Nun hieß es mit gutem Beispiel vorangehen! Unbekümmert weiter marschieren ohne stehen zu bleiben oder aufzublicken! Es war ja im Grunde ganz alles eins was man tat. Ein Davonlaufen oder Verstecken gab's da nicht. Da hieß es Glück haben; - sonst gab es keinen Schuß. Also vorwärts, als wüßte man von nichts! War nur einer da, der sich nichts aus der Sache zu machen schien, dann bekamen's die anderen mit der Scham, kontrollierten sich gegenseitig, und dann war alles gewonnen. Er merkte es ja an sich selbst, wie ihm das Gefühl, von allen Seiten beobachtet zu werden, Haltung gab. Wäre er ganz allein gewesen, er hätte sich vielleicht hingeworfen; hätte hinter einem Stein Deckung gesucht, und wenn er noch so klein gewesen wäre.
- War nur ein Weitschuß! Vorwärts Kinder! - rief er laut, fast fröhlich gemacht von dem Gefühl: seinen Leuten eine Stütze zu sein. Da schwirrten, - ehe er noch fertig gesprochen hatte, schon die nächsten heran. Er versteifte alle Muskeln, und knirschte vor Wut, als sein Oberkörper dennoch zurückfuhr, und der Kopf für einen Augenblick zwischen den Schultern versank. Nicht die Wucht, mit der das Heulen heranflog, ließ ihn zusammenzucken! Die sonderbare Deutlichkeit, mit der die Flugbahn, genau wie auf der Abbildung im Artillerieunterricht, sich vor ihm wölbte; dieses widernatürliche Gefühl, einen Ton mehr mit den Augen, als mit dem Ohr erfassen zu müssen, das war's, wogegen kein Wille aufkam.
Man mußte was tun, sich irgendwie die Illusion verschaffen, nicht ganz wehrlos zu sein! - Kompagnie Laufschritt! - schrie er, so laut er nur konnte, beide Hände als Sprachrohr vor dem Mund.
Wie erlöst stürmten die Leute los. Die Spannung schwand von ihren Gesichtern; jeder einzelne war irgendwie mit sich beschäftigt, stolperte, raffte sich auf, haschte nach locker gewordenen Ausrüstungsstücken; und in dem allgemeinen Keuchen und Pusten ging der drohende Pfiff der ankommenden Geschosse fast unbemerkt unter.
Nach einer Weile war es Hauptmann Marschner, als fauchte ihm jemand ins linke Ohr hinein. Er wandte den Kopf, und sah Weixler, dunkelrot im Gesicht, neben sich herlaufen. - Was gibt's? - frug er, unwillkürlich in Schritt fallend.
- Herr Hauptmann, ich meld' gehorsamst, man sollt' ein Exempel statuieren! Der Simmel, der Feigling, demoralisiert die ganze Kompagnie. Bei jedem Schrapnell schreit er "Jesus-Maria", schmeißt sich hin und macht den andern Angst. Man sollt' den Kerl als abschreckendes Beispiel ....
Mitten in den Satz sauste eine Lage von vier Schrapnells hinein. Das Heulen schien noch lauter. noch schärfer geworden zu sein; dem Hauptmann war's, als flitzte, blendend hell, eine ungeheure Sense in steilem Bogen direkt auf seinen Schädel zu. Diesmal aber durfte er mit keiner Wimper zucken! Wie beim Zahnarzt, wenn die Zange ansetzt, krampften sich seine Glieder; zugleich starrte er seinem Leutnant forschend ins Gesicht, neugierig, wie er sich im ersehnten Feuer nun benahm. Allein der schien von den Schrapnells gar nicht Notiz zu nehmen. Er reckte sich, sah mit gespannter Aufmerksamkeit zum linken Flügel hinüber und rief empört:
- Da! Siehst, Herr Hauptmann! Da liegt der verdammte Kerl schon wieder! Ich will ihm doch ...
Ehe ihn Marschner erhaschen konnte, war er schon losgesprungen, blieb aber auf dem halben Wege stehen, machte Kehrt und kam mißmutig zurück.
- Der Kerl ist getroffen, - meldete er mürrisch, mit einem verärgerten Achselzucken.
- Getroffen? - entfuhr es dem Hauptmann, und ein häßlicher, bitterer Geschmack klebte ihm plötzlich die Zunge an den Gaumen. Er sah die frostige Ruhe in Weixlers Zügen, den teilnahmslosen, gleichgültigen Blick, und seine Hand zuckte in die Höhe. Schlagen hätte er ihn mögen, so aufreizend wirkte diese Unberührtheit, so weh tat ihm dieses hingeworfene "der Kerl ist getroffen". Das Bild des netten Mäderls, mit der hellen Schleife in den roten Locken, blitzte vorbei, und die Vision einer verkrümmten Leiche, die ein Kind in den Armen hielt. Wie durch einen Schleier hindurch sah er Weixler, an sich vorbei, der Kompagnie nacheilen, und lief hinüber, wo neben etwas Unsichtbarem zwei Sanitätssoldaten knieten.
Der Verwundete lag am Rücken; seine flammend roten Haare umrahmten ein grün-graues, gespenstisch-regungsloses Gesicht. Vor wenigen Minuten hatte Hauptmann Marschner den Mann noch laufen, - dasselbe Antlitz noch erhitzt, in erregter Lebendigkeit gesehen. Seine Kniee gaben nach; - wie eine kalte Hand wühlte der Anblick dieses unfaßbar jähen Wechsels in seinem Innern. War das möglich? .... Konnte so alles Blut in einer Sekunde entweichen; ein gesunder, kräftiger Mensch in wenigen Augenblicken zur Ruine zerfallen? Welche Höllenkraft lauerte in so einem Stück Eisen, daß es die Arbeit monatelangen Siechtums zwischen zwei Atemzügen verrichten konnte.
- Keine Angst, Simmel, - stammelte der Hauptmann, auf die Schulter eines Sanitätssoldaten gestützt, - man wird sie runtertragen zum Train! - und tief atemholend, rang er sich mühsam die Lüge ab: - Jetzt kommen's gar als Erster nach Wien zurück! - Er wollte auch noch etwas von der Familie, von dem rotlockigen Mäderl hinzufügen, brachte es aber nicht über die Lippen. Es war ihm bange vor einem Aufschrei des Sterbenden nach den Seinen, und ein inneres Zittern durchlief ihn, als der qualvoll verzerrte Mund sich langsam auftat. Er sah die Augen sich öffnen; erschauerte vor dem gläsernen Blick, der an nichts Körperlichem mehr einen Halt zu finden, durch alle Anwesenden hindurch in weiter Ferne was zu suchen schien. Der Körper krümmte sich unter den wühlenden Händen des Sanitäters; aus der aufgerissenen, blutüberströmten Brust stiegen gurgelnd unverständliche Laute, bliesen den roten Schaum vor dem Mund zu platzenden Luftblasen auf.
- Simmel! Was wollen Sie Simmel? - bat Marschner, tief über den Verwundeten gebeugt. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschte er dem Lallen, überzeugt, daß es eine letzte Botschaft zu erhaschen galt! Er atmete auf, als die verirrten Augen endlich zurückfanden, und ängstlich forschend haften blieben auf seinem Gesicht. - Simmel - rief er wieder und haschte nach der Hand, die zitternd die Wunde suchte. - Simmel! Kennen's mich denn nicht?
Simmel nickte. Er riß die Augen auf, seine Mundwinkel sanken herab, und weinerlich, vorwurfsvoll, - wie es dem Hauptmann schien, - kam aus der zerfetzten Brust die Klage: - Weh - - Herr Hauptmann - - - so weh! - und nach einem kurzen, röchelnden Schmerzenslaut wiederholte er schäumend, mit einem gellenden Wutschrei: - Weh! - - - Weh! - - - und schlug um sich, mit Händen und Füßen.
Hauptmann Marschner sprang auf. - Tragt's ihn hinunter! - befahl er, hielt sich, ohne zu wissen was er tat, die Ohren zu, und lief davon, der Kompagnie nach, die schon oben auf der Kammlinie stand. Er lief, den Kopf, wie in einen Schraubstock, zwischen die Hände gepreßt, torkelnd, atemlos; von einer Angst getrieben, als stürmte das Wehklagen des Verwundeten mit erhobener Axt hinter ihm her. Er sah den eingeschrumpften Leib sich winden, sah das blitzschnell verwelkte Gesicht, das vergilbte Weiß der Augen, und das "So weh, Herr Hauptmann" klang in ihm fort, krallte sich ihm in die Brust, daß er, oben angelangt, halb erstickt niederfiel, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.
Nein, er konnte das nicht! Er wollte nicht mehr! .... Er war kein Henker; war nicht fähig, Menschen in den Tod zu peitschen; konnte nicht taub sein für ihren Jammer, für dieses Kinderwimmern, das wie bitterer Vorwurf sein Gewissen traf! Seine Füße stampften trotzig den Boden; alles in ihm bäumte sich gegen die Aufgabe, die ihn rief.
Unten dehnte sich das Schlachtfeld; trostlos grau. Kein Baum, kein Fleckchen Grün. Eine steinerne Wüste; zerhackt, zermürbt, aufgewühlt, ohne ein einziges Lebenszeichen. Die Laufgräben, die, in der Talsohle beginnend, hinaufführten zum Hügelrand, aus dem die Drahtzäune starrten, sahen wie zum Griff gespannte Finger aus; krallten sich tief in den erwürgten Boden ein. Marschner blickte sich unwillkürlich noch einmal um. Hinter ihm senkte sich die grüne Böschung steil zu dem Wäldchen, in dessen Schutz er seinen Train zurückgelassen hatte. Weiter rückwärts glänzte weiß die Landstraße, wie ein Fluß, von bunten Wiesen umrahmt. Eine kurze Wendung - und das Grün verschwand! Alles Leben ging unter, wie niedergebrüllt von den Geschützen, von dem Heulen und Knallen, das, gleich dem Pulsschlag eines ungeheuren Fiebers, in das jenseitige Tal hineinhämmerte. Granattrichter neben Granattrichter gähnte dort unten; dicke, schwarze Erdsäulen sprangen zuweilen auf, verdeckten für Augenblicke ein Teilchen dieser zu Asche gebrannten Öde, aus der die geborstenen, wie mit dem Federmesser zerschnitzelten Baumstümpfe höhnend emporragten, eine Herausforderung an die ohnmächtige Phantasie: in diesem Totenfeld aus Schutt die Landschaft wiederzuerkennen, die es gewesen, ehe der Wahnsinn darüber hinweggefegt, und es mit Trümmern besät zurückgelassen hatte, wie einen Tanzboden, auf dem zwei Welten um eine Dirn' gerauft.
Und in dieses Höllental sollte er nun hinuntersteigen! Dort unten leben, fünf Tage und fünf Nächte lang, mit einem Häufchen Verdammter da hinausgespien, bei lebendigem Leibe auf den Angelhaken gespießt, als Köder für den Feind! ....
Ganz allein, von niemandem belauscht, umtobt von dem Platzen der Geschosse, die da oben dicht, wie Gewitterregen fielen, - gab Hauptmann Marschner sich ganz seiner Wut hin, der ohnmächtigen Wut gegen eine Welt, die ihm solches angetan! Er fluchte, schrie seinen Haß aus voller Kehle in den tauben Lärm hinein, und sprang auf, als weit unten,...