Schweitzer Fachinformationen
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Es war der 18. Januar 1990. Eine steife Brise, die bisweilen Sturmstärke erreichte, fegte mit schweren Regenschauern von Südwesten heran.
Die Järnvägsgatan, eine Straße am Hafen von Limhamn auf der schwedischen Seite des Sunds, lag verlassen da, nur ab und zu spiegelte sich das Scheinwerferlicht eines Autos in Schaufensterscheiben und lag glänzend auf dem nassen Asphalt.
Mit dem Wind im Rücken ging es sich leicht. Die schwersten Böen schoben mich förmlich auf mein Ziel, den Fähranleger, zu. Nicht, dass ich es eilig gehabt hätte. An einem Donnerstagabend im ersten Monat des Jahres gab es keine Warteschlange, die Fähren legten halb leer ab. Und der Wartesaal war alles andere als einladend.
Obwohl mir Warten im Grunde nichts ausmachte. Ich hatte es allmählich gelernt, und manchmal gelang es mir zu vergessen, dass mir die Zeit ziemlich sinnlos durch die Finger rann. Ich war viel in Bewegung, aber das änderte nichts an dem Gefühl vergeudeter Zeit. Immer gab es etwas zu tun, etwas, was beendet werden musste und keinen Aufschub duldete. Und stets waren es andere, die mir Fristen setzten.
Meine Übersiedlung nach Dänemark war ein erster Versuch gewesen, dieser Tretmühle zu entkommen. Ich arbeitete aber weiter in Schweden, und nach wie vor war die Stechuhr das Maß meines Lebens. Ich pendelte nur immer hin und her, ich kam niemals irgendwo an.
Jahraus, jahrein war ich dreimal in der Woche über den Sund gefahren. Die einzige Abwechslung bestand in den unterschiedlichen Fährverbindungen, die ich benutzen musste, je nachdem, wo sich mein »Zuhause« gerade befand. Denn ich wohnte auf einem Segelboot, das in Häfen zwischen Helsingör im Norden und Dragör im Süden lag.
Den Winter über, wie jetzt, machte ich in Dragör fest, einem der wenigen Häfen, in denen das ganze Jahr über Leben herrschte. Lotsen, Fischer und Fähren, die zu jeder Jahreszeit fuhren, vertrieben mir die Einsamkeit. Im Sommer dagegen wechselten mein Schiff und ich ständig den Liegeplatz. Die Rustica, so hieß es, hatte keinen festen Heimathafen.
Für die Behörden hatte mein unstetes Leben mich zum »Grenzgänger« gemacht, zu einem, der in einem Land wohnt und in einem anderen arbeitet. Ich selbst hielt mich eher für einen Zugvogel, den man zu lange gefüttert hatte. Andere als Staatsgrenzen überschritt ich jedenfalls nicht. Dennoch hatten die tägliche Überfahrt und das Gefühl, ausgewandert zu sein, einen gewissen Reiz für mich, und gelegentlich ließ ich mich zu der Hoffnung verleiten, dass alles sich ein wenig verändert haben könnte, wenn ich die Fähre verließ und an Land ging. Natürlich wurde ich immer enttäuscht.
Immerhin war an diesem Abend eine kleine Neuigkeit zu erwarten. Die Fähre Ofelia war vollständig überholt und als Königin des Öresunds wieder in Dienst gestellt worden. Es war meine erste Fahrt auf dem umgebauten und in den Adelsstand erhobenen Schiff, und ich war neugierig darauf, wie es mir gefallen würde. Da ich vier dunkle Monate im Winterhafen von Dragör vor mir hatte, war das bei meinen ständigen Fahrten durchaus eine Frage von echtem Interesse. Wenn sich Eis bildete, konnte ich die Rustica nicht mehr in einen anderen Hafen mit einer anderen Fährverbindung über den Öresund verlegen.
Bis dahin hatten wir einen milden Winter gehabt. Im Dezember hatte es einige Tage geschneit, aber der Schnee war nicht liegen geblieben. Nur in einer Nacht war das Thermometer unter zehn Grad minus gefallen, sonst hatte es sich um null Grad bewegt. Grau war es gewesen, graue Luft mit viel Regen und Wind, und zweimal hatten wir Wind in Orkanstärke gehabt, der Flughafen Kastrup hatte 37 Sekundenmeter gemeldet. Am nächsten Tag waren die Anlegebrücken im Hafen überflutet gewesen, und ich konnte nicht an Land gehen. Kurz, wir erlebten einen typischen südschwedischen und dänischen Winter: feucht, rau, düster und trist.
Was sich rasch ändern konnte. Glaubte man den Fischern, konnte man erst nach dem 15. Februar sicher sagen, dass dies ein eisfreier Winter sein würde, und bis dahin war es noch ein guter Monat. In den letzten Tagen war das Wetter außerdem sehr wechselhaft gewesen, am Vortag schneidender Nordwind, nun eine feuchte Brise aus Südwest. Den ganzen Tag über hatte es geregnet, was darauf hindeutete, dass die Wetterfront uns bald passiert haben müsste und dass der Wind umschlagen würde nach West- oder Nordwest. Es lag eine Unbeständigkeit in der Luft, die mich nicht unberührt ließ. Nichts schien mir mehr sicher oder gewiss.
Ich war darum auch nicht sonderlich erstaunt, als ich zum Fähranleger kam und feststellte, dass der Warteraum völlig menschenleer war. Es war noch nie vorgekommen, dass ich der einzige Passagier war, aber bei meinen ungewöhnlichen Fahrzeiten hatte ich mir schon häufiger vorgestellt, dass der Fall eines Tages eintreten könnte. Ich fragte am Fahrkartenschalter, ob die zur Majestät gewordene Ofelia wirklich fahren würde.
»Wieso nicht?«, lautete die Antwort.
»Ich dachte nur. Wo sind denn die anderen?«
»Welche anderen?«
»Die Passagiere.«
»Wahrscheinlich kommen keine mehr«, sagte der Fahrkartenverkäufer. Seinethalben konnten die Fähren immer leer fahren.
Aber er hatte sich geirrt. Als der Zweite Steuermann meine Fahrkarte lochte, hörten wir rasche Schritte. Wir drehten uns beide gleichzeitig um, um uns den Nachzügler anzusehen. Ein großer Mann in mittleren Jahren, mit roten Haaren, in dunkler Seemannsjacke, Pullover und Gummistiefeln.
»Wartet ihr auf mich?«, fragte er auf Englisch. Dem Akzent nach stammte er aus Schottland oder Irland, dachte ich.
Ich sah den Steuermann an, der keine Miene verzog.
»Ich hab schon gedacht, ich hätte die ganze Fähre für mich allein«, antwortete ich.
»Wir sind die Einzigen?«, fragte der Mann.
Er griff in sein zottliges Haar und kratzte sich.
»Das Wetter ist schlecht«, sagte der Steuermann. »Da bleiben die Leute zu Hause. Sie und ein paar Fernfahrer sind die Einzigen.«
Der Fremde lächelte.
»Eine ganze Fähre für uns allein.«
Er ließ seine Fahrkarte lochen. Wie ich zufällig bemerkte, war es eine einfache Fahrt.
Hinter uns schlug die Tür zu.
»Kann ich dir Gesellschaft leisten?«, schlug er vor, und seine Worte hallten zwischen den Stahlwänden. »Wenn du nichts Besseres vorhast?«
»Nicht das geringste«, sagte ich sofort.
Er sah aus wie ein Seemann oder ein Fischer. Aber etwas an seiner Haltung, an seiner selbstsicheren Art sagte mir, dass sein Platz eher auf der Brücke war als an Deck oder im Maschinenraum.
»MacDuff«, sagte der Fremde und hielt mir die Hand hin, während wir über den Steg gingen.
»Ulf«, murmelte ich.
»Schön, dich kennenzulernen, Ulf«, sagte er. »Wie wärs mit einem Bier?«
Mir fiel auf, dass er meinen Namen sofort benutzte. Mit Schweden und Dänen kann man Stunden verbringen, ohne zu sagen, wie man heißt. Und wenn man dann doch seinen Namen nennt, ist es keineswegs sicher, dass ihn irgendjemand behält.
Später habe ich begriffen, dass Namen in Schottland und Irland bedeutsamer sind als bei uns, was vielleicht auf eine tausend Jahre alte keltische Tradition zurückgeht. Die Anonymität war für die Kelten gleichbedeutend mit dem Tod, und einen Namen zu vergessen hieß, den zu töten, der ihn trug.
Ich schlug MacDuff vor, in den »Öresundskrug« auf dem Oberdeck zu gehen. Glaubte man den Zeitungen, so war er nicht umgebaut worden, sondern sah mit seiner Einrichtung aus rotbraunem Mahagoni und glänzendem Messing aus wie früher. Ein einsamer, einsilbiger Kellner war für die Bedienung zuständig. Er servierte uns je ein Sorte Guld, bekam sein Geld und ließ sich nicht mehr blicken.
MacDuff und ich sahen einander an.
»Wo kommst du her?«, fragte ich. »Aus Schottland?«
»Warum?«
Es war, als hielte er die Frage für nicht ganz harmlos. Mein erster Eindruck war, dass ich es hier mit einem Menschen zu tun hatte, der sehr auf der Hut war. Aber ich konnte mir das natürlich auch nur einbilden. Eine meiner vielen Schwächen war, dass ich oft zu früh zu viel zu wissen glaubte.
»Kommen nicht alle Macs aus Schottland?«, sagte ich. »Heutzutage nicht mehr«, sagte MacDuff, und es klang fast verächtlich.
»Dein Akzent ist jedenfalls weder amerikanisch noch englisch«, stellte ich fest.
»Nein, Gott bewahre. Ich bin Schotte. Geboren und aufgewachsen auf der Isle of Lewis. Falls du weißt, wo das ist.«
Ich nickte. Ich wusste es wirklich. Ich erzählte ihm, dass ich schon seit Jahren einmal nach Schottland segeln wollte und dass ich viele Stunden mit dem Studium von Seekarten und Lotsenbüchern von Schottland, den Hebriden und Irland zugebracht hatte.
Begeistert und mit aufrichtigem Stolz sprach MacDuff von den Hebriden. Nach seinen Worten musste dort das Paradies auf Erden sein. Sie waren seine Heimat, und es war unverkennbar, dass er wusste, wohin er gehörte und warum. Und ich, der niemals über irgendwelche Wurzeln verfugt hatte, weder geografische noch familiäre, beneidete ihn umso mehr, je länger er erzählte. Für mich waren mein Land und mein Volk,...
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