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Spätestens als ich die Wetterwarnung im Radio hörte, hätte mir klar sein müssen, dass das Ganze in einer Katastrophe enden würde. Aber ich hatte noch nie einen Winter in New York verbracht. Ich lebte erst seit knapp drei Monaten in der Megametropole und bisher hatte sie sich zumeist von ihrer sonnigsten Seite gezeigt. Bis weit in den Dezember hinein reichte sogar mir eine Strickjacke, um auf die Straße zu gehen, obwohl ich schnell fror. Fünf Tage vor Weihnachten stürzte die Temperatur dann über Nacht ab und schlug unsanft zehn Grad unter dem Gefrierpunkt auf, sodass ich in meinem dünnen Mary-Quant-Mäntelchen vor Zähneklappern kaum noch sprechen konnte, sobald ich vor die Tür trat. Doch nicht einmal da kam ich auf die Idee, dass ich ein Problem haben könnte.
Ich packte also am 23. Dezember ordentlich einen Teil meiner Sommerklamotten in meinen Koffer, der es von der Größe ohne Weiteres mit einem Zwergpony aufnehmen konnte. Mit den wenigen Shirts und Röcken war er kaum zur Hälfte gefüllt. Auf dem Rück?ug würde das anders aussehen, denn ich wollte ihn mit allen dicken Wintersachen vollstopfen, die ich besaß. Dabei versuchte ich, mich auf Weihnachten zu freuen, auf selbst gebackene Spekulatius und Glühwein, den es in New York nirgendwo zu geben schien, und auf das Wiedersehen mit meiner Omama. Aber so richtig wollte das mit dem Freuen nicht gelingen und dafür gab es drei Gründe:
Schluss mit Grübeln, Maxi! Schwungvoll klappte ich meinen Koffer zu. Punkt eins und zwei würden warten müssen, bis ich in einer Woche wieder in New York war. Und für Punkt drei - was auch immer das Problem sein mochte - würde ich eine Lösung ?nden, sobald ich erst einmal mit meiner Omama darüber gesprochen hatte. Deshalb war es jetzt umso wichtiger, dass ich rechtzeitig zum Flughafen kam, um meinen Flieger nicht zu verpassen. Ich schaltete das kleine pinke Radio aus, das ich nur hatte laufen lassen, um die Stille zu übertönen, die meine bereits zu ihren Familien gefahrenen Mitbewohner in Pinkstone hinterlassen hatten, gerade in dem Moment, als die Nachrichtensprecherin vor einem Jahrhundert-Blizzard warnte, der am Nachmittag New York erreichen sollte.
Als ich die schwere Holztür von Pinkstone hinter mir schloss, begann es zu schneien. Wie schön, dachte ich in einem An?ug von nostalgischer Rührung, weiße Weihnachten - und hoffte auf ähnliches Wetter in Deutschland. Vorsichtig bugsierte ich den Zwergponykoffer die wenigen Stufen vor dem Haus hinunter, die vom ersten Schnee bereits schmierglatt wurden. Wie schön, dachte ich wieder, während ich die bunt ?ackernden Rentiere vor unserem Nachbarhaus betrachtete, um die nun die weißen Flocken wirbelten.
Wie schön war auch die Bedford Avenue mit ihrer beleuchteten Straßendekoration. Die sonst so belebte Hauptstraße des quirligen Stadtteils Williamsburg lag im stärker werdenden Schneetreiben fast wie ausgestorben da, nur einige wenige New Yorker mit hochgeschlagenen Mantelkrägen und tief gezogenen Strickmützen hetzten in die kleinen Supermärkte, um diese kurz darauf voll beladen mit Dosensuppen und Wasserkanistern wieder zu verlassen. Spätestens bei diesem ungewohnten Anblick der leeren Straße hätte mir klar werden müssen, was auf mich und auf ganz New York zukam. Aber ich hatte ja keine Ahnung.
Mein kurzer An?ug von Weihnachtsnostalgie ver?üchtigte sich erst schlagartig, als mir eine eiskalte Windböe waagerecht den Schnee ins Gesicht trieb. Brr! Ich beeilte mich, die rutschigen Stufen zur Subway-Station zu nehmen. Auf dem Bahnsteig drängten sich dick vermummte Gestalten mit mürrischen Gesichtern. Eine blecherne Stimme verkündete über die Lautsprecher, dass der L-Train mit dreißigminütiger Verspätung jetzt einfahren werde.
Der Zug aus Manhattan war bereits überfüllt, trotzdem drängten die Menschen vom Bahnsteig in die silberfarbenen Waggons, als ob es die letzte Möglichkeit wäre, hinaus in die Vororte zu gelangen - was tatsächlich stimmte, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die sonst eher toleranten New Yorker warfen mir einige böse Blicke zu, als ich nicht nur mich, sondern auch meinen Zwergponykoffer in den Mittelgang zu quetschen versuchte. »Stand clear off the closing doors« - Bitte die Türen freihalten - schepperte die übliche Ansage aus den Lautsprechern, doch es brauchte fünf Versuche, bis sich tatsächlich alle Türen schließen ließen und der Zug losrattern konnte.
Dann leerte er sich von Station zu Station, fast niemand stieg mehr zu. Im A-Train, der zum JFK-Flughafen fuhr, saßen außer mir nur noch vier Leute, drei Männer im Business-Out?t mit Rollköfferchen und eine dick vermummte kleine Frau, die ununterbrochen auf Spanisch in ihr Handy quatschte. Gegen die dreckigen Scheiben des Waggons peitschten die Schnee?ocken inzwischen in solchen Massen, dass man kaum nach draußen schauen konnte. Ohnehin gab es dort nicht viel zu sehen, denn obwohl es erst früher Nachmittag war, hatte der Himmel sich so stark verdunkelt, dass es mir vorkam, als führe der Zug durch die tiefste Nacht. Langsam stellte sich auch bei mir eine böse Vorahnung ein.
Als uns der A-Train am Endhaltepunkt ausspuckte, war die Außentemperatur um gefühlte zwanzig Grad gefallen. Eiskalter Wind fegte mir den Schnee ins Gesicht, der sich auf meinen Wangen wie winzige Nadelstiche einbrannte. Der Air-Train, der die Station mit dem Flughafenterminal verbindet, war bereits ausgefallen. Mit gesenkten Köpfen warteten meine wenigen Mitfahrer und ich schlotternd eine Viertelstunde auf den Shuttle-Bus.
»Wollt ihr wirklich zum Flughafen?«, begrüßte der Busfahrer uns mit hochgezogenen Augenbrauen, nachdem er eine Horde Menschen abgesetzt hatte, die sich in unseren wartenden Zug Richtung Manhattan drängten. »Sicher?« Wir nickten und hechteten in den geheizten Bus. Was auch immer uns am Terminal erwartete, es konnte nur besser sein als das Ausharren in der Eiseskälte, dachte ich. Doch auch damit lag ich falsch. Am Flughafen herrschte längst das reinste Chaos.
Tausende Passagiere strömten aus dem Flughafengebäude, quetschten sich in die Shuttle-Busse und warfen sich beinahe vor die Taxis, um eines der umlagerten gelben Cabs zu kapern. Durch die entgegenkommenden Massen schlängelte ich mich ins Gebäude, und erst dort wurde mir wirklich klar, was los war. Denn auf der großen digitalen Anzeigentafel, auf der die Ab?üge aufgelistet sind, stand ein einziges Wort, immer und immer wieder, in leuchtend roter Schrift: cancelled - gestrichen!
Ein jäher Stich der Enttäuschung durchfuhr mich. Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr ich mich trotz allem auf Weihnachten daheim bei meiner Omama gefreut hatte. Doch dann blieb mein Blick an der Spalte hängen, in der mein Flug aufgeführt war, und da stand: Ab?ug planmäßig. Yeah! Die Dame am Ab?ugschalter lächelte etwas verkrampft, machte mir aber weiter Mut: Ja, der Flieger hebe pünktlich ab.
Im Wartebereich gönnte ich mir einen völlig überteuerten Kaffee und eine noch teurere Tüte Gummibärchen und starrte durch die große Glasfront. Draußen war es stock?nster, der Schnee trieb horizontal gegen die Scheiben, die beleuchteten Flieger an den Terminals verschwammen im Nebel. Mein Handy spielte »Ganz in Weiß« - mein Klingelton für Omama, der bei einer Séance einmal Roy Black erschienen ist und sie tagelang verfolgt hat.
»Maxi! Wage es ja nicht, in dieses Flugzeug zu steigen«, brüllte meine Großmutter mir ins Ohr, als ich den Anruf annahm. So kannte ich sie: immer geradeheraus und der festen Überzeugung, schreien zu müssen, damit ich sie am anderen Ende der Welt, wie sie sich ausdrückte, verstehen konnte.
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