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Es gab Wintertage in Villagarcía de Arousa, da brüllte das Meer all seinen Zorn aus sich heraus und schien sich an den Menschen rächen zu wollen, weil sie es für ihre eigenen Zwecke ausbeuteten. Tage, an denen der Südwestwind zwischen den Häusern heulte und tobte und die kurzen, steilen Wogen draußen auf dem Ría einen irrsinnigen Kampf darüber austrugen, welche von ihnen sich als erste auf den Strand stürzen durfte. Tage, an denen man das ohrenbetäubende Grollen der gewaltigen Dünung zu hören glaubte, die unablässig auf die Felsenhänge weiter im Westen hämmerte.
An solchen Tagen wurde Rosa Moreno von Furcht überwältigt. Sie stand hinter einer Häuserecke, ein Platz, von dem aus sie auf das weiß schäumende Wasser blickte, und fragte sich, ob sie in ihrem Leben noch jemals fortgehen würde. Ob sie also überhaupt jemals zu leben wagen würde.
Solange sie denken konnte, hatte sie diese brennende Sehnsucht in sich gespürt. Was konnte sie? Außer vier Semestern Jura hatte sie nicht viel vorzuweisen. In dem Café, in dem sie arbeitete, behaupteten manche, sie habe Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, sie, Rosa Moreno, habe das Lächeln der Bergman.
Möglich war es. Sie war mit dem Zug nach Vigo gefahren, um sich einen Film mit Ingrid Bergman anzusehen, aber sie war nicht Ingrid Bergman und würde es niemals sein. Vielleicht hatte sie ihr Lächeln, aber das war alles. Sie war nicht dumm, aber wen interessierte das? Was allein zählte, war, dass man die Beste war, und sie wusste mit absoluter Sicherheit: Das war sie nicht. Sie war beliebt bei den Gästen des Cafés, das schon, und vielleicht würden sie sie sogar eine Zeit lang vermissen, wenn sie kündigte. Doch sie würden ihretwegen nicht in ein anderes Café gehen, und was nützte es ihr, wenn man sie eine Zeit lang vermisste? Die Schmerzen, die sie im Körper und in ihrer Seele empfand, konnte es nicht lindern.
Wenn sie sich selbst für den Rest ihres Lebens im selben Lokal stehen, das gleiche Bier servieren, die gleichen Scherzworte rufen hören, die gleichen Scheiben jámon serrano abschneiden sah und dazu die immer gleichen Kommentare über all die Fußballspiele im Fernsehen hörte, dann war ihr, als werde alles schwarz um sie herum, als habe es gar keinen Sinn zu leben, sosehr sie sich auch bemühte.
Am schlimmsten war es an jenen Tagen, an denen eine Laune des Wetters die Fischerflotte von Villagarcía zwang, im Hafen zu bleiben, nicht nur die großen Trawler, die auf die offene See hinausfuhren, sondern auch die kleinen, flachen Boote, die nur ihre viveros absuchten, ihre Muschelbänke, die wie ein Flickenteppich im normalerweise ruhigen Wasser des Ría lagen. Dann duckten sich die Fischerboote wie erschrockene Hühner hinter dem Pier, der von weißem Schaum überspült wurde. Die Fischer lehnten wie sie selbst an den Häuserecken und taten nichts als warten.
Denn so war es einfach. Wenn im Winter der Sturm aus Südwesten kam, hörte in Galizien das Leben auf. Als hätte man die Nachrichten im Fernsehen einen Augenblick auf dem unscharfen Bild eines Bankräubers angehalten. Wer?, fragte sich Rosa Moreno. Wer trug die Verantwortung? Sie selbst, Gott, die Sterne oder irgendjemand sonst?
Sie hoffte, dass der Sturm sich bald legen werde, damit sie noch zusehen konnte, wie sich die Fischer aufs Meer hinauskämpften, ehe sie selbst ihren Dienst im Café antrat. Sie wollte sehen, wie sie die Leinen losmachten und auf den Horizont zufuhren. Mit eigenen Augen musste sie sehen, dass zumindest ein paar Menschen die Freiheit besaßen, zu kommen und zu gehen, wie sie wollten.
Sie sah auf die Uhr. Bald musste sie los. Gerade wollte sie sich umdrehen, als sie hinter der Nordspitze der Isla Arousa den Bug eines Schiffs sah. In das eingefrorene Standbild kam Leben. Die Fischer traten einen Schritt vor, um zu sehen, was für ein Schiff es war, das sich da offensichtlich auf dem Weg in ihren Hafen befand, um Schutz zu suchen. Sie alle wussten, dass Schiff und Mannschaft um das nackte Überleben gekämpft haben mussten, ehe sie in den Ría Arousa einfuhren.
Rosa Moreno blieb stehen, wo sie gerade stand, obwohl sie sich auf den Weg zum Café hätte machen müssen. Der schwarze Rumpf stampfte und rollte in der unruhigen See. Sie hielt den Atem an. Auch ihr war klar, dass es kein Kinderspiel war, ein Schiff bei Südweststurm in den Hafen von Villagarcía zu legen. Erst in der vergangenen Woche war vor La Coruña ein Tanker auf Grund gelaufen - dann war er entzweigebrochen, explodiert und hatte das Meer in Brand gesteckt. Und drei Wochen vorher war ein dänisches Schiff vor Kap Finisterre aufgelaufen und hatte den größten Teil der Besatzung mit in die Tiefen des Atlantiks gerissen. Vor den Gästen war sie im Café in Tränen ausgebrochen, als sie im Fernsehen gezeigt hatten, wie die Rettungsmannschaften den Steuermann und drei andere Besatzungsmitglieder an Land brachten.
Die Gäste hatten sie fragend angesehen, und einer hatte schließlich gefragt, warum sie weinte. Sie hatte gesagt, dass sie an ihren Bruder denken musste. Dass sie auch um ein paar Dänen und ein Dutzend Filipinos weinte, die für immer von dieser Erde verschwunden waren, sagte sie lieber nicht. Niemand hätte es verstanden.
Das Schiff draußen auf dem Ría kam näher. Jetzt, wo es ruhigeres Wasser erreicht hatte, stampfte es weniger. Aber die Wellen waren kabbelig und schickten Wasserkaskaden bis hinauf zur Kommandobrücke. Sie kniff die Augen zusammen. Träumte sie, oder stand dort ein Mensch auf der Brücke? Natürlich, ein Mann. Im Hemd.
Sie eilte zum Hafen hinunter, denn eigentlich hatte sie jetzt wirklich keine Zeit mehr. Sie ging so weit hinaus auf den Pier, wie sie es wagen konnte, ohne fürchten zu müssen, dass sie durchweicht oder einfach ins Meer gewaschen wurde.
»Er hat nur eine Chance«, hörte sie einen der Fischer sagen. »Wenn er die Leinen nicht gleich beim ersten Mal belegt, treibt er durch das Hafenbecken. Gott weiß, was dann passiert.«
Was redeten die? Sie ballte erschrocken die Fäuste, dass die Knöchel weiß wurden.
Zwei Fischer kämpften sich durch den Wind und die Wasserkaskaden bis zum Vertäuungspoller ganz draußen auf dem Pier vor. An Land musste jemand mit den Leinen helfen, wenn alles gut gehen sollte. Wie gern hätte sie geholfen! Aber sie wäre ja doch nur im Weg gewesen.
Jetzt war der Mann auf der Brücke deutlich zu erkennen. Zu ihrem Erstaunen sah sie, dass er gelassen lächelte. Konnte das denn wahr sein? Ja, der Kapitän, falls es der Kapitän war, sah gerade so aus, als wäre das Ganze nur ein Spiel für ihn. Mit einem Mal legte sich ihre Furcht. Mit einem Mal war sie sich sicher, dass dem Schiff nichts geschehen würde.
Sie hob den Arm halb und winkte schüchtern.
»Meinst du, der Kapitän hat jetzt Zeit, an Weiber zu denken?«, rief einer der Fischer, und die anderen lachten laut.
Rosa Moreno hörte kaum, was sie sagten. Sie verfolgte die geringste Bewegung des Kapitäns mit dem Blick, und mitten in all dem Trubel schien er sie tatsächlich gesehen zu haben. Sie traute ihren Augen nicht: Der Kapitän hob den Arm und winkte zurück.
»Ein Mädchen in jedem Hafen«, brüllte Pedro gehässig. »Hab gar nicht gewusst, dass es solche Mädchen in Villagarcía gibt.«
Ebenso gut hätte er sie Hure nennen können. Nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hätte. Wichtig war nur, dass sie dem Kapitän aufgefallen war und nicht bloß irgendeine unbedeutende Zweiundzwanzigjährige war, die nutzlos auf dem Kai stand, während alle anderen herumrannten und ihre Arbeit taten.
Plötzlich befand sich der Bug des Schiffs auf gleicher Höhe mit ihr. Ging das nicht zu schnell? Sie hörte die Maschine aufbrüllen und sah, wie der Rumpf bebte, als der Kapitän volle Kraft zurück befahl. Zwei Führungsleinen wurden vom Bug und von achtern geworfen, sie ringelten sich durch die Luft und landeten genau vor den Füßen der Fischer, die auf dem Pier bereitstanden. Sie holten ein, als sei ihr letztes Stündlein gekommen. In der Klüse tauchten jetzt die großen Trossenschlaufen auf, und es dauerte nicht lang, bis sie um die Poller lagen und sich mit den Bewegungen des Schiffs streckten. Sobald es am Kai stilllag, wurden weitere Führungsleinen geworfen und neue Trossen an Land gezogen und belegt. Binnen weniger Minuten war das Schiff eingesponnen in ein Spinnennetz aus Tauen, die so straff gespannt waren, dass sie zitterten. Aber es lag sicher. Und die ganze Zeit hatte der Kapitän ungerührt auf seiner Brücke gestanden. Rosa Moreno war ganz sicher, dass er ihr ein besonderes Lächeln zuwarf, als alles beendet war.
»Teufel auch!«, rief einer der Fischer und warf bewundernde Blicke hinauf zur Brücke. »Und ohne Schlepper!«
Rosa Moreno freute sich für den Kapitän. Sie allein hatte recht behalten, und die anderen hatten sich getäuscht.
»Du bist hier?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um. Es war Mario.
»Hättest du nicht schon vor einer Viertelstunde bei der Arbeit sein sollen?«
Sie nickte, sah aber vielsagend hinüber zum Schiff.
»Ich sehs«, sagte Mario. »Aber Mercedes wartet auf die Ablösung. Ich denke, das ist wichtiger als ein Schiff, das zufällig nach Villagarcía kommt. Du nicht?«
Rosa...
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