Schweitzer Fachinformationen
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Schönheit, das ist nichts anderes als Kraft, gepaart mit Eleganz. Im Zweifel tödliche Eleganz. Das Schöne ist gefährlich .
Wulfs Augen folgen dem grazilen Sprung der Katze aufs Fensterbrett. Sie blickt ihn mit der Direktheit des Tieres an, instinktiv wissend, er ist der Einzige im Raum, der auf sie achtet.
Es herrscht ein Lärmpegel wie in einer Kneipe, alle reden durcheinander. Dabei sitzen kaum 20 Leute um die festlich dekorierte Tafel in Möglingen. »Die anderen sind längst begraben«, hat Oma ihn lächelnd begrüßt. Sein Onkel Matthias, der aufs Erben aus ist, wie jeder weiß, fügte launig hinzu: »Die Einschläge werden langsam dichter, was?«
Obwohl Wulf seit einer Stunde hier sitzt, taucht er nur langsam in die eigenartige Atmosphäre ein. Viel helles Holz überall, auch an der Decke. Wie jedes Jahr am 4. November wird groß Geburtstag gefeiert. Schauplatz des Ereignisses ist traditionell Omas Häuschen im Bornrain; sie und ihre um eine Stunde ältere Zwillingsschwester Marie feiern heute den Beginn ihres 91. Lebensjahrs. Nach dem fast zeitgleichen Tod ihrer Ehemänner vor zwölf Jahren sind sie hierhergezogen, weil in Ludwigsburg für Leute ihres Alters »einiges los« sei: Blühendes Barock, Kürbisausstellung, Schlossfestspiele, Weihnachtsmarkt. Die Feier findet bei Oma statt, weil die Wohnung der Schwester viel zu klein sei, wie sie sagt. Familie. Der Hefeteig der Gesellschaft.
Irgendwer erzählt eine Geschichte von früher, die anscheinend lustig ist. Alle lachen, am lautesten Dagmar, Omas ehemalige Nachbarin aus Hochdorf, deren Organ eine Art Wiehern erzeugt, das den Tisch erbeben lässt.
Soso, denkt Wulf gelangweilt und beobachtet weiter das Tier auf dem Fensterbrett. Es ist schwarz mit einem kleinen weißen Fleck auf der Brust.
Eine Mutter sieht doch, was ihr Kind denkt: Der Junge fühlt sich nicht mehr wohl daheim. Es ist eine Schande! Wie er dasitzt, wo alle fröhlich sind, und keine Miene verzieht, was hat er sich verändert! So viel muss passiert sein in den Jahren im Osten. »In Mitteldeutschland!«, hätte er sie früher korrigiert. Aber heute sagt er gar nichts mehr, und er erzählt auch nichts von seiner Zeit in Thüringen und Sachsen. Sie kommt nicht mehr an ihn heran.
Er denkt wohl, sie würde ihn nicht verstehen. Dabei ist sie ihres Vaters Kind, und deshalb versteht sie Wulf vielleicht besser, als er es selbst tut: nämlich dass ihr Vater den Enkel mit seinem ewigen »Deutschland über alles« angesteckt und ihn von klein auf ganz verrückt gemacht hat. Andauernd haben sie zusammengesteckt, und schon als der Junge noch die Grundschule im Löscher besuchte, war es immer nur um den Krieg gegangen. Wie hat sie das gehasst! Das ist doch alles lange vorbei, Gott sei Dank!
Wie versteinert sitzt er jetzt da. Sie erinnert sich an die Bücher, die sie unter seinem Bett gefunden hat, da war er 17. Verbotene Bücher. Bestimmt von dem alten Sturkopf. Später, als das dann groß im Fernsehen war mit diesen rechten Terroristen und ihren Morden und sie überall nach Unterstützern suchten, da war ihr erster Gedanke gewesen: Hoffentlich hat mein Wulf damit nichts zu tun! Bloß damit nicht! Sie weiß, wie er über Ausländer denkt. Und sie spürt auch, dass er immer noch so ist, auch wenn er nichts sagt. Diese neue Partei, von der sie im Fernsehen dauernd reden, wahrscheinlich ist sie ihm noch zu wenig radikal. SDV - »Stimme der Vernunft«, was für ein Name!
Wie hat sie gehofft, dass sich das einmal auswachsen würde bei ihm mit diesem rechten Zeug. Aber es scheint eher schlimmer geworden zu sein, heute sagt er überhaupt nichts mehr, wenn Matthias und die anderen mit ihrer ewigen Politik anfangen; das ist kein gutes Zeichen. Wenn sein Vater noch leben würde .
»Ich geh kurz an die frische Luft«, sagt er. Nur Mutter scheint ihn gehört zu haben, sie nickt ihm aufmunternd zu. Wulf schiebt sich an der reichhaltig gedeckten Tafel vorbei zur Tür hinaus und setzt sich in den Wagen. Ziellos fährt er umher, erst in Richtung Asperg, dann nach Tamm. Vor Markgröningen hält er. Draußen ist es überraschend mild, sodass er tatsächlich ein paar Schritte geht. Am Leudelsbach entlang, hier kann man wandern bis zur Enz, auf der im Sommer die Kanus verkehren. Ihn packt der Ehrgeiz, und er hält sich nach einer Kehre scharf rechts, klettert einen ehemaligen Weinberg empor; steil geht es eine Art Heidelandschaft hinauf, alle Gewächse am Boden wirken bleich und verwaschen wie ein schlecht gemaltes Bild. Er kommt ins Schwitzen.
Oben im Wald sieht er die Sonne in dem dramatischen Schauspiel hinter bunten Blättern untergehen, wie es nur der hiesige Herbst bereithält, und die letzte feuchte Lauheit wird bald empfindlicher Kälte weichen. Zerschleißende Nebelschwaden öffnen sich hier und da dem jähen Blau des Himmels. Nach gut fünf Minuten ist der Waldrand wieder erreicht. Vor ihm liegen weite, abgeerntete Felder, auf denen sich die Krähen gütlich tun, und hinten, am Horizont, verblasst die Stadt, eine kobaltfarbene Fläche, die mit dem Blaugrau der tief hängenden Wolken und dem Hohenasperg im Vordergrund verschwimmt. Mit jedem Schritt und der frischen Luft fühlt Wulf sich besser. Auf dem Rückweg, inmitten einiger Weinberge ist es - nur einige steile steinerne Treppen und Holzhäuschen unterbrechen die Regelmäßigkeit der Rebenreihen, darüber die bewaldeten Hügel -, als ihn die Rührung übermannt: Heimat!
Im Tal die Kläranlage, doch vor seinem geistigen Auge leuchten dort unten Kirchtürme über malerischen Dörfchen, es scheint ihm mit einem Mal schlagend, dass man sie im hiesigen Sprachgebrauch einst »Flecken« nannte. Wulf sieht sich die brennenden Augen aus, bis ihn gnädiges Dämmerlicht umgibt.
Der Spaziergang dauerte länger als gedacht; ihn zieht auch wenig zurück. Vor dem Haus im Bornrain ist es bereits tiefe Nacht. Der Regen fällt wieder in der gewohnten Intensität. Auf seinem Parkplatz stehen zwei Wagen der Caritas, sogenannte Bufdis sind gekommen, die zwei der alten Damen nach Hause ins Heim bringen werden. Onkel Matthias steht mit einem jungen Mann in bunt kariertem Jackett vor der Tür, er raucht.
»Wulf, da bist du ja! Das ist Volker, der Mann von Dagmars Jessica, aus Frankfurt. Lass dir von ihm erzählen, wie man mal eben zu ein paar Millionen kommt! Hochinteressant!« Matthias klopft ihm kurz auf die Schulter, drückt seine Zigarette aus und geht zurück ins Haus.
Unschlüssig steht Wulf vor dem jungen Millionär. An Dagmars jüngste Tochter erinnert er sich vage, sie hat in Hochdorf im Hof gespielt, wenn er sonntags nach einer durchzechten Nacht bei Oma nach dem Rechten gesehen hat. Dass sie inzwischen im heiratsfähigen Alter sein soll, überrascht ihn: Wie die Zeit vergeht .
Allzu viel älter als 30 ist ihr Gatte nicht. Die Nacht steht unbewegt in der ruhigen Seitenstraße. Kalt faucht der Wind durch das Gebälk der offenen Holzgarage.
»Ja, ich gehöre zu den Gewinnern der Finanzkrise«, stellt er sich vor, grinst und gibt ihm die Hand. »Ich bin ein Shorty.« Wulf runzelt die Stirn, der Typ zieht an seiner Nelkenzigarette und erklärt ungefragt: »Das sind Leute, die an der Börse auf fallende Kurse setzen.«
»Damit kann man Geld verdienen?«
Der andere lacht. »Der war gut! Gerade geht es wieder runter, seit Monaten. Die Kurse fallen, weltweit; der DAX hat in kurzer Zeit über 20 Prozent verloren. Noch vor fünf Jahren stand er bei über 12.000, zurzeit dümpelt er unter 9.000. Die Liste der Verlierer ist lang, und lauter große Namen stehen drauf. Ich aber habe in dieser Zeit um die 12.500 Prozent Rendite gemacht! Das ist, was man einen Shorty nennt.«
Wulf schaut sich diesen Volker genauer an. Frankfurt, solche kennt man ja zur Genüge! Nur klein ist er nicht. Das Geld sieht man ihm nicht an, er wirkt wie ein durchschnittlicher Student in einem teuren, aber zu weiten Jackett. Gut, seine Armbanduhr ist sicher nicht billig gewesen, er trägt bestimmt Markenware, aber vor allem ist sein Äußeres betont unauffällig. Die widerliche Nelkenzigarette ist das einzig Ausgefallene.
»Weißt du«, plaudert er weiter, »auf der einen Seite des großen Börsenspiels stehen die unverbesserlichen Optimisten, auf der anderen die Schwarzseher, also die Realisten. Leute wie ich. What has come up, will have a fall. Das ist das mit den Bären und Bullen, wirst du kennen.«
Der Typ erinnert weder an das eine noch an das andere, der Wohlstandsspeck fehlt. »Du wirkst gar nicht pessimistisch«, sagt Wulf, um überhaupt etwas zu sagen. Ihn interessiert nur, wie er das unliebsame Gespräch schnell beendet. Den Wirtschaftsteil der Zeitung verwendet er höchstens, um nasse Stiefel auszustopfen. »Man scheint davon leben zu können .«
Der Junge merkt, dass sein Gegenüber das Thema nicht interessiert, und sagt: »Übel, das mit dem Anschlag in Frankreich, nicht? In dem Viertel war ich schon, letzten Herbst.«
Wulf brummt: »Ja, schlimm, was die sich herausnehmen!«
Der andere lacht. »So kann man das auch sehen. Aber was willst du tun?«
Wulf denkt an Sven, den Idioten, und an den Kerl im Wald. Was ich tun will? Wenn nur zehn von einer Million so genau wüssten wie ich, was zu tun ist, stünde es anders um dieses Land! Er winkt ab und wechselt das Thema, am besten wieder die Börse. Er darf keinen Verdacht auf sich lenken. Deshalb faselt er etwas vom Euro und Griechenland und gratuliert zum leicht verdienten Geld.
»Leicht verdient? Mann, du hast keine Ahnung! Du bezahlst mit deinem Leben! Vier Jahre gab es nur die Märkte für mich. Keine Freundin, kein Sport, kein Buch, kein...
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