Schweitzer Fachinformationen
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Siehst du, es schlägt noch. Ada löste die Fingerkuppen von ihrer Halsschlagader und ließ die Hand sinken, nicht zu weit, nur bis zum Schlüsselbein. Sie starrte durch das staubige Fenster auf die Straße. Die blasse Februarsonne spielte den Passanten auf dem Bordstein ihre Schatten zu, synchron und maßstabgerecht, jedem sein Quentchen Schablonenschwarz. Alles, wie es sich gehörte, zumindest draußen, selbst die fetten Tauben schleppten ihre kleinen Schatten durch den Rinnstein, in dem der letzte Schnee versickerte. Es war beinahe still in dem kleinen Raum. Nur das Blubbern der Aquarien war zu hören. Und ab und zu das Summen des Kühlschranks aus der Küche. Ada wusste nicht, wie lange sie schon im Pyjama am Fenster stand und auf dem Ende ihres Zopfs herumkaute, das nach Shampoo schmeckte und Rauch, sie wusste nur, dass es lange sein musste, dass es Zeit war, die kalten Füße zu bewegen und den Tag zu beginnen. Stattdessen zerknautschte sie mit der linken Hand die künstliche Kopfhaut ihrer blonden Kurzhaarperücke. Sie hatte sie zum Proben aufsetzen wollen und es dann vergessen. Das kam öfter vor in letzter Zeit, dass ihre Vorhaben sich in ihren Gedanken verhedderten.
Aus dem Augenwinkel konnte Ada das Stethoskop sehen, das zusammengerollt auf dem Tischchen neben dem Fenster lag. Nicht, dachte sie, nicht schon wieder. Sie lehnte ihre Stirn gegen die kühle Scheibe und versuchte, die Schatten auf dem Asphalt zu zählen. Doch die Schatten verschoben sich ständig, weshalb sie es mit den Laternen versuchte, den Autos, Antennen, Passanten, aber ihr Blick rutschte ab und ab und ab am glatten Glas und verfing sich im schwarzen Plastikschlauch des Stethoskops.
Das Herz eines Walfischs, dachte Ada, ist so groß wie ein VW-Käfer; ungeheuer stabil musste ein solches Herz sein. Ob je ein Walfisch einen Herzinfarkt erlitten hatte, fragte sie sich, und wie das aussehen mochte, wenn solch ein Koloss sich vor Schmerzen krümmte und auf den Meeresboden sank, mit der Schwanzflosse Sand aufwirbelte und schließlich reglos liegen blieb. Ada schloss die Augen. Da war wieder diese Taucherglocke aus trübem Glas, die sie vom Tag trennte, die ihr den Kopf und das Atmen schwermachte. Dieses taumlige Gefühl, wie manche es haben, wenn sie aus dem Tiefschlaf gerissen werden und die Bilder im Kopf noch stärker sind als das, was die müden Augen wahrnehmen. Ada hob ihre rechte Hand auf Brusthöhe, hielt sie einen Moment so und schaute sie an: Die Hand zitterte. Und wenn die Hand jetzt schon zitterte, dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die Taucherglocke ihr den Kopf unter Wasser drückte, tief in ihr eigenes Angstwasser hinein. Und während sie von außen betrachtet, etwa von einem der gegenüberliegenden Fenster aus, nur aussehen würde wie eine junge Frau, die etwas starräugig den Tauben auf dem Gehsteig zusah, würde sie innerlich strampeln gegen den Druck in die Tiefe. Und es wäre ihr nicht anzusehen, dieses Unterwasserstehen und das Ringen nach Luft, nicht von einem der gegenüberliegenden Fenster aus und auch nicht aus der Nähe; denn selbst jemand, der neben ihr gestanden hätte, ganz nahe, so nahe, dass er die trockenen Hautschüppchen auf ihrer Lippe hätte sehen können, die sie noch nicht abgebissen hatte, selbst so jemand hätte nur etwas irritiert gefragt, woran sie denke.
Ada ließ die Zitterhand auf ihren Oberschenkel sinken. Und wenn schon, so weit wirst du es heute nicht kommen lassen. Zieh dich an, fang an mit deinem Tag, fang irgendetwas an, und hör auf, in dich hineinzufallen.
Sie versuchte, an etwas Beruhigendes zu denken. An die Enten, unten im Hafenbecken, an die Weinreben, oben, in den windigen Tüllinger Hügeln, an die Zuversicht der wandernden Lachse, an all die frischgebackenen Brote in den Bäckereiregalen und daran, dass die anderen am Abend zu Besuch kommen würden, an dampfende Nudeln und Wein vom Bodensee. Aber eben, dachte sie, sterben bedeutet, nie wieder. Nie wieder Wind und Wein und frischgebackenes Brot, nie wieder Enten füttern, falsche Falten schminken, sich nie wieder stundenlang hässlich finden, den eigenen Speck zwischen den Fingern rollen, nie wieder dem Meer entgegenfahren, mit Sonnenbrand in den Armen eines Fremden erwachen und etwas nur sagen, weil es schön klingt. Nie wieder ein Zuhause vermuten irgendwo, nie wieder Fische beneiden um ihre Gleichgültigkeit. Sich nie wieder schuldig fühlen für Erfolge und daraufhin die Bühne meiden, nie wieder sich fürchten vor dem eigenen Mut und sich sagen: Morgen ist auch noch ein Tag. Überhaupt nie wieder etwas aufschieben können, mit Serien die Leere zerpixeln im Kopf, sich Folge für Folge hineinwarten in den Schlaf, den Tag nie wieder zu spät beginnen. Nie wieder die Mutter nicht anrufen, die Bewerbung nicht abschicken, sondern ein letztes Mal ringen nach Luft und dann: einfach stillstehen - stillliegen wohl eher -, mitten in einer Falschheit, einer Unfertigkeit womöglich; und das wäre mit Sicherheit das Schlimmste überhaupt: unfertig sterben; irgendwo auf halbem Weg abhandenkommen.
Ada schob ihre Hand in die Bauchtasche ihrer Pyjamajacke und ballte die Faust, als ließe sich das Zittern darin zusammenpressen. Sie fragte sich, ob eine Zigarette jetzt helfen würde, vielleicht, dachte sie, vielleicht hilft das Klicken des Feuerzeugs und das Knistern der Glut: eine Handvoll zu tun für sieben Minuten, immerhin.
Das Scheppern der Klingel riss Ada aus ihren Gedanken, sie zuckte zusammen. Im nächsten Moment aber schon erleichterte sie die bevorstehende Ablenkung.
Hinter der Milchglasscheibe der Wohnungstür zeichnete sich einer der Bordsteinschatten von eben ab, die Silhouette einer dicklichen Gestalt. Ada schaute auf ihre Hände. Das Zittern hatte aufgehört. Die Klingel hatte das Trennglas um ihren Kopf zerscheppert, und der Tag war wieder da, wie ein Gegenstand, auf den man unvermutet stößt, nachdem man überall vergeblich nach ihm gesucht hat.
Ada öffnete die Tür und blickte in ein faltiges, aber freundliches Gesicht.
»Fräulein Ada«, sagte der Mann, »nicht wahr, das sind Sie.«
Ada nickte.
»Matuschek«, sagte der Mann und rieb sich verlegen die Hände, »Sie müssten mich eigentlich kennen. Wir haben uns schon mal, also, mir gehört das hier.« Er machte eine ungeschickte Handbewegung Richtung Treppenhaus. Jetzt erinnerte sich Ada und wurde unruhig, sie rieb ihren rechten Fußrücken an der linken Wade warm.
»Ein schönes Haus«, sagte sie.
»Ja«, sagte Matuschek, »den Garten habe ich vierundneunzig eigenhändig, den hätten Sie vorher mal, ich kann Ihnen sagen, aber deswegen bin ich ja nicht, also ich sag's jetzt rundheraus.« Er holte tief Luft. »Ich nehme an, Sie wissen, worum es geht?«
Matuschek tat ihr leid. Trotzdem lächelte Ada und sagte: »Vielen Dank, dass Sie das mit der Klingel so schnell geregelt haben. Wollen wir uns vielleicht in den Garten setzen, mit einer Tasse Kaffee?«
Matuschek wehrte mit beiden Händen ab. »Ach«, sagte er, »das darf ich gar nicht, mein Arzt, wissen Sie, aber deswegen bin ich auch nicht - sehen Sie, Sie sind in Verzug, über drei Monate, Sie wissen schon, mit der Miete, und Sie haben ja auch nicht auf all die Briefe . also, das zwingt mir Maßnahmen auf, gewisse.« Er machte dabei ein Gesicht, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er sie geweckt hatte.
»Ärzte sind schlichtweg humorlose und genussfeindliche Menschen«, sagte Ada und schüttelte den Kopf, »die sind Einschüchterer von Beruf, Einschüchterer und Spaßverderber, allesamt.«
»Fräulein Ada«, sagte Matuschek gequält, »das gehört doch gar nicht, sehen Sie, es bleibt mir nichts anderes übrig, ich werde Ihnen das aufkünden müssen.« Er deutete mit dem Kinn in ihre Wohnung.
Ada verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich dachte, Sie hätten Verständnis für uns Künstler«, sagte sie, »für unser unregelmäßiges Einkommen.«
Matuschek seufzte. »Sehen Sie«, sagte er, »ich schätze das Theater, ich gehe da gerne, aber wir müssen halt alle, es tut mir leid, Fräulein Ada, Ende des Monats müssen Sie wirklich, sonst, eben, das macht dann Frau Sacher, meine Sekretärin. Aber wir müssen das ja nicht im Treppenhaus«, sagte er, »vielleicht ist es besser, wenn wir das drinnen -«
Mit einer Handbewegung, die sie gleichzeitig beruhigte und erschreckte, gab Ada der Tür einen leichten Stoß. Sie fiel langsam zu, leise klickend, gerade so.
Es tut mir leid, hätte sie gerne gesagt, das war Notwehr. Ich kann auf keinen Fall zulassen, dass Sie durch meine Wohnung stiefeln, womöglich noch ins hintere Zimmer, ich wäre nicht in der Lage, Ihnen das Geringste zu erklären. Aber Ada wusste, dass Matuschek das falsch verstanden hätte, dass er bis jetzt überhaupt alles hatte falsch verstehen müssen. Also schwiegen sie beide, atmeten, standen da für eine Weile, jeder auf seiner Seite der Tür, bis Ada schließlich davonschlich und sich in das Zimmer rettete, aus dem sie gekommen war.
Sie ging zum Fenster und öffnete es. Vielleicht würde frischer Stadtwind jetzt helfen. Kalte Februarluft schwappte ihr entgegen und griff zwischen die Fotos, Computerausdrucke und Zeitungsartikel, die mit Reißzwecken oder Tesafilm an der linken Zimmerwand angebracht waren und diese fast vollständig bedeckten. Eines der Blätter löste sich und segelte aufs Parkett. Ada bückte sich danach. Es war ein Bericht aus der Apothekenrundschau über Netzhautablösung. In wochenlanger Arbeit hatte sie diese Wand bepflastert, mit allem, was ihr Angst machte, alphabetisch geordnet von...
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