Schweitzer Fachinformationen
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EMMA
Sie verlangsamte die Schritte, bis sie gänzlich stehen blieb. Noch vor wenigen Minuten war sie von unbändiger Freude erfüllt. Nun erdrückte die imposante Kaiser-Wilhelms-Universität ihren ganzen Mut. Die Statuen herausragender Gelehrter schienen auf dem Dachsims über das Gebäude zu wachen, und es kam Emma vor, als würden sie voller Verachtung auf sie herabblicken. Unwillkürlich verkrampfte sie die Hände vor dem Bauch, dass die Finger ihr weh taten.
An ihr vorbei eilten plaudernde Studenten dem Eingang entgegen. Zaghaft blickte sie umher. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Anscheinend nicht allzu viel. Ihre Eltern glaubten, sie wäre unterwegs nach Speyer. Mit der wichtigen Mission, ihren wohlhabenden Onkel um Geld zu bitten - zu Hause war der Herd in Brand geraten. Ob Onkel Johann so gütig wäre, ihnen in dieser misslichen Lage auszuhelfen? Emmas Magen drehte sich bei dem Gedanken um, die freundliche Einladung ihrer Verwandten auszunutzen, um Geld zu schnorren. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Unbehagen, das sich in ihr beim Anblick der kalten Sandsteinfassade, der riesigen Bogenfenster und der strengen Gesichter der Statuen ausbreitete.
Sie sollte nicht hier sein. Das war ihr klar.
»Hat sich das gnädige Fräulein etwa verlaufen, Franz? Was meinst du, sollen wir der süßen Maid ritterlich zu Hilfe eilen?«
Der Hohn dieser männlichen Stimme schien sie innerlich aufzuspießen. Sie war es gewohnt, von ihren Eltern ausgeschimpft oder zurechtgewiesen zu werden. Der fremde Spott ließ sie jedoch jeden Anstand vergessen. Sie fuhr herum, und ihre ganze Aufregung entlud sich in ihrem Unmut. »Keine Sorge«, schmetterte sie einem Studentenpaar entgegen, das einander wie kleine Kinder knuffte. »Das gnädige Fräulein weiß sich selbst zu helfen. Haben Sie vielen Dank.«
Zumindest einer von ihnen, ein rotbackiger Typ, grinste nicht mehr, anscheinend zu verunsichert, solch eine Erwiderung von einer Dame bekommen zu haben. Der andere, ein großer, gutgebauter Kerl mit dunklen Haaren, der sich lässig auf die Schulter seines Kumpels stützte, feixte dagegen umso mehr.
»Da bin ich aber beruhigt. Darf ich mich denn nach Ihrem Begehr erkundigen, gnädiges Fräulein?«
Sie hob eine Augenbraue. »Sich danach zu erkundigen, kann ich Ihnen leider nicht verbieten, gnädiger Herr, aber Sie müssen mich entschuldigen. Ich habe nämlich keine Zeit, hier zu stehen und sinnlos mit Ihnen zu schwadronieren.« Sie raffte ihren Rock zusammen und stieg entschlossen die Stufen hoch. Ihre Mutter wäre gewiss in Ohnmacht gefallen, hätte sie solche Worte aus ihrem Mund gehört, aber ihre Mutter war glücklicherweise nicht hier. Dagegen diese beiden Studenten, denen sie verdeutlichen musste, dass nichts und niemand mehr sie davon abhalten würde, diese Universität zu betreten. Sie war zu weit gekommen, um einfach aufzugeben.
Der Dunkelhaarige folgte ihr auf dem Fuße. Der andere trottete seinem Kumpel hinterher wie ein Hund, dessen Herrchen ihm keine Beachtung mehr schenkte.
»Ich muss gestehen, ich bin mehr als eifersüchtig und bestehe einfach darauf zu erfahren, welchen armen Studenten Sie mit Ihrem Liebreiz von den Studien der hohen Wissenschaft heute abzuhalten gedenken.«
Erneut fuhr sie herum - keine gute Idee auf der Treppe, denn sie rutschte aus und strauchelte. Der Dunkelhaarige war sofort da, um sie zu stützen, doch sie wies seine helfende Hand zurück, sobald sie aufrecht stand.
»Ihre Eifersucht ist absolut grundlos, gnädiger Herr. Mein Liebreiz wird niemanden von irgendetwas abhalten, denn ich bin nicht zu Besuch hier, sondern beabsichtige, selbst die hohen Wissenschaften zu studieren.«
»Oh-ho!« Seine intensiv blauen Augen schienen mit dem wolkenlosen Himmel um die Wette zu strahlen, sicherlich waren diesem frechen Blick schon einige Frauen verfallen. »Franz, hast du das gehört?«
»Wenn Franz nicht gänzlich taub ist, dann hat er das gehört, ja. Und womöglich hat er sogar von Else Gütschow gehört, die vor drei Jahren an dieser Universität promoviert worden ist. Und womöglich - es ist jetzt natürlich nur eine Vermutung - stellt Franz deswegen keine dummen Fragen, die eine Dame unnötig aufhalten, so dass sie womöglich noch zu spät zu ihrer Vorlesung kommt.« Sie warf Franz einen herausfordernden Blick zu und sah zufrieden, wie sein rundes Gesicht rot anlief. Ohne die Herren weiter zu beachten, steuerte sie den Eingang an, doch der Dunkelhaarige preschte vor und öffnete ihr galant die Tür.
»Zu welcher Vorlesung eilt denn die junge Dame so sehr?« Das Funkeln in seinen Augen wurde noch intensiver, neckte, stachelte sie an, etwas Unüberlegtes zu tun. Emma ermahnte sich, ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, die ihm womöglich noch in seinen hübschen Kopf steigen würde.
»Paul Laband«, warf sie ihm über die Schulter zu, als sie an ihm vorbeistolzierte. Schon stand sie im kühlen Eingangsbereich . und hielt inne. Als wäre sie in einen Palast gelangt - alles schien zu groß, zu mächtig für sie zu sein, und sie selbst kam sich ganz unbedeutend vor. Sie fröstelte bei dem Gedanken, wahrhaftig in diesen heiligen Hallen zu stehen. Die gleiche Luft zu atmen wie die unzähligen Professoren und Gelehrten hier. Voller Staunen sah sie sich um und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der vorlaute Student sie amüsiert beobachtete. Sie atmete tief durch. Er durfte nicht merken, mit wie viel Ehrfurcht der Anblick der Eingangshalle sie erfüllte. Stattdessen sollte er denken, sie wäre es gewohnt, hier zu sein, also straffte sie die Schultern und drehte sich voller Schwung nach links, um weiterzugehen.
»Verzeihung, gnädiges Fräulein, aber zur Vorlesung von Paul Laband geht es hier entlang.« Natürlich deutete er in die entgegengesetzte Richtung. »Zufälligerweise beabsichtige auch ich, diese Vorlesung zu besuchen. Ich studiere Rechtswissenschaften und .«
»Hervorragend«, unterbrach sie ihn und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln, von dem - wie ihre Mutter meinte - sogar die Milch sauer werden würde. »Wie froh ich bin, endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem ich mich über die Vorträge von Paul Laband unterhalten kann. Was denken Sie bezüglich seiner Worte über den Zusammenhang des Verfassungsrechts mit den übrigen Gebieten der Rechtswissenschaft?«
Dem Studenten klappte die Kinnlade herunter, was seinem Antlitz, das nach allen Regeln der klassischen Kunst geformt zu sein schien, wenig schmeichelte. Kurz darauf fing er sich wieder, wollte etwas erwidern, als Franz süffisant einwarf: »Das würde Antoine Ihnen sicherlich erläutern, wenn er es könnte. Und das könnte er bestimmt, hätte er nicht so viele Vorlesungen geschwänzt.«
Im Geiste schrieb Emma Franz ein paar Pluspunkte gut, weil er seinem aufgeblasenen Kommilitonen doch noch Paroli bot. In gespielter Empörung drehte sich dieser um. »Auch du, Brutus, du?« Theatralisch breitete er die Arme aus, was Emma zum Anlass nahm, sich schnellen Schrittes davonzumachen - viel weiter hätte sie Paul Labands Ansichten zum Thema Rechtswissenschaft nicht ausführen können. Sie hatte sich informiert, ja, sie wusste, dass er heute diese Vorlesung abhielt und dass oft Zuhörer aus dem ganzen Land kamen, um seinen Vorträgen beizuwohnen. Sie hatte sogar heimlich gespart und sich den ersten Band seines Das Strafrecht des Deutschen Reiches gekauft, das 1876 erschienen war - doch nicht viel mehr als das Vorwort verstanden. Aber gerade deshalb war sie hier, um es zu begreifen, um zu lernen, um endlich klüger zu werden! Oder nicht?
Sie schloss sich dem Menschenstrom an, der in dieselbe Richtung floss, und schlüpfte zusammen mit den anderen Wissbegierigen in den Vorlesungssaal. Noch im Gehen zog sie die Hutnadel heraus und nahm ihre Kopfbedeckung ab. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrer lockeren Hochsteckfrisur gelöst, und sie strich sich die Haare hinter das Ohr, während sie sich verstohlen umsah. Sitzplätze waren keine mehr frei, viele Männer drängten sich in den Gängen. Ein Glück, in der Menge würde sie vielleicht gar nicht auffallen.
Sie schob sich nach ganz hinten, ohne aufzuschauen, um nicht den Blicken zu begegnen, die sie taxierten. Schon wieder verkrampften sich ihre Finger um den Rand des Hutes. Normalerweise wurde ihr als Dame immer ein Platz angeboten. Vermutlich dachten die Studenten, sie würde gleich wieder gehen oder wartete nur auf jemanden.
Der Saal füllte sich immer mehr. Von so vielen Körpern hatte sich die Luft schnell erhitzt und vibrierte im ungeduldigen Stimmengewirr.
»Aufregend, nicht wahr?«, raunte eine Stimme an ihrem Ohr, die Emma sofort erkannte.
Nicht der schon wieder, schoss ihr durch den Kopf. Auf ihren Lippen lag bereits eine spitze Bemerkung, doch da betrat Paul Laband den Saal, und alles ringsherum verstummte. Eine spannungsgeladene Stille breitete sich aus, nur ab und zu waren ein Atemzug oder ein verhaltenes Hüsteln zu vernehmen. Emma musste sich auf die Zehenspitzen stellen und den Hals recken, um Laband besser zu sehen. Sein dreiteiliger Anzug war fein, aber nicht protzig, alles aus dunklem Stoff, nur der weiße Hemdkragen bildete einen Blickfang. Das silberne, schüttere Haar war säuberlich nach hinten gekämmt, und der Schnauzbart fein gestutzt. Sein Gesicht wirkte blass und teigig, aber zu genau konnte Emma ihn von ihrem Platz aus nicht sehen. Er müsste fast siebzig sein, überschlug sie in Gedanken, aber er machte den Eindruck, als wäre er seiner Vorträge noch lange nicht überdrüssig.
Zufrieden steckte er...
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