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Andocken wollen
Über die Sehnsucht, dazuzugehören
1998. Ich bin 12 Jahre alt. Mein Alltag ist gräulich in dieser Zeit. Pubertät, das Fremdsein in mir und einer fremden Region. Wir wohnen seit Kurzem in Franken - und gelten als »Zugezogene«. Das Fränkische begrüßt uns nicht mit seiner vielgerühmten Gemütlichkeit, sondern mit seiner eigenbrötlerischen Skepsis. Wir Kinder stecken alle im Übergang vom Spiel zum Ernst, die Eltern sind mit ihren eigenen Übergängen beschäftigt, das Umfeld wirkt geschlossen - ohne Einladung.
Im protestantisch geprägten Kontext sind wir nicht nur die geografischen »Preußen«, die merkwürdig sprechen, sondern gehören auch zur katholischen Minderheit. Im Religionsunterricht erlebe ich ein kleines Aufblitzen von Offenheit, einen humorvollen Lehrer und ein Mädchen aus einer anderen Klasse, das tatsächlich in meiner Straße wohnt, also erreichbar für eine Freundschaft, wie ich damals vermute. Es erzählt von der Jugendgruppe der Kirchengemeinde. Ich fasse Mut, fahre hin, sehe mir im Schaukasten die Zeiten der Gruppenstunde an, und stehe bei nächster Gelegenheit im Pfarrheim.
Womit ich in meiner Fantasie vorab absolut nicht rechne, ist Ablehnung.
Denn meine eigenen - katholischen - Kindheitserfahrungen im Rheinland sind durchweg positiv: Die Kirchengemeinde kenne ich dort als Ort für Groß und Klein, in der katholischen Bücherei eine Fülle von Antworten auf kindliche Sehnsüchte, im Gottesdienst eine offene Atmosphäre, sodass ich ihn nach der Erstkommunion in der Regel sogar allein besucht habe, das jährliche Zeltlager ein einziges Abenteuer.
In Franken ist Katholischsein anders. Merke ich später.
An dem Nachmittag merke ich aber vor allem eins: Pubertät heißt Konkurrenz. Das nette Mädchen aus dem Religionskurs will mich nicht dabeihaben und macht mir mit wenigen Worten deutlich, dass mein Besuch in der Gruppenstunde nicht willkommen ist.
Niemand geht mir nach, als ich das Gelände der Kirche wieder verlasse.
Ich stelle mir das, wenn ich es mit der Lebenserfahrung von heute betrachte, sonderbar vor. Scheinbar gab es keine aufmerksame Gruppenleitung? Ein Kind, das ein anderes einfach hinausschickt? Und niemand reagiert darauf? Aber möglich ist es natürlich - denn auch die liebevolle, aufmerksame Jugendpastoral, die ich in einer anderen Rolle als Erwachsene kennengelernt habe, konnte nicht verhindern, dass Kinder und Jugendliche zueinander sehr gemein sein können.
Einige Monate später sind Osterferien, ich mache wieder einen Versuch. Wieder fahre ich zum Schaukasten an der kleinen Kirche, schaue nach dem nächstbesten Gottesdienst und finde einen für den Tag darauf: Freitag, 15 Uhr. Ich habe zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von Liturgie. Es steht »Feier vom Leiden und Sterben Christi« neben der Uhrzeit, ich denke: »Passt schon, bestimmt dauert das nicht so lange wie eine normale Messe.«
Kaum angekommen bin ich ganz verwundert, dass alle schwarz gekleidet und mucksmäuschenstill sind. Die Abläufe sind anders als an Sonntagen, fast die ganze Zeit knien alle. Und dann kommt etwas Besonderes, etwas wahnsinnig Langes: die großen Fürbitten, wie ich heute weiß.
Der Inhalt stimmt für mich nicht. Meine Knie tun weh. Ich verlasse die Kirche. Die stille Gemeinschaft betet weiter.
Von heute aus betrachtet sind das zwei Momentaufnahmen, bei denen etwas nicht geklappt hat. Bei denen ein System nicht zu dem anderen passte, bei denen das große »Willkommen an alle«, das über dem Glauben meiner Kindheit wie eine Überschrift prangte, verdeckt geblieben ist.
Die beiden Erinnerungen sind Schemen, vielleicht sogar Trugbilder, aber sie sind noch da. Und ich frage mich, warum sie mir als Erstes in den Sinn kommen, wenn ich an das katholische Franken denke. Denn später, als ich einige Jahre dort gewohnt hatte, habe ich auch andere Erfahrungen gemacht. Mit viel Aufwand bin ich hineingewachsen in diese etwas griesgrämige Welt, in der die zusammenhocken, die das immer schon gemacht haben. Bei Johannisfeuern hatte ich sogar ein wenig das Gefühl, dass das Fränkisch-Katholische genauso gesellig ist wie das Rheinisch-Katholische.
Trotzdem hängt über der Erinnerung an diese Kirchengemeinde das Wort »Ablehnung« - und das, obwohl ich eine Reihe von Versuchen gemacht habe, dort mitzumachen.
Das Ergebnis damals: Die Einladung zur Firmung mit 14 Jahren habe ich ausgeschlagen. Das machte für mich alles keinen Sinn. Warum mich firmen lassen, wenn ich so gar kein Gefühl von Angenommenwerden und erst recht nicht von Zugehörigkeit verspürte?
Umso verwirrender war die Erfahrung, die ich drei Jahre später in Irland gemacht habe. Im Auslandsjahr war das Katholische allgegenwärtig. Vor jeder Unterrichtsstunde wurde gebetet, in einem Affenzahn, sodass ich nach wenigen Tagen den Religionslehrer vorsichtig fragte, was das denn für ein Gebet sei, das mit »Hail Mary« begann. Er hat es mir ausgedruckt: das Ave Maria auf Englisch. Hatte ich noch nie gebetet, kannte ich nicht. Seit dieser Zeit kann ich es allerdings beten: auf Englisch, in circa sechs Sekunden.
Das Ave Maria ist die eine Facette, die ich mit irischer Katholizität verbinde, die andere ist das strukturelle Willkommensein im Gottesdienst. Natürlich waren wir jeden Sonntag in der Kirche, der ansonsten sehr zottelige Gastvater mit Schlips, die Gastmutter im Kostüm, und um uns herum die ganze Stadt. Und obwohl fast alle jeden Sonntag gekommen sind, brauchte sich niemand zu schämen, wenn er den Ablauf nicht draufhatte. Zu jedem Sonntag gab es ein Faltblatt, in dem der komplette Messablauf, alle Gebete, alle Lieder, alle Gesten aufgeschrieben waren. Wer lesen konnte, konnte nichts falsch machen.
Und so saß ich mit 17 Jahren begeistert da, denn ich war in meiner Fremdheit willkommen: Durch dieses Papier, in dem ich unauffällig nachlesen konnte, wie der Gottesdienst hier funktioniert - ohne mich outen zu müssen, dass ich keine Ahnung von der Liturgie hatte. Ich nenne das strukturelles Willkommensein, weil es nicht an der individuellen Aufmerksamkeit einzelner Menschen hängt, sondern weil es Standard gewesen ist. Die Struktur der Kirchengemeinde war auf Messebesucher:innen eingestellt, die den Ablauf nicht kennen. Aus welcher Erfahrung oder mit welcher Begründung das so war, weiß ich nicht. Aber ich vermute: Da hatte jemand etwas von Kundenorientierung, von Gesicht wahren und vom christlichen Glauben verstanden: Wenn Menschen sich nicht schämen müssen, dass sie etwas nicht können, dann fühlen sie sich angenommen. Das ist eine Kurzformel für Christlichkeit, finde ich.
Was daran so unglaublich kostbar ist, weiß ich heute umso genauer: Die Leiterin einer der Jugendkirchen, für die ich einige Jahre Verantwortung getragen habe, hat mal zu mir gesagt: »Regina, wir drucken das Vaterunser auf Postkarten. Das kann heute kaum noch jemand von den Gruppen, die zu uns kommen. Und ich will nicht, dass die Jugendlichen sich dafür schämen müssen!«
Sie hatte so recht, und ihre Haltung müsste der Standard sein.
Denn ehrlich gesagt ist es nicht seltsam, dass Jugendliche den Gottesdienstablauf nicht kennen. Es ist nicht seltsam, wenn Menschen irgendwo dazugehören wollen, ohne dass sie schon die Regeln und Gewohnheiten verstanden haben. Seltsam ist, wenn sich Gemeinden keine Gedanken darüber machen, wie sie auf Neuankömmlinge wirken. Seltsam ist, dass man die eigenen ungeschriebenen Regeln nicht hinterfragt. Seltsam ist, wenn man nie darüber nachdenkt, warum andere wegbleiben.
Gerade die kirchlichen Angebote für Kinder und Jugendliche achten heutzutage unglaublich stark auf Willkommenskultur, und zugleich formen sich hier Cliquen, Freundeskreise, die nach innen Halt in einer unsicheren Lebensphase geben, aber nach außen eher verschlossen wirken. Für diejenigen, die hier (oft ehrenamtlich) Verantwortung übernehmen, ist das eine immense Herausforderung: Den einen den erhofften Halt zu geben und den anderen die Tür offen zu halten.
Es wäre einfach, zu rufen: Dann müssen sie dafür (noch) besser qualifiziert werden. Jugendleiter:innen werden meiner Erfahrung nach überfrachtet mit verpflichtenden Qualifikationsmaßnahmen beziehungsweise, um es etwas freundlicher zu sagen, sie werden exzellent ausgebildet - in wichtigen und weniger wichtigen Themen: in Prävention sexualisierter Gewalt, in Gruppenleitung, in Datenschutz, im Einmaleins der steuerrechtlich korrekten Finanzbuchhaltung und und und. Sie stellen Anträge, füllen Verwendungsnachweise aus, müssen sich rechtfertigen, wie sie das wenige Geld, das ihnen zur Verfügung steht, ausgeben.
Wer schon mal ein Ferienlager organisiert hat, ist oft bestens über Projektfördertöpfe, Sicherheits- und Hygienerichtlinien und Jugendschutz informiert, hat ein Diplom in Heimweh-Trösten und Eltern-Beruhigung und weiß, wie viel man abends trinken darf, um notfalls noch ein Kind ins Krankenhaus fahren zu können. Eine Gruppe zu leiten, ehrenamtlich wohlgemerkt, ist oft eine Wahnsinnschance, Verantwortung zu übernehmen, aber auch von kirchlicher Regelwut und struktureller (Über-)Forderung geprägt. Ehrenamtliche werden mit Aufgaben konfrontiert, für die es entweder keine Hauptberuflichen mehr gibt, oder bei denen die Hauptberuflichen keine Ideen haben, wie die Ehrenamtlichen zwar profitieren, aber nicht belastet werden könnten.
Das Absurde ist: Anstatt Verwaltungslasten von Ehrenamtlichen fernzuhalten, werden sie immer tiefer hineingezogen. Wie oft habe ich von hoch engagierten jungen Menschen gehört: »Wir haben bald keine Zeit mehr für die Jugendlichen, so viel Bürokram, wie wir erledigen...
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