Schweitzer Fachinformationen
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»Sind Sie mit dem Verblichenen bekannt oder verwandt?«, fragte Dr. Augsburger und fuhr sich mit der Linken über die Glatze, als Nicole Himmel, Heinrich Müller und Markus Forrer in den Sektionssaal traten, um gleich anzufügen: »Kleiner Scherz unter Ermittlungsbeamten.«
Nicole machte Zeichen in der Luft, die wohl ein teuflisches Emoticon bedeuten sollten.
Da keine Antwort kam, erstarb das Lachen des Rechtsmediziners, und er fuhr fort: »Dann schauen wir uns den Schadenfall an. Ein Herr Kurt Arnold aus Kandersteg soll es sein, meldet die örtliche Polizei. Jedenfalls wurde dieser Herr Anfang Januar als abgängig gemeldet. Identifiziert hat ihn noch niemand. Die Leiche ist zwar direkt nach der Bergung Mitte März bei uns eingegangen, aber der Familie haben wir noch keinen Zugang gewährt. Sie werden gleich selber sehen, warum.«
Nicole erbleichte vorsorglich, Heinrich tastete in seiner Hosentasche nach dem Plastikbeutel, den er für Übelkeitsanfälle stets mit sich führte, obwohl er sich vor mehr als 30 Jahren zum letzten Mal hatte übergeben müssen. Sicher war sicher. Einzig der Polizist schien von den Vorgängen unberührt.
»Wenn ich etwas fragen dürfte .«, begann Nicole Himmel.
»Aber sicher«, sagte Augsburger.
»Arbeitet man bei einem Tötungsdelikt nicht etwas schneller?«
Der Rechtsmediziner erklärte gelassen: »Bei einem eben geschehenen Mord würde man alle Hebel in Bewegung setzen, denn die besten Fahndungserfolge hat man bis 24 Stunden nach der Tat. Diese Voraussetzung entfällt in diesem Fall. Ein Täter hätte alle Zeit der Welt gehabt, seine Spuren zu verwischen. Ich möchte nicht despektierlich gegenüber einer Eisleiche erscheinen . aber wir hatten dringendere Fälle.«
Nicole hakte nach: »Aber es besteht doch bestimmt auch ein gewisser Druck von der Familie her.«
»Das schon. Auch die Behörden haben bereits nachgehakt, und natürlich Ihre Kollegen aus Kandersteg. Aber es ist so: Vor den Toten kommen die Lebenden.«
Nicoles Augen weiteten sich.
»So viele ungeklärte Todesfälle gibt es glücklicherweise nicht, dass ein ganzes Team stets beschäftigt wäre. Wir arbeiten auch bei Ermittlungen mit, wenn es um schwere Körperverletzung, Kindesmisshandlung oder Vergewaltigung geht, aber auch bei Unfällen, bei denen der Tathergang nicht klar ist oder sich Behauptungen gegenüberstehen, von denen nur die eine stimmen kann. Selbst DNA-Analysen sowie Gutachten bei Streitigkeiten um ärztliche Fehler fallen in unsere Zuständigkeit. Sie sehen, es gibt viel zu tun.«
Er holte eine Statistik aus dem Schrank und zeigte sie den Anwesenden.
»Außerdem«, schloss er, »mussten wir unseren Klienten erst auf Betriebstemperatur bringen.«
Alle drei starrten ihn an.
»Eine Eisleiche muss sehr langsam auf Kühlschranktemperatur gebracht werden. Bis alle Eispartikel in einem erwachsenen Mann geschmolzen sind, dauert es ein paar Tage.«
Nicole schluckte leer und sagte: »Ich hatte mir vorgestellt, dass Sie die Leiche erwärmen.«
Der Rechtsmediziner lachte und strahlte übers ganze Gesicht.
»Und wie? Etwa mit Infrarotlampen? Aber nein, wir wollen den Mann ja nicht kochen, wir wollen ihn obduzieren.«
Dr. Augsburger trat zum Seziertisch und deckte die Leiche ab. Der Körper lag in einer seltsamen Position vor ihnen, wie in einer liegenden Hockerstellung.
»Folgendermaßen«, begann der Rechtsmediziner, »der Tote lag mit dem Oberkörper auf dem gefrorenen Oeschinensee, die Beine hingegen steckten im Eis fest. Er musste mit einer Motorsäge aus seinem kalten Grab befreit werden. Ich versuche, die Position möglichst der Fundstelle anzugleichen, um die Ermittlungsergebnisse nicht zu verfälschen. Er passt allerdings kaum mehr in die Kühlbox.« Er räusperte sich.
»Etwas schwieriger gestaltete sich das Entfernen der Kleidung. Der Mann trug unter anderem eine leuchtend rote Windjacke. Seltsam, dass man ihn nicht früher bemerkt hat. Wahrscheinlich war er zugeschneit und ist erst nach einem Frühlingssturm wieder zum Vorschein gekommen. Dann allerdings hat man ihn schnell gefunden.«
»Kurt Arnold, haben Sie gesagt?«
Nicole hatte sich offensichtlich erholt.
»Ja.«
»Verschwunden im Januar?«
»Genau.«
»Sieht aber eher aus wie ein alter Ägypter. Kein Wunder, dass ihn keiner aus der Verwandtschaft erkennen würde. Wie ist so etwas möglich?«
Dr. Augsburger strahlte aus glasblauen Augen, die hinter dicken Brillengläsern steckten. Er wurde gebraucht. Sein Wissen war gefragt!
»Wenn eine Leiche bei großer Kälte Sonne und Wind ausgesetzt ist, trocknet sie schneller aus als bei wärmerem Wetter. Dazu kommt, dass Bakterien und Schimmelpilze bei Dauerfrost überhaupt nicht tätig werden. Die Konservierung setzt also rasch ein. Noch besser ist es allerdings, wenn der Körper von Eis und Schnee bedeckt ist. Erstaunlicherweise geht unter diesen Umständen die Entwässerung schneller vor sich, die Mumifizierung erfolgt in ein paar Wochen. Die Zeit von Anfang Januar bis Mitte März ist also völlig ausreichend.«
»Nichts mit der schönen Leiche im Gletschereis«, folgerte Heinrich.
»Jedenfalls nicht, was den Erhalt der Schönheit im Leben betrifft. Es sei denn, man erkennt die Ästhetik des geschwärzten, eingeschrumpften Körpers an, wie wir ihn aus altägyptischen Grabkammern kennen. Da gibt es durchaus die eine oder andere bezaubernde Prinzessin .«
Die Vorstellungskraft trug Dr. Augsburger mit sich fort.
»Habt ihr euch den Toten angesehen?«, fragte er schließlich. »Er muss bald zurück in die Kühlbox. Denn die einzige Substanz, die bei einer Mumie Schaden anrichten kann, ist Sauerstoff. Durch ihn löst sie sich in ihre Bestandteile auf.«
»Über die Todesursache können Sie noch nichts sagen?«, fragte Markus Forrer.
»Nein. Je mehr Zeit vergeht, desto komplexer werden die Untersuchungen, desto unzuverlässiger die Zeugenaussagen. Zeugen hatten wir ohnehin keine, oder, Herr Arnold?«
Er tätschelte die verschrumpelte Schulter, als ob er »seine« Leiche als einen Komplizen ansah.
»Sie können ja ein bisschen spekulieren«, schlug der Rechtsmediziner vor. »Vielleicht zeigt es mir eine zusätzliche Richtung auf, in die ich forschen sollte.«
Nicole versuchte es: »Er ist beim Fischen im Eis eingebrochen und erfroren. Das soll sehr schnell gehen, wenn der Körper nass und die Temperatur tief ist.«
»Wäre möglich«, entgegnete Augsburger, »aber die Tatortermittler haben keine Fischerutensilien gefunden. Außerdem hatte er ein funktionierendes Handy dabei. Er hätte Hilfe holen können.«
»Weshalb hat man ihn mit einer Handyortung nicht schneller gefunden?«, wunderte sich Müller.
»Als man sein Verschwinden bemerkt hat, war der Akku wohl schon leer.«
»Das ist aber nicht sehr unterstützend, wenn Sie solche wichtigen Beweise unterschlagen«, reklamierte Nicole.
»Entschuldigung.«
»Zweiter Versuch: vergiftet. Es gibt bestimmt eine Reihe von Giften, die nach so langer Zeit nicht mehr nachzuweisen sind.«
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Heinrich. »Wenn die Leiche in einem derart guten Zustand ist, dürften alle Fremdstoffe nachweisbar sein. Und ein Täter kann nicht davon ausgehen, dass die Leiche so lange nicht entdeckt wird.«
»Es sei denn«, meldete sich der Polizist, »das Gift ist wasserlöslich und wird ausgeschwemmt.«
»Oder?«, fragte Augsburger.
»Oder was?« Nicole wurde die Fragerei zu bunt.
»Oder man verwendet ein Gift, das im Körper enthalten sein kann, einfach in einer höheren Dosis.«
»Arsen?«, versuchte es Forrer.
»Zu auffällig. Man würde danach suchen«, sagte der Rechtsmediziner. »Wie wäre es mit Nikotin?«
»Nikotin?«, fragte Nicole verblüfft.
»Für einen Mann mit dem Gewicht des Herrn Arnold müssten Sie aus höchstens zehn starken Zigaretten das Nikotin extrahieren. Das ist tödlich. Es gibt nur zwei Probleme: Wie bringen Sie es fertig, dass er diese Menge Nikotin zu sich nimmt? Und: Arnold müsste ein sehr starker Raucher gewesen sein, damit dies bei einer Obduktion nicht auffällt.«
»Bleibt also was?«, fragte Müller.
»Entweder etwas Banales. Ein simpler plötzlicher Herztod oder ein Schlaganfall. Soll bei heftiger Kälte vorkommen. Beides lässt sich aber leicht feststellen.«
»Ich bin sicher, jetzt kommt die Überraschung«, flüsterte Nicole so laut, dass es im ganzen Raum zu hören war.
Augsburger war einen Augenblick lang irritiert, dann sagte er: »Eine Kugel!«
Nicole war perplex.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Reine Wahrscheinlichkeitsrechnung.« Der Rechtsmediziner zuckte die Schultern. »Wir müssen stets vom Wahrscheinlichen ausgehen und diese möglichen Ursachen zuerst berücksichtigen. Das liefert die meisten Treffer. Bei den wenigen exotischen Fällen benötigen wir etwas mehr Zeit. Aber wenn wir bei jeder Leiche sämtliche Untersuchungen durchführen wollten, nur um ja nichts auszuschließen, kämen wir kaum zu Ergebnissen.«
Er zeigte auf ein paar Regale, in denen sich Fläschchen aneinanderreihten, und fuhr fort: »Hier sehen Sie eine Auswahl an Giften. Stellen Sie sich die Analysen vor, die Sie machen müssten, um eines davon zu finden. Meist Zeitverschwendung. Gift ist eine langweilige Methode bei Beziehungsdelikten.«
»In unserem Fall bestand bestimmt auch eine Beziehung zwischen Opfer und Täter, wenn wir einmal davon...
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