Schweitzer Fachinformationen
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3 Schneller, als er fällt
Auf dem Truck steht MSM, auf der Tür zum Büro steht MSM, auf der Winterjacke des Dicken hinter dem Schreibtisch ist auf Herzhöhe MSM gestickt, und nun streckt der Dicke selbst die Hand aus und keucht: »Ich bin Michel St. Michel, Michel St. Michel Junior, um genau zu sein. Setz dich.«
Michel St. Michel Junior räumt vielleicht nur den Schnee aus deiner Einfahrt, aber er hat ein intuitives Verständnis für Corporate Identity.
Gut, zugegeben: Es ist keine Kreativleistung, sich im Winter in Montreal zum Schneeschippen zu melden. 1) Es liegt Schnee, 2) ich kann nichts anderes, 3) ich werde nie wieder babysitten - fertig. Das ist die Liste, die ich neulich während des Matheunterrichts aufgestellt habe, als ich über meinen nächsten Job nachgedacht habe, ein bisschen Karriereplanung neben Algebra.
Doch erst einmal muss Michel St. Michel Junior davon überzeugt werden, dass ich für sein Schaufelunternehmen der richtige Mann bin.
»Wie alt, sagtest du, bist du?«
»Fünfzehn. Bald sechzehn.«
»Bald in drei Jahren? Sorry, Junge«, sagt er, »aber ich habe schon Kräftigere gesehen.«
Ich will ihm gerade von meinen Schaufelerfahrungen erzählen - seit ich denken kann, mache ich im Winter zu Hause den Weg von der Haustür bis zum Wagen frei, Morgen für Morgen -, als Michel St. Michel Junior sich zurücklehnt und eine Ecke oben im Büro anvisiert. »Eigentlich war ich ganz gut für den Winter aufgestellt. Aber dann haben wir ja François verloren .« Seine Stimme versagt, er schüttelt leicht den Kopf. Was soll ich dazu sagen?
MSM besinnt sich aufs Hier und Jetzt und sagt: »Kannst du morgen Früh zum Probearbeiten kommen?«
»Auf jeden Fall.«
»Schön. Dann sehen wir uns morgen um halb fünf. Schaffst du das?«
»Auf jeden Fall«, sage ich, bin aber gar nicht sicher, ob ich meinen Wecker so früh einstellen kann.
Ich bekomme eine dicke Jacke und ein fledderiges, zusammenkopiertes Handbuch, in dem MSM die Feinheiten des Schaufelns erklärt. Vorne drauf steht: »Schneeservice Michel St. Michel - wir schaufeln schneller, als er fällt«.
Im Dezember in Montreal um 4:30 Uhr aufzustehen bedeutet, dass es noch weitere fünf Stunden dunkel sein wird. 4:30 Uhr bedeutet, dass noch allertiefste Nacht ist. Ich laufe durch den Vorort, vorbei an der Tankstelle und dem Supermarkt, stapfe durch den Schnee, bis ich bei Schneeservice Michel St. Michel vor der Tür stehe.
»Hast du dir das Handbuch durchgelesen?«, fragt Junior.
»Von vorne bis hinten«, lüge ich.
MSM zeigt mir die Schaufeln und die Schneefräsen, die in der Garage stehen. Es gibt für alle Situationen unterschiedliche Gerätschaften. Er sagt tatsächlich »Situationen«, hat die Augen dabei weit aufgerissen, als würden sich einem unterwegs Schlangen und Terroristen und dreiköpfige Endgegner in den Weg stellen.
Ich sage: »Es ist ja nur Schnee, den ich wegschaufeln muss, oder?«
MSM sieht mich immer noch mit den großen Augen an. Dann geht er kopfschüttelnd zum Truck, als hätte noch nie jemand etwas so Respektloses zu ihm gesagt.
Irgendwie deprimiert es mich, dass wir erst einmal seine eigene Einfahrt freimachen müssen, bevor es losgehen kann.
Der Dicke legt los. Und wie. Er sagt: »Merk dir das: Wir schaufeln schneller, als er fällt. Sag das mal.«
»Wir schaufeln schneller, als er fällt«, intoniere ich.
MSM scheint zufrieden, denn er schaufelt einfach weiter.
Ich rechne nach: Bis zum Schulbeginn um 8:30 Uhr müssen wir dreißig Auffahrten freigemacht haben - und ich bin jetzt schon erschöpft von dem bisschen Kehren und Schippen in MSMs Einfahrt. Dieser verdammte Schnee ist schwer. Also frage ich: »Kommen eigentlich noch andere Angestellte?«
»Na ja«, sagt MSM leise, »da wir François verloren haben .« Seine Stimme fasert aus, er räuspert sich. »Aber es kommt noch jemand dazu«, sagt er verständnisvoll.
Ich muss einen ziemlich fertigen Eindruck machen.
»Sei froh, dass der Schnee nicht nass ist, sondern puderig. Das hier ist gar nichts«, lacht er, und ich merke, dass die erste Runde definitiv an MSM Junior geht. Nach Punkten. Eigentlich ist es auch fast gleich ein K. o. Denn es ist fünf Uhr am Morgen, und ich bin bereit, mich jetzt schon für den Rest des Tages ins Bett zu legen.
MSM klettert in den Truck, während ich die Schaufeln und Schippen auf die Ladefläche lege und helfe, die Fräse aufzuladen.
Und dann erscheint er. Der Superstar am Schaufelhimmel, der Nachwuchsgott aus dem eigenen Stall: der Sohn von MSM. Michel St. Michel III, steht vorne auf seiner Winterjacke. »Das wird >der Dritte< ausgesprochen«, erklärt mir MSM. Dann nimmt er mich kurz beiseite: Damit alles kurz und knapp, reibungslos und ohne Verwirrung abläuft, soll ich ihn einfach Junior nennen.
»Ihren Sohn?«
»Nein, mich«, sagt Michel St. Michel beziehungsweise Junior, lacht ein zufriedenes Lachen und setzt sich in die Fahrerkabine, um einen ganzen Morgen lang schneller Schnee zu schaufeln, als er fällt.
Der Dritte kommt zu mir herübergelaufen. »Alles klar?«, fragt er, grinst verschlafen und setzt sich die Thermomütze auf, dann steigen wir ein.
Wir schleichen im Schritttempo über die dunkle Straße.
Junior hat auch gleich ein gutes Thema für die ersten Meter unterwegs: seinen Sohn. Der kann nämlich dies, der kann das, nächstes Jahr fährt er zum Jugendhockey runter nach Toronto, in ein spezielles Programm für Begabte, in eine Eishockey-Akademie, in der sie sogar Mathe fördern. »Was es alles gibt«, sagt Junior. Der Dritte sitzt neben mir und starrt auf den Boden.
Wir springen vor einer Einfahrt aus dem Fahrzeug, und ich fange an zu schaufeln - planlos. Es ist zu kalt, um nachzudenken. Außerdem will ich nichts mehr von begabten Kindern hören.
»So nicht«, höre ich Junior aus dem Truck rufen. Er greift sich an den Kopf: »Völlig falsche Schaufel! Handbuch, zweite Seite!« Mir ist das egal, schließlich geht es doch nur darum, Schnee wegzumachen. »Völlig falsche Schaufel für die Situation«, ruft Junior, und ich höre kurz auf, drehe mich um. Ich muss ihm ins Gesicht sehen. Ich muss unbedingt sehen, ob er es ernst meint.
Später sitzt Junior am Steuer des Trucks und lässt die Situation Revue passieren. Analysiert meine Schwächen beim Schaufeln und meine Laufwege, als wäre er der Coach eines Fußballteams. Wir kommen überein, dass ich für den Anfang bei meiner mitgebrachten Kernkompetenz bleiben soll: den Weg vom Haus des Kunden zur Einfahrt freischaufeln, während Junior mit dem Truck samt Räumschaufel fürs Grobe und der Dritte für die Details am Rand zuständig ist. »Wenn du gut bist, kannst du vielleicht auch einmal die Ränder übernehmen«, macht mir Junior mit ruhiger Stimme Mut.
So fahren wir durch den Vorort. Eine um die Uhrzeit zu der Jahreszeit absolut hoffnungslose Welt. Perma-verpenntes Suburbia. Hier passiert rein gar nichts. Die Leute brauchen eine freie Einfahrt, damit sie rechtzeitig zu ihren langweiligen Jobs kommen, die sie brauchen, damit sie sich ihr verschlafenes Leben im verschlafenen Vorort leisten können. Die müde Schlange, die sich selber in den Schwanz beißt. Aber hier tut sie es bereits satt und vor dem Fernseher liegend.
Auch der frisch gefallene Schnee hilft nicht dabei, das Bild zu verschönern. Frisch gefallener Schnee ist nicht immer ein Zauber. Er kann sich auch anfühlen wie ein Kissen, das einem ins Gesicht gedrückt wird.
Haus Nummer zwei, es geht weiter. Wir treffen auf eine unvorhergesehene Situation: angefrorener, von der Kälte hartgebackener Schnee. Die Hausbesitzer waren im Urlaub, und MSM ist seit zwei Wochen nicht mehr hier gewesen, deswegen muss er kurz aus dem Truck springen und selbst ein paar Details übernehmen.
Ich sehe vom Hauseingang aus den beiden Michel St. Michels zu, wie sie fast synchron mit den Schaufeln gegen den Schnee wüten. Ein beeindruckendes Bild.
Dabei frage ich mich, wer wohl der erste Michel St. Michel war. Der Stammhalter. Das kann kein Mensch gewesen sein. Ich stelle mir vor, wie sich hoch im unbewohnbaren Norden Kanadas ein Elch und ein Eisbär in einem Tage dauernden Kampf miteinander gepaart haben. Dabei muss der erste MSM entstanden sein, das Original.
Ich schippe meinen Gehweg mit der korrekten Schaufel frei und mache, dass ich in den Truck komme, wo die beiden schon mit dampfendem Kaffee warten. Kaffee. Gute Idee.
»Hier«, sagt Junior. »Den hat meine Frau gekocht.« Er gießt mir was in seine Tasse ein, und ich nippe langsam und rieche den dicken Geruch von ehrlichem, öligem Arbeiterkaffee. Ein verdammter Bauchschuss ist das. Ein Stromschlag aus der Tasse.
»Da ist noch etwas«, sagt Junior und sieht mich prüfend vom Fahrersitz aus an: »Meine Frau, Madame St. Michel, ja? Die heißt mit Vornamen Michelle. Nur dass du das weißt. Wir sind da ein bisschen eigen«, sagt er und schickt mir einen ernsten Blick rüber.
»Alles klar«, sage ich. Mir doch egal. Ich habe diesen wunderbaren Kaffee im Bauch, trage definitiv die falschen Klamotten, weil meine Skiunterwäsche schon jetzt wie nassgeduscht ist, und bin mit zwei unbestimmbar Irren unterwegs, lange vor Sonnenaufgang. Nur noch achtundzwanzig Einfahrten, dann Schule. Namen sind in einem solchen Moment wirklich nicht entscheidend.
An einem Morgen will Junior mit mir reden, was bedeutet, dass ich noch früher da sein muss als sonst. Meine Mutter ist vor dem Fernseher...
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