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In Mayas Familie herrscht Schweigen. Über die deutsche Vergangenheit und den Holocaust, den die Mutter in Auschwitz überlebt hat, wird nicht gesprochen. Aber Maya trägt die Verwundungen ihrer Familie weiter. Mit zu langen Nächten, Drogen, Schulden und den falschen Typen treibt sie durch das London der siebziger Jahre. Um zu überleben, das wird ihr schlagartig klar, muss sie das Schweigen überwinden. Sie beginnt zu schreiben: Briefe nach Breslau an die von den Nazis ermordeten Großeltern. Stück für Stück setzen ihre Worte eine Familie wieder zusammen, erzählen die Geschichte dreier Generationen im Spiegel der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts.
Dieses Buch ist der Versuch einer Rettung. Maya Lasker-Wallfisch schreibt darin an gegen die Sprachlosigkeit, mutig und gefühlvoll. Sie macht erfahrbar, wie ein transgenerationales Trauma das eigene Leben bestimmt, wie die eigene Geschichte immer abhängt, von dem, was zuvor geschehen ist.
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In meinem Elternhaus wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden. Damit fing das Problem an.
Meine Eltern waren beide Berufsmusiker. Jeden Tag stieg mein Vater in unserer winzigen Wohnung hinauf ins Dachzimmer, um Klavier zu üben. Es war verboten, ihn dabei zu stören. Mindestens acht Stunden übte er jeden Tag. Dank seiner eisernen Disziplin wich er kein einziges Mal von dieser Routine ab. Durch die ganze Wohnung konnte man ihn spielen hören. Auch meine Mutter spielte mehrere Stunden am Tag Cello, jedoch nicht zu Hause. Sie probte mit dem English Chamber Orchestra, dessen Gründungsmitglied sie war, oder trat mit ihm auf. Wenn sie zu Hause war, stand ihr Cello in der Wohnzimmerecke wie ein Aktenkoffer. Sie nahm es und ging fast jeden Tag damit zur Arbeit. Wenn sie nicht spielte, war mein älterer Bruder Raphael dran. Auch er spielte wunderschön Cello. Er hatte Glück und großes Talent. Er sprach die Sprache meiner Eltern.
Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an meine Mutter, wie sie in unser großes (so kam es mir damals vor) schwarzes Bakelit-Telefon spricht. Auch nach fast fünfundfünfzig Jahren habe ich unsere Telefonnummer sicher im Gedächtnis. »Kann ich Maya mitbringen?«, fragte meine Mutter ihren Gesprächspartner - vermutlich den Dirigenten, der an jenem Tag die Probe mit dem Orchester leitete. Ich wurde mitgenommen, auf einen Stuhl gesetzt und angewiesen, still zu sein. Der Raum füllte sich mit Musik, zu der ich keinerlei Verbindung spürte. Bereits mehr als einmal war ich dafür verantwortlich gewesen, dass eine Aufnahme mit Barenboim durch das Zerreißen eines Stücks Papier ruiniert wurde - ich hatte die rote Lampe ignoriert, die anzeigte, dass aufgenommen wurde. Kein Wunder, dass ich mich nie willkommen fühlte. Ich wünschte mir immer so sehr, meine Mutter könnte sein wie andere Mütter - zu Hause, wo sie mit mir und meinem Bruder spielt. Als ich etwas älter wurde, musste ich mir meinen Freunden gegenüber irgendeine Erklärung ausdenken, wenn sie fragten, warum meine Mutter sich die Telefonnummer auf den Arm geschrieben hatte. Anders zu sein ist ganz klar ein Nachteil für ein Kind.
Ich verinnerlichte schon bald, dass alles Deutsche schlecht war. Zum Beispiel wurde mir gesagt, dass deutsche Autos nichts taugten. Wenn meine Mutter im Bus oder in der U-Bahn andere Fahrgäste unerwartet Deutsch sprechen hörte, verdüsterte sich ihre Laune sofort, und sie wurde unruhig und argwöhnisch. Doch meine Eltern sprachen auch deutsch miteinander. Sehr vertraut und innig. Wie sollte ich daraus schlau werden? Ich konnte an ihren Gesprächen nicht teilnehmen. Ich verstand nicht, was los war, und so wuchs ich in einem Zustand permanenter Verwirrung auf. In meinem Leben fühlte sich nichts sicher an, ohne dass ich je verstanden hätte, warum.
Meine Mutter, Anita Lasker-Wallfisch, wuchs als die jüngste von drei Schwestern in Breslau auf. Sie war Cellistin im berühmten Mädchenorchester von Auschwitz, das jeden Morgen am Lagertor spielte, wenn die abgezehrten Zwangsarbeiter sich auf den Weg in die nahe gelegenen Fabriken machten. Das Orchester spielte auch abends, wenn die erschöpften Männer und Frauen ins Lager zurückkehrten, und hin und wieder trat es vor der SS auf. Es war die Musik, die meine Mutter am Leben hielt. Ohne die Musik wäre sie wahrscheinlich zusammen mit über einer Million anderen Menschen in dem Todeslager umgekommen. Als Cellistin im Orchester gehörte sie zu einer Gruppe, deren Mitglieder verschont blieben, solange die SS nach Musik verlangte.
Die Nazis verließen Auschwitz, als die Rote Armee sich näherte, und meine Mutter wurde im Oktober 1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt. Dort wurde sie, halb verhungert und sterbenskrank, in den letzten Kriegswochen von den britischen Truppen befreit. Sie erholte sich schnell, und als sie schließlich in der Lage war, Deutschland zu verlassen, beschloss sie, nach Großbritannien zu emigrieren.
Sie erreichte London im März 1946 und fing an, sich ein neues Leben aufzubauen. Nach ein paar Jahren begegnete sie meinem Vater wieder, Peter Wallfisch. Die beiden kannten sich aus ihrer Schulzeit in Breslau. Er hatte den Krieg in Palästina verbracht. 1952 heirateten sie. Das Leben war nicht leicht für zwei verarmte klassische Musiker. Mein Vater war Künstler und spielte in ganz Europa und dem Rest der Welt. Meine Mutter war die Ernährerin, die Musikerin, die jeden Tag zur Arbeit ging. Sie zogen in eine kleine Wohnung in der Nähe der Portobello Road, damals ein armer, heruntergekommener Stadtteil Londons. Heute ist er gentrifiziert und todschick. Aber in den 1950ern wohnten wir über einer schwarzen Familie im Erdgeschoss und anderen Einwanderern im ersten Stock. Damals gab es noch keine Political Correctness. In manchen Mietshäusern hingen Schilder mit der Aufschrift »Keine Schwarzen. Keine Hunde. Keine Iren.« Unsere Vermieter waren anders. Wir bewohnten die beiden obersten Stockwerke. Mein Bruder Raphael wurde 1953 geboren, ich fünf Jahre später.
Allen Kindern sind ihre Eltern peinlich. Mir waren meine aber ganz besonders peinlich. Bei uns zu Hause war nichts so wie bei den anderen Kindern. Bei denen gab es Weißbrot in Scheiben, Butter, Marmelade und Kuchen. Bei uns gab es Schwarzbrot, Salami und stinkenden Käse. Bei meinen Freunden gab es abends etwas Warmes. Bei uns gab es Abendbrot. Und nur hin und wieder, manchmal am Wochenende, bekamen wir Nachtisch, in der Regel Joghurt. Das war in den 1960ern sehr exotisch. Seltsame Aromen waberten durch unsere Wohnung, und ich kann mich noch gut erinnern, wie jeder Gast angewidert das Gesicht verzog.
Mir wurde erzählt, mein erstes Wort sei »mehr« gewesen. Offenbar war nie genug da. Nicht genug zu essen, nicht genug Zeit mit unserer Mutter. Ich weiß noch, wie mir immer gesagt wurde: »Du brauchst nicht mehr, du hattest schon genug.« Mir aber kam es vor, als bekäme ich von allem zu wenig. Ich wurde übergewichtig - ein dickes kleines, sich selbst verletzendes Mädchen, das in einer merkwürdigen Familie aufwuchs. Ich konnte meine Gefühle nicht rational erklären, weil mir die Wörter dafür fehlten. Ich wurde nach und nach ängstlicher und schrecklich unglücklich. Ich befand mich bereits auf dem Weg, der meine frühen Jahre prägen sollte.
Ich bin überzeugt, dass meine Mutter ihr Bestes getan hat. Sie war ganz bestimmt keine schlechte Mutter im landläufigen Sinn. Sie war sechzehn gewesen, als sie selbst ihre Mutter verlor, und sie verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis, in Auschwitz und in Bergen-Belsen, sie hatte viel Lebenszeit verloren und viel nachzuholen. Sie hatte, um zu überleben, auf eine normale Gefühlswelt verzichtet. Da die Musik ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte, wurde sie ihre große Liebe. Sie gab alles, um gut zu spielen. Die Musik entzog sie uns nicht nur an vielen langen Arbeitstagen, sondern auch häufig, wenn das English Chamber Orchestra auf Tournee ging, dann war sie oft wochen-, manchmal gar monatelang weg.
Wenn sie mit dem Kammerorchester unterwegs war, wurde ich weggeschickt. Zu Hause benahm ich mich oft nicht gut, ich bekam Ärger, und mein Vater kam alleine nicht mit mir zurecht. Ich wurde an alle möglichen Orte verfrachtet, die meisten gefielen mir nicht. Manchmal wohnte ich ein paar Tage bei Freunden. Wenn es länger dauerte, kam ich ins Ferienlager. Da gab es Pferde, und alle dachten, ich würde das mögen, tat ich aber nicht. Ich hatte immer das Gefühl, nur geduldet zu sein und mich einschmeicheln zu müssen. Immer wieder schrieb ich meinen Eltern: »Bitte kommt und holt mich . aber noch nicht jetzt gleich, das Essen hier schmeckt mir nämlich gut!«
Wir hatten damals eine Putzfrau, die regelmäßig unsere Wohnung saubermachte. Wir nannten sie »Icky«. Manchmal sprang sie auch als Babysitterin ein, und ich freute mich immer sehr auf das von ihr servierte Abendessen: Fischstäbchen und Baked Beans. Das war die schlichte englische Kost, nach der ich mich als Kind sehnte. Icky war vermutlich der unkomplizierteste Mensch, der mir in meinen ersten zehn Lebensjahren begegnet ist. Sie war ein seltener Vogel. Sie lebte in noch einfacheren Verhältnissen als wir, und doch fand ich meine gelegentlichen Besuche in ihrer Sozialwohnung wahnsinnig aufregend. Sie war eine waschechte Cockney, eine Spezies, die im London der 1960er Jahre immer seltener anzutreffen...
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