Schweitzer Fachinformationen
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Der Nebel verdichtet sich. Wabert herab von den kahlen Hügeln, kriecht aus den Tälern. Das Licht schwindet rasch, und mit ihm meine Entschlossenheit. Das hier ist ein Fehler. Ich sollte nicht hier sein.
Ich wickle mir den verzierten Lederriemen meiner Handtasche eng um die Hand, schnüre das Blut ab. Aber ich kann die Flut der Erinnerungen nicht eindämmen, mit jeder Meile, die der Bus westwärts fährt, werden sie mehr.
Manche davon sind wunderschön und glänzend: Erinnerungen an meine Kindheit, vor allem jetzt um diese Jahreszeit. Der Butterduft des Shortbreads im Backofen, die Hunde, die auf einem Teppich vor dem Kamin schlafen. Gäste, die zum Dinner kommen, Dylan-Songs auf der Gitarre, Brettspiele und Gelächter. Schnee, der in dichten weißen Flocken auf den Strand fällt.
Jede dieser Erinnerungen packe ich aus und betrachte sie prüfend, wie ein Kind an Weihnachten. Dad, wie er die Lichterkette um den Baum windet, mein kleiner Bruder Bill, wie er hochgehalten wird, um den Stern oben zu befestigen. Mum, die ein Feuer im Kamin anzündet, um die Kälte abzuwehren, die ständig durch all die Ritzen nach innen zu dringen sucht. Die wohlige Wärme der Gemeinschaft. Vor langer Zeit.
Der Bus biegt nach Norden ab, und ich kann kurz das Meer sehen. Grauviolett, beinahe lila, am Horizont eine Spur orangefarbener Dunst, als die Sonne verschwindet. Ich sehe mein Spiegelbild im Fenster, das immer deutlicher hervortritt, je dunkler es draußen wird. Einen Augenblick lang ist es, als sähe ich ein anderes Gesicht, Ginnys Gesicht, das mir aus der Dunkelheit entgegenstarrt. Mich herausfordert, jene anderen Erinnerungen auszupacken - die in dem Päckchen ohne Schleife, von dem der Geschenkanhänger abgefallen ist. Nimm das Seidenpapier fort, sieh hinein .
»Eilean Shiel«, ruft der Busfahrer.
Ich mache meine Hand frei und ziehe mir den Schal vom Hals. Das Atmen fällt mir schwer. Ich hätte dem Busfahrer schon vor vielen Meilen zurufen sollen, anzuhalten und mich aussteigen zu lassen - überall, bloß nicht hier. Jetzt jedoch ist es zu spät. Eine Frau mittleren Alters auf der anderen Seite des Mittelgangs schaut mich an und runzelt die Stirn.
»Alles in Ordnung, Liebes?«
»Ja«, sage ich heiser, auch wenn auf der Hand liegt, dass es nicht stimmt. Seit meiner Flucht vor fünfzehn Jahren bin ich wohl im Großen und Ganzen »in Ordnung« gewesen. Ich habe gute Zeiten erlebt, die nichts mit diesem Ort hier zu tun haben. Ich habe die Sonne über der Mojave-Wüste im Westen der USA aufgehen sehen, bin mit offenem Verdeck über den Sunset Strip in Hollywood gefahren. Ich habe in Las Vegas gelebt und in Nashville und in vielen Orten dazwischen. Ich habe gute Erinnerungen gesammelt, die ich auspacken und wiederaufleben lassen kann, wenn ich sie besonders brauche: in einer schlaflosen Nacht in einem heruntergekommenen Motel, auf einer endlosen Fahrt über eine lange, einsame Highwaystrecke. Dad hat immer gesagt, dass man ohne die schlechten Zeiten gar nicht wüsste, wie gut man es hat. Dad hatte immer eine Menge Sprüche auf Lager, doch das meiste davon habe ich auf die harte Tour gelernt. Aber am Ende kann ich zurückblicken und sagen, dass ich mein Bestes gegeben habe. Mich nach Kräften bemüht habe, ein Leben für mich und auch für Ginny zu führen.
Der Bus hält am Wartehäuschen gegenüber dem Gemeindesaal. Die Türen gehen auf, und die Frau auf der anderen Seite steht auf, holt ihre Tasche aus der Gepäckablage. Ich sitze da, bewege mich nicht, starre hinaus auf das dunkle, unendliche Meer. Die Frau geht nach vorn und bleibt stehen, sieht sich nach mir um. Ich befürchte, dass sie mich noch einmal anspricht. Ich zwinge mich aufzustehen und auch nach vorn zu gehen.
Ich steige aus dem Bus auf den Gehsteig. Das orangefarbene Licht der Natriumdampflampen kann die Dunkelheit nicht einmal ansatzweise vertreiben. Die Dunkelheit hatte ich ganz vergessen, dabei ist sie um diese Jahreszeit drückend und endlos. Der größte Schock jedoch ist die Kälte. Ich wickle mir den Schal wieder um den Hals und beiße die Zähne zusammen, damit sie nicht so klappern. Der Wind fährt mir unter die Kleider, der dünne Mantel kann die Kälte nicht abhalten.
Der Busfahrer öffnet den Kofferraum, um das Gepäck auszuladen. Ich blicke über die geschwungene Bucht zu der dunklen Halbinsel, die dem Dorf gegenüberliegt. Durch den Nieselregen kann ich gerade noch die stecknadelkopfgroßen Lichter ausmachen. Das Cottage, in dem ich aufgewachsen bin. In ein paar Minuten werden diese Lichter meine Wirklichkeit sein, sobald ich ein Taxi bekomme. All die leuchtenden Erinnerungen, so viele es auch sein mögen, können nicht aufwiegen, was da draußen vor mir liegt. Ich werde Mum wiedersehen. Ich werde heimkehren.
Während der Busfahrer das Gepäck auslädt, kommen mir die fünfzehn Jahre vor wie ein Tag, als wäre es gestern gewesen. Ich war gerade zwanzig geworden und in die andere Richtung unterwegs: von Eilean Shiel nach Fort William, von Fort William nach Glasgow und schließlich in einen Flieger nach Amerika. Für mich ist es wie gestern. Aber wie wird es Mum empfinden?
Natürlich sind wir in Verbindung geblieben. Eine hastige Postkarte, hin und wieder ein steifes Telefongespräch an Geburtstagen und zu Weihnachten. Mein Bruder Bill betätigt sich als Bote zwischen den Gräben, bringt uns regelmäßig per E-Mail auf den neuesten Stand. Für diese Anstrengungen bin ich ihm dankbar, und es tut mir leid, dass er diese Aufgabe hat. Als er sich Ende November bei mir gemeldet hat, um zu berichten, dass Mum gestürzt sei und sich den Knöchel gebrochen habe, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich habe Blumen geschickt, Pralinen und eine nette Karte. Als er mich dann noch einmal angeschrieben hat, um mir zu erzählen, wo es passiert ist, habe ich geweint. Und als ich mich dann in einer einsamen Novembernacht nach einer neuen Stadt gesehnt habe, nach einem neuen Liebhaber - nach etwas anderem, irgendetwas -, um wieder einmal zu fliehen, rief Bill mich an. Mum, sagte er, hätte nach mir gefragt. »Sie möchte wissen, wann du heimkommst.« Er wusste nicht, dass dies die einzigen Worte waren, die mich dazu bringen konnten, hierher zurückzukehren, die Worte, auf die ich all die Jahre gewartet hatte. Ich habe meine Sachen gepackt und einen Flug gebucht .
Die Frau aus dem Bus beobachtet mich immer noch. Ich hole mein Handy heraus und tue so, als hätte ich eine wichtige SMS zu verschicken. Kein Signal. Hier gibt es nichts vorzuschützen.
»Was haben Sie da bloß reingepackt, Mädchen?«, fragt der Busfahrer und krümmt sich unter der Last meines Rollkoffers. »Goldnuggets?« Sein Akzent klingt mir in den Ohren. Der volltönende Singsang der westlichen Highlands. Im Lauf der Jahre sind mir immer wieder Leute begegnet, die meinen Akzent »süß« fanden, »sexy«, »melodisch« oder »merkwürdig«. Für mich jedoch klingt er nach Heimat.
»Ich dachte, dass ich mit ziemlich leichtem Gepäck reise«, sage ich.
Er stellt meinen Koffer auf den Gehsteig. »Zu meiner Zeit haben wir nicht mehr gebraucht als eine Zahnbürste und eine Unterhose zum Wechseln.«
Das entlockt mir ein Lachen, das mich innerlich wärmt. Ein bisschen.
Der Busfahrer schließt den Laderaum, und ich rolle meinen Koffer an die Seite. Er ist so schwer, weil ich im letzten Augenblick noch ein paar Bücher hineingeworfen habe, aber dafür, dass ich nicht weiß, wie lang ich bleibe, ist er ziemlich klein. Vor meiner Abreise habe ich mein Haus in Las Vegas gekündigt. Beim Packen habe ich festgestellt, dass ich kaum warme Kleider besitze. Ein paar Baumwollpullis, Stiefel, ein paar Schals und eine Strickmütze mit Pailletten und einer Webpelzbommel. Ich habe so viel in den Koffer gestopft, wie ich konnte, meine Gitarre bei einem Freund gelassen und den Rest an die Wohlfahrt gespendet. Ich bin es gewohnt, als Nomadin zu leben, als Vagabundin. Meine Wurzeln sind vertrocknet und abgestorben.
Der Fahrer steigt wieder in den Bus, und die Türen schließen sich mit hydraulischem Zischen. Stotternd erwacht der Motor zum Leben. Noch ist vielleicht Zeit. Die Buslinie endet hier, aber wenn ich ihm zwanzig Pfund gäbe, würde er mich bestimmt wieder einsteigen lassen. Und mich in einem anderen Dorf absetzen, einer anderen Bucht, mich vielleicht sogar zurück nach Fort William mitnehmen.
Zu spät. Der Bus fährt an. Die Frau hält sich immer noch in der Nähe auf. Ich richte mich ein wenig auf, als wüsste ich, was zum Teufel ich als Nächstes tun werde. Während ich doch keine Ahnung habe. Es gibt keine Taxis. Früher hat immer ein Dorftaxi an der Endhaltestelle gewartet, da bin ich mir sicher.
»Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit, Liebes?«, fragt die Frau. »Meine bessere Hälfte ist gleich da. Er holt mich ab.« Sie lächelt, und im Glühen der Laternen kommt sie mir irgendwie bekannt vor. Ich will nichts Bekanntes.
»Nein, danke«, sage ich. »Ich werde auch abgeholt.« Die Lüge geht mir leicht über die Lippen.
»Na schön«, sagt sie. Scheinwerfer kommen auf uns zu, blenden mich einen Moment. »Das hier ist er. Bist du sicher .«
»Ja. Ich komme zurecht. Schönen Abend noch.« Ich nutze die routinierte amerikanische »Schönen Tag noch«-Antwort auf alles.
Als der Wagen hält, legt die Frau den Kopf schief. »Schön, dass du endlich nach Hause gekommen bist. Deine Mum freut sich bestimmt, dich zu sehen.«
Ich starre sie an, als sie in den Wagen einsteigt. Wenn ich nur wüsste, ob das wirklich stimmt. Ihre Worte rühren an der Stelle, an der meine Schuldgefühle lauern, jederzeit bereit loszuschlagen. Sie weiß nichts - kann nichts wissen....
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