die Zugkraft an seinem Klettergeschirr abrupt nach. Seile und Riemen hatten plötzlich keinerlei tragende Funktion mehr. Einen Augenblick fühlte sich Jardin, als schwebte er im luftleeren Raum. Schwerelos. Reflexartig streckte er die Hände aus, um sich festzuhalten, doch an der feuchten, glatten Wand rutschte er ab.
Er stürzte in die Tiefe, bis er nach kurzem Fall plötzlich hart gebremst wurde. Jardin atmete auf: Die oberen Karabiner mochten sich gelöst haben, der neu angebrachte Haken jedoch hielt.
Doch seine Erleichterung war von kurzer Dauer. Gleich darauf erzitterte das Seil wieder. Dann ertönte ein weiterer metallischer Schlag, als würde der gerade von ihm gesetzte Karabiner auseinandergerissen. Materialermüdung?, schoss es Jardin durch den Kopf. Seine Ausrüstung war doch so gut wie neu!
Zu weiteren Überlegungen kam er nicht mehr, wieder ging es rasant abwärts. Im Fallen versuchte Jardin verzweifelt, seine Finger in den Felsen zu krallen - ein aussichtsloses Unterfangen. Sein Sturz war durch nichts zu bremsen.
Jules Gabin hatte beide Hände um seine mit Storchenmotiven verzierte Porzellantasse gelegt, als wollte er sich daran festhalten. Unbeweglich saß er an seinem Schreibtisch. Sein Hemd war schweißgetränkt, die Haut aschfahl, und er fühlte sich schwindlig und so benommen, als hätte ihm jemand einen Hieb mit dem Vorschlaghammer verpasst. Nach dem, was sich in den vergangenen Minuten ereignet hatte, war er nicht fähig, irgendetwas anderes zu tun, als vor sich hin zu starren.
Jules Gabin hatte ein Problem. Und zwar ein gravierendes!
Draußen vor der Bürotür, im Flur der Rebenheimer Gendarmerie, saß die Frau, an deren Seite er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, bis zur Trennung vor sieben Monaten. Und seit er mit seiner neuen großen Liebe in der neuen Stadt glücklich war, hatte er nichts mehr von seiner Verflossenen gehört. Bis heute.
Nun wartete seine Ex - Lilou - auf dem Bänkchen vor der Tür, während seine Neue - Joanna - soeben wutschnaubend davongelaufen war. Weil sie für den unübersehbaren Babybauch ihrer so plötzlich aufgetauchten Vorgängerin niemand anderes als Jules verantwortlich machte. Lilou war hochschwanger - und Jules angeblich der Vater.
Aber konnte das denn überhaupt sein?
Lilou wohnte in der fernen Küstenstadt Royan am Atlantik, Jules' alter Heimat, die er der Karriere zuliebe verlassen hatte. Das Verhältnis zu Lilou hatte sich schon bald nach seinem beruflichen Wechsel ins Elsass abgekühlt, bis er dann vor einem guten halben Jahr auch offiziell den Schlussstrich gezogen hatte. Seitdem war er glücklich vereint mit Joanna Laffargue, der hiesigen Untersuchungsrichterin, und hatte kaum noch einen Gedanken an seine frühere Beziehung verschwendet. Und nun das!
Jules raufte sich die Haare. Er musste sofort mit Lilou sprechen und für Klarheit sorgen. Es konnte sich doch wohl nur um ein Missverständnis handeln, einen Irrtum, den man schnell auflösen musste.
Aber François Kieffer hinderte ihn daran. Der Gendarm, dessen Uniformjacke über seiner pummeligen Figur spannte, stand dicht neben ihm und redete auf ihn ein. »Wir werden gebraucht, Major!«, sagte er mehrfach, ohne Rücksicht auf Jules' sichtlich erschütterten Gemütszustand zu nehmen. Kollegen der Police municipale seien zu einem Einsatz gerufen worden und benötigten die Unterstützung der Gendarmerie.
»Was ist denn passiert?«, fragte Jules geistesabwesend.
»Wie es aussieht, ein neuer Mord, Major. Ihr Einsatz ist gefordert.«
Das Wort »Mord« riss Jules aus seiner Erstarrung, er wandte sich dem Gendarmen zu. »Na schön, setzen Sie mich ins Bild. Was genau ist vorgefallen?«
»Gefallen? Das trifft es schon recht gut«, antwortete Kieffer mit dem missglückten Versuch eines Wortwitzes. »Wir haben es mit einem Kletterunfall zu tun, der eventuell kein Unfall war. Zumindest hegt Claude Zweifel daran.«
»Claude?«, fragte Jules überrascht. »Unser Feuerwehrkommandant?«
Kieffer nickte. »Claude ist Mitglied einer Seilschaft, die sich aufs Höhlenklettern spezialisiert hat. Er war in La grotte du sang, der Blutgrotte, unterwegs, mit einem weiteren Kletterfreund, Joey Dolder, und dem Opfer, Richard Jardin. Die Blutgrotte liegt noch auf Rebenheimer Gebiet, also sind wir zuständig.«
»Der Name Jardin sagt mir etwas«, meinte Jules. »Betreibt er nicht das Lokal in der Rue du Muscat?«
»Ja, La Taverne«, bestätigte der Gendarm.
»Ein Absturz also«, griff Jules den Faden wieder auf. »Was veranlasst Claude dazu, von Fremdverschulden auszugehen?«
»Das müssen Sie ihn selbst fragen, mehr weiß ich nämlich auch nicht. Aber wir müssen uns...
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