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EMMA
Die Arme um die Schultern geschlungen, machte Emma ein paar Schritte auf die ausladende Treppe zu, die zum großen Eingangsportal führte. Sogleich verzog sich ihr Gesicht vor Kälte. Trotz bequemen Schuhwerks hatte sie sich die Zehen und Fersen wund gerieben. Wind und Regen peitschten unaufhörlich auf sie ein, und schon nach wenigen Sekunden war sie vollkommen durchnässt. Dennoch kreiste nur ein Gedanke in ihrem Kopf: Sie hatten es geschafft! Ihre Flucht aus Metz hatte ein Ende gefunden. Ihr Blick strich über die weiße Fassade des Herrenhauses. Das warme Licht hinter den großen Bogenfenstern lockte mit seiner Gemütlichkeit. Nur wenige Stufen trennten sie von trockenen Räumlichkeiten, einem heißen Bad und sauberer Kleidung. Und doch kam es ihr nach den langen Strapazen unwirklich vor.
»Ist alles in Ordnung?« Neben ihr tauchte Louise auf. Regenbäche liefen über ihr Gesicht. Das nasse Haar klebte ihr am Kopf und an den Wangen, die ihre Rundlichkeit verloren hatten. Ihr Kinn bebte, obwohl sie alles daranzusetzen schien, nicht zu sehr mit den Zähnen zu klappern.
»Ja, natürlich«, erklärte Emma rasch. »Es ist nur .« Sie verstummte. Plötzlich fühlte sich ihre Kehle ganz wund an, und jeder Ton schien sie noch mehr aufzureiben. Sie starrte auf die große, mit Ornamenten verzierte Eichentür, und es kam ihr vor, als hätte eine Pranke ihre Brust gepackt und würde die Luft aus ihrer Lunge herauspressen. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie nur erklären, dass sie es einfach nicht schaffte, die Stufen emporzusteigen und die Hausglocke zu betätigen?
»Emma?« Louise stupste sie sanft an.
Sie sollte stark sein. Diese Familie brauchte sie!
Stattdessen reichte Louises leichte Berührung aus, um sie zu Fall zu bringen. Ihre Knie gruben sich in den Kies der Einfahrt, sie krümmte sich, während sie mit den Händen ihre Schultern noch fester umarmte. Sie schlotterte, während sie unter dem geißelnden Regen weinte, so sehr weinte, dass sie darin zu ertrinken glaubte.
Schnelle Schritte. Antoine kniete sich neben sie. Sie sah ihn nicht, aber sie fühlte seine Präsenz. Noch immer lauerte etwas Dunkles, Bedrohliches darin, obwohl Emma mit ganzer Kraft versuchte, dieses Gefühl abzustreifen.
»Was ist passiert?« Seine Stimme klang fern und hohl, aber genauso besorgt wie die von Louise. Ehrlich besorgt. Er spielte ihr nichts vor. Und dieser Umstand war am schwersten zu ertragen, denn gegen seine tiefe Aufrichtigkeit war sie nicht gewappnet. Es machte sie nur verletzlicher.
»N-nicht . nicht anfassen .«, wimmerte sie, obwohl sie am liebsten losgebrüllt hätte. Wie sollte sie nur weitermachen? So tun, als wäre nichts passiert? Nach vorn blicken und alles hinter sich lassen?
»Emma«, flehte Louise, zitternd und völlig durcheinander. »Was ist nur los mit dir?«
Immer noch weinend, hob Emma den Kopf und schaute abermals zur Tür. Da wartete eine neue Welt auf sie. Ein neues Leben. Ein Leben ohne Carl.
»W-wie . wie soll er uns finden?« Sie verstand ihre eigenen Worte kaum, so sehr versanken sie im Wind und plätschernden Regen. »Wenn wir hier sind und nicht in Metz? Was ist, wenn er . wenn er . doch noch zurückkommt?« Alles in ihr zog sich zusammen. Ihr eigener Körper wie ein Gefängnis, das sie im Hier und Jetzt hielt, während Carl . während Carl fort war.
Denn er würde nicht zurückkommen. Er würde niemals zurückkommen.
Carl und Emma. Emma und Carl.
Hier, an dieser Schwelle, war sie nur noch Emma.
»Bleib bei ihr«, murmelte Louise, trat auf die Tür zu und klingelte. Emma zuckte zusammen, richtete sich auf den Knien auf und starrte fassungslos den Eingang an. Schluchzend wischte sie sich über das Gesicht, auch wenn der Regen ihre Tränen längst weggespült hatte. Trotzdem schaffte sie es nicht hochzukommen. Was würde ihr Onkel nur über sie denken? Antoine stellte sich vor sie und schirmte sie ab, als die Tür sich öffnete.
»Sie wünschen?«, tönte eine nasale Frauenstimme, hoch und unangenehm abweisend.
»Emma Seidel«, behauptete Louise unbeeindruckt. »Geborene Bergmann. Mir ist klar, dass es nicht die passende Zeit für einen Besuch ist, aber wir müssen dringend den Hausherrn sprechen.«
Stille dehnte sich aus bis ins Unendliche. Nur der Regen rauschte und verschluckte jedes andere Geräusch.
»Einen Augenblick«, kam es zurück. Tippelnde Schritte entfernten sich.
Emma schnappte nach Luft, um die Ketten zu sprengen, die ihre Brust zusammengezurrt hatten. Sie musste hoch. Irgendwie auf die Beine kommen.
Als hätte Antoine es gespürt, drehte er sich zu ihr um und reichte ihr die Hand. Sie beachtete ihn nicht. Noch immer schien es ihr vollkommen abstrus zu sein, dass er da war. Aus Fleisch und Blut vor ihr stand. So lebendig! Während die Zeilen seines Briefes vor ihren Augen herumhüpften: Wenn du das liest, bin ich vermutlich tot. Aber du bist nicht tot, hätte sie am liebsten losgeschrien. Carl ist es, der tot ist! Carl! Warum . warum . ausgerechnet Carl?
Seufzend ließ Antoine seinen Arm sinken. Enttäuschung flog über seine Züge. Aber auch Verständnis - nichts anderes hatte er erwartet. Es war Louise, die Emma packte und auf die Beine zog. »Hier draußen holen wir uns nur den Tod. Wir müssen die Sache schnell klären und die anderen ins Warme bringen.« Sie deutete zum Laster, der neben einer überdimensionierten Marmorschale mit aus Stein gemeißelten Bonbons parkte. Bergmanns bunte Mischung verhieß die eingravierte Inschrift.
Das Dienstmädchen hatte die Tür offen gelassen. Also schleppte Louise Emma einfach über die Schwelle. Ihre ausgelatschten Schuhe hinterließen matschige Abdrücke auf dem polierten Boden, die nassen Kleider tropften regelrechte Pfützen voll.
Emma wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber es reichte, um sich wieder zu fassen. In der Luft lag der fruchtig-minzige Duft, der Onkel Johann überallhin begleitete. Der Geruch nach Bonbons und Frische-Pastillen hatte sich tief in diesen Wänden eingenistet. Woran ihr Onkel wohl gerade tüftelte? Unwillkürlich sah sich Emma nach Kristallschalen um, die früher überall gestanden hatten und mit den neuesten Kreationen zum Naschen verführten. Konnte aber keine entdecken.
Auf der Treppe raschelte es. Emmas Blick schnellte hoch. »Tante Mathilde!« Insgeheim hatte sie gehofft, ihren Onkel zu sehen. Mit ihm zu sprechen, fiel ihr tausendmal leichter, als sich vor Mathilde Bergmann zu rechtfertigen, warum sie ohne jegliche Vorwarnung auf ihrer Schwelle aufgetaucht war. Diese Frau hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie wenig sie von der Verwandtschaft ihres Mannes hielt. »Bitte entschuldige den überraschenden Besuch.« Ihre Stimme zitterte immer noch von dem plötzlichen Weinausbruch. Aber mit etwas Glück führte ihre Tante das vielleicht bloß auf das Unwetter da draußen zurück. »Mir ist klar, dass es nicht gerade die passende Zeit .«
»Ersparen wir uns die Höflichkeitsfloskeln. Was willst du?«
Nur schwer fand Emma die Sprache wieder. Diese Frau hatte schon immer eine furchteinflößende Wirkung auf sie gehabt. Wie so oft fühlte sie sich klein und unerwünscht unter diesem strengen Blick.
»Ist Onkel Johann zu Hause?« Sie merkte selbst, wie fiepend sie klang.
»Dein Onkel ist tot.«
Emma taumelte. Als würde der Boden unter ihren Füßen einbrechen. »Tot? Was .« Sie schluckte krampfhaft. »Was ist passiert?«
»Die Seuche ist passiert!«, schnitten Mathildes Worte in sie ein. »Vor zwei Wochen ist er gestorben. Kurz nach Kitty und Henny.«
Kitty. Henny. Sie sah ihre Cousinen. Lachend und wild herumtobend zwischen den Bäumen des heimischen Gartens. Früher - da waren sie unzertrennlich gewesen. Und jetzt .
. jetzt gab es sie nicht mehr.
»Und Betty?« Sie knetete ihre Finger. O mein Gott, Betty, war sie denn wenigstens wohlauf? Egal, wie sehr sie sich im Verlauf der Zeit voneinander entfernt hatten - so einen Schicksalsschlag hatte keine Familie verdient!
»Ihr Mann ist ein Politiker in Berlin. Einer dieser Sozialisten.« Mathilde Bergmann kniff den Mund zusammen. Ihre dünne Hand krallte sich in das Geländer wie eine Vogelklaue. »Wir haben keinen Kontakt.«
Emma spürte, wie ihre Beine ganz schwach wurden, wie sehr sie zitterte und wie eine neue Welle der Verzweiflung anrollte, der sie nichts entgegenzubringen vermochte. Ein Glück, dass Louise da war und sie sich an ihrer Schwägerin abstützen konnte. Wie unter Wasser hörte Emma Louises Erklärungen, sachlich und knapp berichtete die junge Frau über ihre Odyssee: Metz, Franzosen, die Flucht im klapprigen Laster, den nur ein Wunder so lange zusammengehalten hätte. Die Bilder rauschten wie eine Lawine durch Emmas Verstand. Unaufhaltsam. Erschütternd. Als würde sie alles von neuem erleben:...
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