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Geleitwort
von Dr. Yuval Lapide
Schneller als gedacht ist die Zeit vergangen und das Jahr gekommen, in dem sich der Geburtstag meines Vaters am 28. November 2022 zum einhundertsten Mal jährt.
Ich bin dem Gütersloher Verlagshaus sehr dankbar, dieses Datum zum Anlass zu nehmen, bedeutende, nun aber leider schon längere Zeit vergriffene Schriften aus dem Werk meines Vaters noch einmal der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg, von 1967 bis zu seinem Tod im Jahr 1997, verfasste Pinchas Lapide eine Fülle von Aufsätzen, Monographien und Büchern, er gestaltete Dokumentationen für das Fernsehen und war in zahlreichen Hörfunksendungen zu vernehmen. Der Österreicher, der in den dreißiger Jahren aus dem antisemitischen Wien fliehen musste und erst im Exil zu seiner jüdischen Identität fand, wurde nach der Katastrophe des Holocaust mit dieser Arbeit zu einem der wichtigsten Ideengeber und Wegbereiter im beginnenden jüdisch-christlichen Dialog. Wie niemand sonst führte er zu seiner Zeit dem Christentum seine tiefe Verwurzelung in einem jüdischen Mutterboden vor Augen. Und nirgendwo wird diese Verwurzelung deutlicher als in der Herkunft und im Auftreten, in der Botschaft und im Geschick des Jesus von Nazareth, den Christen als den Erlöser bekennen. Es ist darum ebenso naheliegend wie weise, wenn dieser Band die wichtigsten Schriften meines Vaters zu der Persönlichkeit versammelt, die das Christentum als die prägende Gestalt seines Anfangs erinnert.
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Erwin Pinchas Spitzer wurde auf der legendären Mazzeinsel geboren, einem von Donau und Donaukanal begrenzten Gebiet innerhalb des zweiten Bezirks der österreichischen Hauptstadt Wien. In diesem Stadtteil lebten viele Familien jüdischer Herkunft, aber man geht fehl, wenn man annimmt, bei diesem Stadtteil habe es ich um eine jüdische Sonderwelt innerhalb der kosmopoliten Metropole an der Donau gehandelt. Es gab in der Stadt eine starke Tradition der bürgerlichen Assimilierung des Judentums. Die Eltern meines Vaters, Alexander Elijahu und Berta Sara Spitzer, meine Großeltern, vermittelten ihrem Sohn in der Familie und in der Synagoge die Grundlagen jüdischer Tradition, Religion und Bibelkenntnis, wie dies in einer jüdischen Familie dieser Epoche üblich war. Zugleich aber erfuhr mein Vater eine umfassende säkulare, schulische Bildung, wie sie bürgerlichen Bildungsschichten damals ihren Kindern angedeihen ließen, damit sie Anteil bekommen konnten an den Erfolgen, die die Zukunftserwartungen jener Zeit den Menschen versprachen. So empfand mein Vater in seiner Kindheit und frühen Jugend sein Judesein zunächst nur als ein unkompliziertes Merkmal in der pluralen Lebenswirklichkeit einer von Kunst und Kultur geprägten Weltstadt.
Dass er nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit in Wien wahrnahm, dass das Judentum keineswegs ein unkompliziertes, eher beiläufiges Merkmal seiner Familie und seiner Person war, sollte dem 16-Jährigen auf eine Weise zu Bewusstsein kommen, wie sie drastischer wohl nicht gedacht werden kann.
Antisemitische Positionen waren in Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts kein neues Phänomen. Wie überall in Europa, so hatte es auch im Österreich der Vorkriegszeit ein vor allem in bürgerlichen Kreisen subtil virulentes Ressentiment gegen »das Judentum« gegeben. Es entzündete sich vor allem am Aufstieg jüdischer Persönlichkeiten in Kunst und Kultur und am Erfolg jüdischer Familien in Wirtschaft und Handel. Juden wurden von den etablierten Eliten der K.u.K.-Monarchie als Konkurrenz wahrgenommen.
Antisemitismus und insbesondere der rassisch motivierte Antisemitismus wurde aber erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, nach dem Zerfall der Monarchie und des Reiches zu einem Massenphänomen. Dabei spielte auch eine Rolle, dass die Zahl der jüdischen Wiener sprunghaft stieg und das Judentum in der Öffentlichkeit anders wahrgenommen wurde. In den Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte es auf dem Balkan zahlreiche Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung gegeben. Viele z.T. sehr arme Familien waren daraufhin nach Westen geflohen in der Hoffnung, in der Hauptstadt der ehemaligen Monarchie, deren Bürger sie gewesen waren, ein neues zu Hause zu finden.
Dieser erhöhte Zuzug von jüdischen Bürgern verstärkte das Ressentiment und trug es auch in Schichten der Gesellschaft, die mit den Neuankömmlingen in einer unsicheren Zeit um Wohnung, Arbeit und Auskommen konkurrierten. Demagogen wussten, diese Unsicherheit für ihre Zwecke zu nutzen. Vertreter der politischen Parteien und auch die in Österreich mächtige Katholische Kirche traten vermehrt gegen das Judentum auf und bedienten sich dabei z.T. offen antisemitischer Klischees. Die Weltwirtschaftskrise verschärfte ab 1929 die Polemik gegen die Juden, die als Vertreter des »raffenden« Kapitals verunglimpft wurden, das dem »schaffenden« Kapital der Nichtjuden die Entfaltungsmöglichkeiten nehme. Als 1934 die österreichische Demokratie unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und nach dessen Ermordung Kurt Schuschnigg zu einem autoritären Staat umgeformt wurde, wurden die Juden mehr und mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Mein Vater, behütet und eingebettet in die wohlgeordnete Welt einer bürgerlichen Familie, hat das zwar wahrgenommen, aber - wie es das Recht der Jugend ist - nicht unmittelbar als bedrohlich für ihn erkannt haben. Um wieviel größer war dann der Schock, als ihn die destruktiven Kräfte der veränderten Wirklichkeit mit voller Härte trafen.
Nach dem »Anschluss Österreichs« an das Deutsche Reich am 11. März 1938 begann unmittelbar die staatlich orchestrierte Eliminierung der jüdischen Kultur und der Juden in Österreich. Im November 1938 wurde mein Vater verhaftet und wie 6.500 andere Juden Österreichs auch in ein Konzentrationslager gebracht. Es gelang ihm jedoch auf abenteuerliche Weise, dem höllischen Ort bei Bratislava, an den man ihn verfrachtet hatte, zu entkommen. Über Polen gelang ihm die Flucht nach Großbritannien und von dort 1940 ins damals noch britische Mandatsgebiet nach Palästina.
Aus dem Jugendlichen, der erwartet hatte, als Bürger eines kultivierten Landes in Europa eine geachtete Existenz führen zu können, war ein Heimatloser geworden. Heimatlos aber nicht nur in der Hinsicht, dass er das Land seiner Kindheit hatte verlassen müssen, um sein Leben zu retten. Heimatlos noch in einem viel tieferen Sinn: Man hatte ihm seine Identität geraubt. Das, was er meinte zu sein, hatte man ihm abgesprochen, den Weg, den er vor sich gesehen hatte, hatte man ihm abgeschnitten. Erwin Pinchas Spitzer, diesen Menschen, der in seinem Namen schon die Verbindung zweier Welten vereinigte, den gab es so nicht mehr. Wer aber konnte er sein? Wer würde er sein? Mein Vater konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, das dieser radikale Bruch in seiner Existenz zu einer Grunderfahrung werden sollte, die ihn zu einem wahren »Hebräer« machen würde, zu einem »Grenzüberschreiter« nämlich, wie es die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes zum Ausdruck bringt.
Doch zunächst galt es, am Leben zu bleiben. Während des Zweiten Weltkrieges kämpfte mein Vater an der Seite anderer jüdischer Soldaten in der Britischen Armee mit dem festen Willen, den Durchmarsch der Wehrmacht in Nordafrika nach Palästina zu verhindern und so das Land, das die Heimat der Juden war und neu werden sollte, vor dem Untergang zu bewahren. Nach dem Ende des Krieges und der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 studierte mein Vater Romanistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem und arbeitete von 1951 bist 1969 als Diplomat und Leiter des Presseamtes für die israelische Regierung. Der Austausch mit seiner Frau Ruth Lapide, meiner Mutter, die er in den 50ger Jahren kennengelernt hatte, fügte seinem Lebensweg eine neue Perspektive hinzu: Die Religionswissenschaftlerin weckte in ihm das Interesse an den Urschriften des Judentums und des Christentums, an der Hebräischen Bibel und am Neuen Testament. Er entdeckte, wenn man so will, ein neues Land, das dem Vertriebenen eine neue Heimat sein konnte und ihm eine neue Identität versprach. Nach und nach schlug er sich in dieser für ihn neuen Welt Wurzeln. Er studierte schließlich neben seiner Arbeit als Diplomat an der Kölner Universität Judaistik und promovierte sich in diesem Fach, um schließlich den diplomatischen Dienst zu verlassen und sich ganz dem publizistischen Brückenbau zwischen Juden und Christen zu widmen.
Welche Orientierung ihn dabei leitete wird sichtbar, wenn man betrachtet, unter welchem Namen mein Vater auftrat und veröffentlichte. Den Wiener Juden Erwin Pinchas Spitzer gab es nicht mehr, man hatte ihn aus seiner Heimat vertrieben und ihm seine Identität geraubt. Er aber hatte eine neue Heimat gefunden und würde als Pinchas Lapide seine neue Lebensgeschichte schreiben.
Der Nachname »Lapide«, der im Hebräischen ohne den auslautenden Vokal geschrieben wird, leitet sich vom Hebräischen Wort für »Fackel« ab. Es kommt in der Tora genau elf Mal vor und es sind zwei Textzeugnisse, die paradigmatisch zeigen, worum es meinem Vater bei der Wahl dieses Namens ging. In der von ihm sehr geschätzten Übersetzung des Ersten Testamentes von Martin Buber und Franz Rosenzweig heißt es beim Propheten Jeschajahu: »Um Zions willen darf ich nicht schweigen, um Jerusalems willen darf ich nicht stillsein, bis für es Bewahrheitung ausfährt wie Lichtglanz, für es Befreiung wie eine Fackel brennt.« (Jeschajahu 62,1) Und der Künder (Prophet) Secharja lässt Gott wie folgt die Zukunft Jerusalems ansagen: »An jenem Tag mache ich die Häuptlinge Jehudas gleich einem Feuerbecken im Holzstoß, gleich einer...
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