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Ich ließ das Rad ausrollen, als ich mich der Bay näherte und im Sattel aufrichtete. Meine Schicht war vorbei, und meine Waden pochten, weil ich über Stunden hinweg so fest in die Pedale getreten hatte, als würde ich Rennen fahren und keine Pizza ausliefern. Das Shirt klebte mir am Körper, dabei war der Tag kühl und schickte feinen Nieselregen über die Stadt.
Am Bordstein parkte ein Lieferwagen zum Entladen, hinter mir hupte es, dann gab jemand Gas und zog viel zu nah an mir vorbei. Früher hätte ich mich darüber aufgeregt, doch ich fühlte mich noch immer, als wäre ich kein Teil der Stadt, sondern nur ein Gast, der in einer seltsamen Blase durch die Straßen schwebte und das Leben auf der anderen Seite beobachtete, ohne daran teilnehmen zu können.
Früher.
Interessant, wie schnell ein Wort seine Bedeutung ändern konnte. Lange hatte es für mich eine Zeit bezeichnet, die viele Jahre zurücklag. Früher stammte aus dem Wortschatz meiner Eltern oder Großeltern, die ich nie kennenlernen durfte; allerhöchstens bezeichnete es die Jahre, in denen Vander, Mari und ich Kinder gewesen waren. Aber ich hatte gelernt, dass früher auch einen Bruch bedeuten konnte, dass es eine Zeit im Leben beschrieb, in der vieles anders gewesen war.
Früher war nur Tage her.
Ich fädelte mich auf der Adelaide Street hinter einem Bus ein und gab mich der Illusion hin, von ihm geschützt zu sein, während ich die Häuser musterte mit ihren von Wetter und Dreck verdunkelten Graffiti und halb abgerissenen Plakaten von Veranstaltungen, die längst vorbei waren. Daneben hockte ein Betonmoloch mit zugemauerten Fenstern, auf dessen Dach zwei Bäume Wurzeln schlugen. Der Verfall zeigte mir unumwunden sein Gesicht, und ich starrte zurück.
Auf der Havannah änderte sich der Eindruck; die Hochhäuser mit den grünlichen Balkonfassaden wurden heller, sauberer. Manche von ihnen waren im Erdgeschoss mit Sandsteinmauern verkleidet, als wollte man Natur und Moderne miteinander verbinden. Sogar die Sonne zeigte sich am Himmel. Ich ließ das Wissenschaftsmuseum hinter mir, wurde langsamer, als die Mount Stuart Docks links auftauchten, und hielt kurz darauf an. Mit beiden Händen fuhr ich durch meine kinnlangen Haare und fand vom Fahrwind hineingewebte Knoten. Manche blieben an den fingerlosen Lederhandschuhen hängen. Mit einem genervten Laut riss ich sie raus und beobachtete, wie sie im Wind davontrieben, silbrige Strähnen, an denen man den dunklen Ansatz nicht sah.
Manches zeigte sich erst in der Masse. Wie Verzweiflung.
Oder Geldsorgen.
Ich atmete tief aus. Neben mir ragten Hochhäuser auf, trotzdem waren hier nur wenige Menschen unterwegs. Die Holzplanken unter meinen Füßen glänzten dunkel. Davor schwappte das Wasser gegen die Steinmauer und flüchtete sich irgendwo weiter draußen in den Bristol Channel. Ich starrte auf die graublaue Fläche, die sich kräuselte, wenn der Wind sie streifte. Ein Sog ging davon aus. Ich wünschte mir, ich könnte ihm folgen, die Stadt hinter mir lassen und erst wieder anhalten, wenn ich einen Grund hatte, mich fremd zu fühlen.
Endlich konnte ich tiefer atmen und sog den schwachen Geruch nach Tang sowie die Kühle des Wassers in meine Lunge. Wie so oft in den letzten Tagen dachte ich an den Typen mit der Bomberjacke und die unmögliche Aufgabe, dreißigtausend Pfund zusammenzubekommen. Bis heute fühlte sich das Gespräch mit ihm surreal an. Ein Teil von mir fragte sich permanent, ob man mich auf den Arm nehmen wollte, aber ein anderer, größerer hatte schlicht und einfach Angst. Sie beherrschte nicht jede Stunde eines jeden Tages, sondern war zu einem Teil meines Lebens geworden. Vermutlich eine Schutzfunktion, da ich sonst durchdrehen würde. So oder so, ich glaubte Bomberjacke - dass er unser Leben in eine Hölle verwandeln konnte und dass es diese Summe gab, die man ihm und wem auch immer schuldete. Es lag einfach zu nahe, dass Sean Mist gebaut hatte und nicht auf die Idee kam, seine Pseudofamilie müsste dafür bezahlen. Oder es störte ihn herzlich wenig.
Wie ich es auch betrachtete: Der Unbekannte hatte mir eine unmögliche Aufgabe gestellt. Ich wusste nicht einmal, wie ich ihn erreichen konnte, um ihm genau das zu sagen - dass diese Summe selbst bei gutem Willen unmöglich aufzutreiben war, erst recht nicht, wenn ich niemandem davon erzählen durfte.
Daran hatte ich mich gehalten, denn Mari und Mum waren meine oberste Priorität. Ich musste sie schützen, und das bedeutete in diesem Fall, nach fremden Regeln zu spielen . wenn die Drohungen stimmten und nicht nur aus dem Mund eines Trottels stammten, der zu viele True-Crime-Podcasts gehört hatte.
Selbst Evan konnte ich mich nicht anvertrauen, da war ich mir mittlerweile hundertprozentig sicher. Worte verselbstständigten sich schnell, und ich hatte keine Ahnung, wo sie letztlich landeten.
Soweit ich mich erinnerte, hatte ich noch nie so sehr mit dem Rücken zur Wand gestanden. Und das mit zu wenig Geld auf dem Konto, nämlich knapp über vierhundert Pfund. Wenn ich mein Rad verkaufte, würde ich mit etwas Glück auf sechshundert kommen, müsste mir allerdings auch einen neuen Job suchen. Auf einen Kredit brauchte ich nicht hoffen - ich war nach meiner Rückkehr im Minus gewesen und verdiente bei Pizza Power nicht genug, um in naher Zukunft viel anzusparen. Ebenso wenig konnte ich mir etwas bei Freunden leihen, denn ich war zu lange aus ihrem Leben verschwunden gewesen, um wiederaufzutauchen und die Hand aufzuhalten. Lediglich Mari könnte ich unter einem Vorwand um Geld bitten, aber dreißig K? Ich befürchtete, dass sie aus mir herauskitzeln würde, was wirklich los war.
Zum millionsten Mal verfluchte ich die Tatsache, dass ich nicht mehr wusste. Ich hasste dieses Dasein auf dem Präsentierteller, bei dem man auf mich zukommen würde. Die drei Wochen, von denen Bomberjacke gesprochen hatte, waren in vierzehn Tagen vorbei. Ich wusste nicht einmal, ob er erneut auftauchen würde oder jemand anderes oder ob plötzlich ein Auto vor mir halten und die nächste Phase einläuten würde: Entführung, Folter, Waterboarding in einer Lagerhalle.
Jetzt dreh nicht durch, Gwen.
Was tat man in einer solchen Situation? Ich hatte versucht zu googeln, wusste jedoch nicht wirklich, wie ich meine Suche formulieren sollte, und landete stets bei Filmen, in denen der Protagonist letztlich für die anderen arbeitete - oder von ihnen verfolgt wurde, bis er sie der Reihe nach umbrachte.
Beides waren keine Optionen für mich. Ich arbeitete ungern unter zu starker Aufsicht und war schätzungsweise eine miese Mörderin.
Ewig an der Bay herumstehen konnte ich aber auch nicht, und trotzdem wollte ich noch nicht nach Hause. Ich musste die ganze Sache von Mari fernhalten, falls diese Typen mich im Auge behielten. Also drehte ich um, schwang mich wieder in den Sattel und machte mich auf den Weg zum Trelai Park. Ich brauchte einen Gesprächspartner, der in seinem Leben viel gesehen und daher wenig Fragen hatte.
Es dämmerte, als ich mein Rad über die Wiese in Richtung Waldrand schob. Die letzten Besucher - Kids, die Fußball spielten - ließen sich vom Wetter verscheuchen. Mit der Dunkelheit wurde es ungemütlich.
Nach dem Trubel der Stadt war ich hier draußen nach einer Weile vollkommen allein.
Die Erkenntnis traf mich, als wäre ich vor eine Wand gelaufen - weil ich begriff, dass ich das schon seit Vanders Tod gewesen war. Ja, ich lebte nach wie vor mit Mari zusammen, doch sie war oft bei Mum, und etwas hatte sich zwischen uns verändert. Zwar redeten wir, manchmal auch über Schmerzhaftes oder Unangenehmes, aber wir öffneten uns nicht mehr vollkommen, sondern spielten zum Teil Rollen. Wir sprachen über uns, über die Lücke in unserem Leben, doch wir hielten uns auch zurück, um der anderen nicht zu viel zuzumuten. In dieser Blase war alles so glatt wie möglich, damit wir weiter funktionierten. Aber wir wurden auch zu Fremden. Und ich hatte die Stille im Park gebraucht, um festzustellen, wie einsam ich wirklich war.
Ich riss mich von dem Gedanken los, schloss das Rad an einem Metallpfeiler an und hielt auf den Wald zu. An einer Stelle leuchtete etwas zwischen den Bäumen auf, und trotz allem musste ich grinsen. Ich konnte nur schätzen, wie oft sich Sandover von der Polizei etwas über Feuer an öffentlichen Orten hatte anhören müssen, aber das hielt ihn nicht davon ab, seine Stahltonne zu benutzen. Bisher hatte er nichts abgefackelt, und Vander hatte mir damals erzählt, dass viele ein Auge zudrückten. Oder zwei. Die Beamten kannten ihn, und ich wusste von Vander, dass sie ihn manchmal für eine Nacht mitnahmen, damit er eine warme Mahlzeit bekam, da er bis auf wenige Male im Jahr, wenn es einfach zu kalt wurde, auf Notunterkünfte oder andere Angebote verzichtete.
Ich erreichte die Waldgrenze, wählte den überwucherten Weg, der nach links abzweigte, und folgte dem rötlichen Schimmer. Dabei hielt ich den Boden im Auge, entdeckte einen dünnen Ast neben dem Weg und trat so fest ich konnte darauf. Ich wollte Sandover nicht erschrecken und zudem verhindern, dass er mich nicht sofort erkannte und mit einem Stock in der Hand begrüßte.
Beides war bereits vorgekommen.
Es funktionierte: Er stand neben der Tonne unter einem hohen, aber dichten Dach aus Rotbuchen, hielt die Hände darüber und blickte mir entgegen. Sandover hatte schon auf den Straßen von Cardiff gelebt, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war. Damals hatte er mich mit seinem wilden braunen Haar, dem unrasierten Kinn und den mehreren Lagen...
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