Schweitzer Fachinformationen
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LE PREMIER JOUR
DER ERSTE TAG
Während er keuchend in die Pedale trat und ihm der Schweiß von der Stirn rann, bemühte er sich darum, auf die landschaftlichen Reize zu achten. Das lenkte ab und hinderte ihn daran, ständig an die nächste Pause zu denken. Denn bevor er sich ein schattiges Plätzchen suchen und seine zweite Wasserflasche leeren würde, wollte er mindestens weitere fünf Kilometer bei geschätzten dreihundert Höhenmetern schaffen.
Die Weinberge hatte er schon eine Weile hinter sich gelassen und hangelte sich auf seinem Rennrad nahe an der Waldgrenze entlang. Zwischen den dicht stehenden Nadelbäumen und wucherndem Farn schimmerte es rötlich durch die Zweige: der Buntsandstein, seit Jahrhunderten begehrtes Baumaterial für Burgen und Dörfer, aber auch Rohstofflieferant für die Glasmanufakturen. Inzwischen kannte er sich recht gut aus und wusste um die Besonderheiten der Landschaft. Dank seiner ausgedehnten Radtouren hatte er sich mit Flora, Fauna und geologischen Merkmalen vertraut gemacht - eine willkommene Abwechslung zu den vielen Stunden im Büro. Er hatte den teils rauen, teils lieblichen Charme der Vogesen schätzen gelernt, war Wildtieren begegnet und hatte ihm bislang unbekannte Pflanzen gesehen: die Torfmoose etwa, kleine robuste Stämme mit edelweißförmiger Krone, und sogar den seltenen fleischfressenden Sonnentau konnte er neulich bestaunen.
Er radelte weiter auf der kurvenreichen Piste, mal bergauf, mal bergab. Je größer die Anstrengung wurde und die Kondition nachließ, desto weniger Blicke hatte er für die schöne Umgebung übrig. Seine Energiereserven flossen in die Beine, nicht in den Kopf, und unwillkürlich entfernten sich seine Gedanken vom Hier und Jetzt.
Bald war er sehr weit weg. Über achthundert Kilometer. Jules Gabin dachte an seine alte Heimat an der Westküste Frankreichs. Die sonnenverwöhnten Ostertage hatte er dafür genutzt, um gemeinsam mit Lilou die Düne von Pilat zu erklimmen. Der riesige Sandhaufen vor den Toren von Arcachon faszinierte ihn jedes Mal aufs Neue. Mit einem Pizzakarton und einer Flasche Bordeaux unterm Arm hatten sie den steilen Anstieg gemeistert und waren dabei bis zu den Knöcheln im puderweichen, warmen Sand versunken. Auf dem Scheitel in gut einhundert Metern Höhe hatten sie ihre Picknickdecke ausgebreitet und sich in der Abenddämmerung zugeprostet. Mit dem Blick aufs Meer, seinen über alles geliebten Atlantik.
Nun war der Ozean so weit weg wie seine Freundin. Sehnsüchtig dachte er an seine zierliche, aber umso temperamentvollere Lilou und die viel zu kurze Zeit, die er mit ihr verbringen durfte. Die Wehmut verursachte ein Ziehen in seiner Brust - oder lag es an der allmählich ausgehenden Puste?
Was konnte er dagegen tun, dass er sie vermisste? Starke Gefühle gehörten nun mal dazu, wenn man eine Fernbeziehung führte. Nichts anderes war es ja, auf das sich Jules eingelassen hatte. Hier und jetzt, zurück als Kommandant der Gendarmerie nationale im elsässischen Rebenheim, musste Major Gabin über diesen Dingen stehen und sich auf die Gegebenheiten seiner neuen Wirkungsstätte einlassen.
Die Erinnerung an das Picknick auf der Düne drang bis zu seinem Magen durch. Der fing fordernd an zu brummen. Da auch seine Beine nicht länger mitspielen wollten und das Gesäß schmerzte, reduzierte Jules seine Zielvorgabe und hielt Ausschau nach einem netten Plätzchen. Dort wollte er rasten, bevor er sich den Hang hinab zurück in sein Winzerörtchen rollen lassen würde.
Jules fand bald eine gemütliche Stelle an einem von Auen umgebenen Weiher. Nachdem er sein Rad an einen Baumstumpf gelehnt, den Helm abgelegt und sich die Fahrradhandschuhe abgestreift hatte, nahm er die Trinkflasche zur Hand und leerte sie bis auf einen kleinen Rest, den er der Vernunft halber für den Rückweg aufhob. Dann setzte er sich so, dass er eine gute Aussicht auf das Tal hatte. Jules öffnete seinen Rucksack und holte eine Brotzeit heraus - liebevoll zusammengestellt von seiner Zimmerwirtin Clotilde. Mit Heißhunger machte er sich über Bauernbrot, hart gekochte Eier und Münsterkäse her. Es schmeckte ihm so gut wie in einem Sternerestaurant. Mindestens! Während er sein casse-croûte genoss, rückten Atlantikküste und Lilou langsam wieder in die Ferne.
Kauend schaute er ins Tal, ließ seine Blicke über die sanften Hügel gleiten, die nahezu vollständig mit Wein bebaut waren. Dazwischen lagen die kleinen Orte der Weinstraße, verschlafene Nester und umtriebige Touristenzentren. Noch weiter entfernt, hinter Feldern und Autobahn, glitzerte das breite Band des Rheins in der Sonne. Die Grenze zum benachbarten Deutschland, wo man die Gipfel des Schwarzwalds erahnte.
Jules wischte sich Brotkrumen aus dem Mundwinkel und wollte gerade seine kurze Rast beenden, als er auf etwas aufmerksam wurde. In der Nähe von Rebenheim, am Fuß einer der Weinberge, tat sich etwas, das er zunächst nicht einzuordnen vermochte. Er war sich nicht sicher, ob es sich vielleicht bloß um einen Dunstschleier handelte. Eine Nebelschwade, die sich zwischen den abfallenden Hängen in den Reben bildete und für einen Frühsommermorgen wie heute typisch war.
Doch dann kam ihm die Idee, dass es auch etwas anderes sein könnte. Denn die Sonne stand inzwischen schon recht hoch und schien kräftig. Die Luft war zu trocken, um zu kondensieren. Sollte es sich um Rauch handeln?
Jules wog gerade noch das Für und Wider ab, da wurde seine Befürchtung bestätigt: Die Wolke breitete sich schnell aus, färbte sich schwarz. Sekunden darauf züngelten erste Flammen über der Kuppe.
»Putain!«, fluchte Jules und sprang auf. Hastig suchte er nach seinem Handy, das irgendwo am Grund seines Rucksacks liegen musste. Er agierte fahrig und nervös, denn Jules wusste sehr wohl, was sich im Tal abspielte: Der Feuerteufel hatte wieder zugeschlagen!
Seit Wochen trieb er sein Unwesen in den Gemeinden rund um Rebenheim. Mal brannte ein Heuschober, mal ging ein Geräteschuppen in Flammen auf. Der Sachschaden hielt sich in Grenzen, und zum Glück gab es bislang keinen Personenschaden. Doch die Leute sorgten sich und machten Jules dafür verantwortlich, dass der Schuldige nach wie vor nicht gefasst werden konnte.
»Salut, Alain«, rief Jules in sein Smartphone, kaum dass sein Adjutant sich gemeldet hatte. »Es brennt! Ich schätze, wieder irgendeine Scheune. Ungefähr einen Kilometer nordöstlich von Rebenheim. Es könnte sich um das Gut von Miguel handeln. Schicken Sie sofort einen Wagen los. Das heißt, nein. Schnappen Sie sich François als Unterstützung und fahren Sie selbst hin! Und alarmieren Sie Claude. Er soll einen Löschzug rausschicken. Ich komme sofort nach.«
Mit Sorge beobachtete Jules, wie sich das Feuer rasch ausbreitete. Offenbar fand es ausreichend Nahrung in Form von aufgeschichtetem Holz oder Stroh. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Jules raffte seine Sachen zusammen und sprang auf sein Rad. Er wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis Claude seine Männer zusammengetrommelt hatte. Das kleine Rebenheim hatte natürlich nur eine freiwillige Feuerwehr, die noch dazu an chronischer Überalterung und Nachwuchsmangel litt. Die Überalterung bezog sich leider nicht nur auf Claudes Truppe, sondern auch auf die Rüstwagen der Marken Renault, Peugeot und Iveco. Sie wurden zwar wenig bewegt und hatten daher kaum Kilometer auf dem Tacho, hatten aber durchschnittlich zwanzig Jahre auf dem Buckel. Sie neigten dazu, gerade dann nicht anzuspringen, wenn es dringend nötig war.
Jules trieb sein Rad die Serpentinen herunter. Er nahm in Kauf, dass die schmalen Felgen seiner Rennmaschine Schaden nahmen, denn bei seiner rasanten Talfahrt konnte er unmöglich auf jedes Schlagloch achten. Er sauste an Rebstöcken vorbei, deren Laub in frischem Grün leuchtete, überholte andere Radfahrer, die gemächlich in die Pedale traten, und klingelte Wandergruppen beiseite, die dachten, dass die Wege nur für sie bestimmt wären.
Er hatte seinen eigenen Geschwindigkeitsrekord auf dieser Strecke geschlagen, als er keine Viertelstunde später an seinem Ziel eintraf. In gebührendem Abstand warf Jules sein Rad in die Böschung und versuchte, sich ein Bild der Lage zu machen. Wie vermutet, war eine Scheune in Brand geraten oder vielmehr ein größerer Schuppen. Weinbauer Miguel stellte hier seine Geräte unter, die er für die Lese benötigte. Der Holzverschlag, der etwa fünf mal fünf Meter maß und nicht höher als eine Garage war, brannte lichterloh. Die Flammen schlugen weit in die Höhe und erzeugten ein tosendes Prasseln. Obwohl Jules auf Distanz blieb, spürte er die Gluthitze auf seiner Haut.
Er schaute sich um, in der Hoffnung, Claudes Spritzenautos um die Ecke biegen zu sehen. Fehlanzeige. Es sah ganz danach aus, als würde der Einsatzwagen mal wieder streiken. Auch von Adjutant Lautner fehlte jede Spur. Wo blieb er bloß?
Jules verspürte das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen. Doch was sollte er tun? Er hatte nichts bei sich, mit dem er das Feuer löschen konnte. Mit bloßen Händen schon gar nicht. So schwer ihm die Einsicht auch fiel, er allein konnte nichts ausrichten.
Er musste tatenlos mit ansehen, wie der...
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